Nationalelf

Deutschland bei der EM 1972: Tiefenlauf ins neue Jahrtausend

Taktikanalyse der ersten deutschen Europameister

Tiefenlauf ins neue Jahrtausend

Hohe Geschwindigkeit: Für Uli Hoeneß (vorne) und die deutsche Auswahl war Tempo Trumpf.

Hohe Geschwindigkeit: Für Uli Hoeneß (vorne) und die deutsche Auswahl war Tempo Trumpf. imago/WEREK

Irgendwann, zur genauen Szenerie ist nichts weiter bekannt, muss Günter Netzer mit einer großen Portion Zuversicht auf Franz Beckenbauer zugegangen sein und ihn vorsichtig gefragt haben, ob er denn nicht so spielen könne wie Hans-Jürgen Wittkamp. Wobei es sich um den damaligen Libero von Borussia Mönchengladbach handelte, der zwar "auch ein herausragender Fußballer war", wie Netzer in seiner Autobiografie "Aus der Tiefe des Raumes" versicherte, "aber eben kein Franz Beckenbauer".

Dass Netzer am 29. April 1972, im EM-Viertelfinal-Hinspiel in Englands Kathedrale Wembley, aus dieser berühmten Tiefe des Raumes operierte, hatte eine ganze Menge damit zu tun, dass sich sowohl "Kaiser" Beckenbauer als auch Bundestrainer Helmut Schön auf das vorgeschlagene Wechselspiel eingelassen hatten. Stieß der tief vor der eigenen Abwehr positionierte Netzer nach vorne, mit "Riesensätzen von 40, 50 Metern", wie der kicker schrieb, sicherte Beckenbauer ab.

Deutschlands Sieg in Wembley

Gleiches übernahm Netzer für seinen Libero, wenn dieser einen seiner Ausflüge beging. Man tritt Wittkamp wahrscheinlich nicht zu nahe, wenn man ergänzt, dass Netzers Wechselspiel mit Beckenbauer sogar noch ein kleines bisschen besser funktionierte. An jenem Abend in Wembley war es meist Netzer mit den einprägsam wehenden Haaren, der das Spiel einer personell geschwächten deutschen Mannschaft aufzog, die von nahezu allen Fachleuten in der Defensive erwartet worden war.

Doch mitnichten suchte die Schön-Elf ihr Heil in der Flucht nach vorne, vielmehr zelebrierte sie ganz willentlich eine Art Zukunftsfußball - zu schnell selbst für die stürmischen Briten, deren Bemühungen zu stumpf blieben. Während Manndecker Horst-Dieter Höttges den Finalhelden von 1966, Geoff Hurst, diesmal ausschaltete, stellten seine Vorderleute ein geöltes Kombinationsspiel mit wenigen Kontakten und jeder Menge Vertikalität zur Schau - Letztere zumindest im mittleren Drittel. Spezialität: Umschaltspiel. Die französische L’Equipe hatte gar einen Ausblick ins Jahr 2000 gesehen.

Beckenbauer, Netzer

Franz Beckenbauer und Günter Netzer beschweren sich bei Schiedsrichter Milivoje Gugulovic, Viertelfinale EM 1972. imago images

Von Beckenbauer oder Netzer ausgelöster Aufbau durch zickzack- artige Pässe zwischen Zentrum und Außenbahnen, clever überladene Halbräume samt der ballschleppenden Achter Herbert Wimmer und Uli Hoeneß in heute zeitgemäßer Manier - wohlgemerkt 50 Jahre später formuliert. Wie eine heiße Kartoffel gaben die Deutschen den Ball in Windeseile zum Nebenmann - selbst Netzer -, die im Sprint zurückgelegten Laufwege reibungslos aufeinander abgestimmt.

In einer Studie von 2010 ermittelte die Deutsche Sporthochschule Köln die Spielgeschwindigkeit in Wembley. Bei der deutschen Elf legte der Ball 2,9 Meter pro Sekunde zurück - ein Wert, der selbst bei großen Turnieren nach der Jahrtausendwende nur von wenigen Mannschaften übertroffen wurde. Die Engländer kamen im Vergleich nur auf 1,64 Meter pro Sekunde. Netzer war mit 99 Aktionen am Ball, 64 erfolgreichen Pässen und zehn Dribblings der überragende Mann auf dem Platz.

Nicht vergessen werden darf allerdings die zweite Hälfte von Wembley, in der die "Three Lions" mit aufgerückten Außenverteidigern selbst einen modernen Eindruck erweckten und verdient ausglichen. Das siegreiche Ende war Deutschlands einzigem Zweitligaspieler zu verdanken, dem ein wenig isolierten Linksaußen Siggi Held (Kickers Offenbach), der zum heimlichen Helden avancierte. Schon das 1:0 hatte er aufgelegt, ehe er den Elfmeter zum 2:1 herausholte und vor dem 3:1 den Ball gewann.

Zusammenspiel der Gestalter

Im Rückspiel blieb eine zweite Gala aus. "Es ging nur ums Überleben", ließ der Bundestrainer diktieren, nachdem sich seine Auswahl in Berlin zu einem glanzlosen 0:0 verwaltet hatte - der Beweis, dass die rasanten Schönspieler auch verteidigen konnten, wenn es sein musste.

Einen besonders ruppigen Arbeitstag verlebte Freigeist Netzer, dem die Engländer nach seinem Auftritt in Wembley eine ganz persönliche Fessel anlegten. Bewacher Storey bewegte den kicker gar zu der Formulierung, Netzer sei "gejagt und getreten worden wie ein Tier". Doch die Einschränkung des Strategen hatte auch etwas Gutes: Netzer und Beckenbauer waren quasi gezwungen, in der Gestaltung mehr gemeinsam zu agieren als im Wechselspiel - worauf sie anschließend aufbauten, obwohl Netzer vorerst keinen so unerbittlichen Manndecker mehr zugeteilt bekam.

Diese Elf kann alle schlagen.

kicker-Titel nach dem Test gegen die Sowjetunion

Am Abend des 26. Mai 1972 fand sich, zumindest rückblickend, beim Premierenspiel im Münchner Olympiastadion Deutschlands erste Europameistermannschaft. Wobei Schön zu seinem Glück regelrecht gezwungen worden war. Im Test gegen die Sowjetunion, den späteren EM-Finalgegner, mussten die deutschen Flügel neu besetzt werden. Jürgen Grabowski fehlte verletzt, Held bekam keine Freigabe von seinem Verein Kickers Offenbach. Beide verpassten anschließend auch das Endturnier. Jupp Heynckes und Erwin Kremers rückten ins Team.

Gerd Müller und Jupp Heynckes

26. Mai 1972: Gerd Müller (li.) und Jupp Heynckes in Zusammenarbeit zum 1:0 gegen die UdSSR. picture-alliance / Sven Simon

Gegen die UdSSR, die seit 20 Spielen unbesiegt war, gab Schöns Auswahl an jenem lauen Maiabend einen Ausblick in die fußballerische Moderne. Vom "Superspiel im Superstadion" schwärmte der kicker nach dem 4:1.

Auf dem wunderbaren Olympia-Rasen entfaltete sich die deutsche Spielkunst in voller Pracht. Linksaußen Kremers bot mit seiner Geschwindigkeit und Dribbelstärke weitere Tiefe, während Hoeneß sich noch mehr nach rechts außen orientierte, von wo aus Heynckes deutlich in die Mitte zog. Überladung der letzten Linie, würde man heute sagen, die DFB-Auswahl spielte volle Offensive. Jetzt auch mit der Geradlinigkeit, die in Wembley teilweise fehlte. Angeführt vom überragenden Netzer, der das Mittelfeld mit seinen Läufen und Pässen schnell überbrückte und Angriff um Angriff heraufbeschwor.

Die Sowjets wussten kaum, wie ihnen geschah. Netzer dirigierte eine Mannschaft, die auf glattem Geläuf noch weniger zu greifen war als sonst. Deutschland lief sich nie fest - wenn es eng wurde, wanderte der Ball sofort weiter. Etwa zu Heynckes, der als hängende Spitze immer wieder zwischen den Linien der damals schon raumorientiert deckenden Sowjets auftauchte und die ersten beiden der vier deutschen Tore vorbereitete, die allesamt Gerd Müller schoss.

Die Formvollendung des Kombinationsfußballs verfügte auch noch über den größten Torjäger seiner Zeit. "Diese Elf kann alle schlagen", frohlockte der kicker. Beim Endturnier folgte die Bestätigung.

Blockbildung als Erfolgsrezept

Gastgeber Belgien, ohne seinen verletzten Spielmacher Wilfried van Moer, begegnete den favorisierten Deutschen im Halbfinale zunächst passiv und mit teils übermäßiger Härte. Davon ließ sich die DFB-Elf jedoch nicht aus der Bahn werfen. Schöns Erfolgsrezept, die Blockbildung, erlebte seinen Höhepunkt: Bayerns Hoeneß wechselte im Mittelfeld nach links, näher zu den Vereinskameraden Paul Breitner und Beckenbauer, der Gladbacher Wimmer harmonierte dafür rechts umso mehr mit Heynckes und Netzer.

Das Angriffsspiel lief wie geschmiert, besonders das Element Doppelpass verhalf Deutschland zum 2:1-Sieg. Belgien zeigte im zweiten Durchgang doch ein ganz anderes, offensives Gesicht und bereitete dem deutschen Team größere Probleme. Dieses konnte von Glück reden, dass Leon Semmelings Ausgleich als Abseits gewertet wurde, und behauptete sich defensiv schließlich im verhältnismäßig altertümlichen Duell Mann gegen Mann.

Doch für diese Mannschaft war die beste Verteidigung der Angriff. Weil Kremers links wiederholt übel umgetreten wurde, überluden Hoeneß und Wimmer primär rechts - mit Erfolg. Letzterer allerdings so weit rechts, dass er die zentralen Räume vor der Abwehr manchmal gar nicht mehr zulaufen konnte, was den Deutschen beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Doch ehe Polleunis den späten Anschlusstreffer erzielte, hatte Deutschland durch die ultimative Koproduktion der beiden Blöcke doppelt zugeschlagen: Das feine Fußgelenk des Gladbachers Netzer und die konsequente Kaltschnäuzigkeit des Münchners Müller griffen zweimal harmonisch ineinander und öffneten das Tor zum Finale.

Im Rausch der Überlegenheit

Auf die Pflicht folgte die Kür. Zwar mögen gewisse Prinzipien des Endspielgegners Sowjetunion ebenfalls fortschrittlich gewesen sein, doch er verfügte nicht über die Spieler, um diese gewinnbringend umzusetzen. Wie schon im Testspiel hatten Beckenbauer und Netzer durch die von den Sowjets nur spärlich abgesicherte Mitte nahezu Narrenfreiheit, im Finale von Brüssel konnte es von Anfang an nur einen Sieger geben.

Gerd Müller (Mi.) zum 3:0-Endstand: Der erste EM-Titel für Deutschland.

Gerd Müller (Mi.) zum 3:0-Endstand: Der erste EM-Titel für Deutschland. imago sportfotodienst

Deutschlands offensiver Wucht durch clevere Ballverteilung, uneigennütziger Handlungsschnelligkeit und einem sehr hohen Grundtempo war die Sowjetunion nicht gewachsen. Über sich hinaus wuchs "Wasserträger" Wimmer, der vor der Abwehr spielte, der Rechtsaußen spielte, der eigentlich alles spielte und sogar das 2:0 schoss. Quasi eigenständig kreiert durch einen Tiefenlauf, der noch 50 Jahre später zeitgemäß wäre - was die Essenz dieser Elf ziemlich gut auf den Punkt bringt.

Noch besser gelang das einer Szene, die in diesem einseitigen Finale den 3:0-Endstand bedeutete. Selbst Manndecker Georg Schwarzenbeck war im Rausch der Überlegenheit mit nach vorne geeilt, wo ihm nach einer Kombination über Müller und Heynckes der Ball versprang - und so unabsichtlich zur perfekten Vorlage für Müller wurde. So sehr erschienen gewisse Abläufe verinnerlicht.

Ein Moment, der zwar aufzeigte, dass diese Mannschaft mitunter einem gewissen Leichtsinn verfiel und den Fußball nicht perfektioniert hatte. Doch es gab 1972 keinen Gegner, für den sie in vollem Lauf zu stoppen war.

Dieser Artikel erschien zunächst im kicker 42/2022 am 22. Mai.

Weitere Erzählungen und Details rund um Deutschlands ersten Europameister-Titel können Sie in unserer achtteiligen kicker-Serie zum 50-jährigen Jubiläum lesen - auch in der kicker eMagazine App (Android oder Apple).

Niklas Baumgart