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Sacchi im Interview: "Wir haben unsere kühnsten Träume übertroffen"

Milans Trainerlegende wird 75 Jahre alt

Sacchi im Interview: "Wir haben unsere kühnsten Träume übertroffen"

Feiert seinen 75. Geburtstag: Milans Trainerlegende Arrigo Sacchi.

Feiert seinen 75. Geburtstag: Milans Trainerlegende Arrigo Sacchi. imago images

Für viele gehört Arrigo Sacchi zu den besten Trainern des Fußballs. Sein spektakulär aufspielender AC Mailand mit Gullit, Rijkaard, van Basten, Baresi oder dem jungen Maldini wurde "die Unsterblichen" genannt. Er selbst avancierte zum "Propheten von Fusignano", dem 8000-Seelen-Ort nahe Ravenna, wo er immer noch lebt. Kurz vor seinem 75.Geburtstag am Gründonnerstag erzählte Sacchi dem kicker am Telefon viele Anekdoten, übte Kritik am Calcio und erklärt, warum er schon mit 54 Jahren als Trainer aufhörte.

75 Jahre, und fast die Hälfte dem Calcio gewidmet. Erinnern Sie sich noch, wann Sie sich in den Fußball verliebten, Signor Sacchi?
Ich wuchs mit dem Radio auf und klebte als Kind an den Übertragungen. Die ersten Spiele, die ich später sah, waren die der WM 1954 in der Schweiz. Deutschland schlug den Favoriten Ungarn - ich erlebte erstmals die Bedeutung von Teamgeist im Fußball. Bis zum Trainerdebüt dauerte es dann gar nicht so lange.

Das war wann?
Ich war 19 und spielte für meinen Heimatklub Fusignano. Wegen Rückenschmerzen konnte ich nicht auflaufen und der Trainer war verhindert. Da sagte der Präsident: Arrigo, du coachst das Team. Ich erwiderte: Das kann ich doch gar nicht. Und er meinte nur, das würde ich schon schaffen. Einen Monat später redete ich bereits im Trainerduktus. Das ging schnell. Er hieß Alfredo Belletti und war nicht nur mein Schullehrer für Italienisch und Latein, er lehrte mich auch essenzielle Dinge fürs Leben und den Calcio. Nach ein paar Wochen forderte ich von ihm den Kauf eines Liberos. Belletti fragte: Welche Nummer willst du dem Libero denn geben? Ich: die 6. Kurz darauf brachte er mir ein Trikot mit der Nummer 6 und den Worten: Den Libero bastelst du dir jetzt mit Arbeit und Ideen selbst, wenn du ein guter Trainer bist.

Unser Ziel war Angriffsfußball, egal ob in San Siro, auswärts oder auf dem Mond.

Arrigo Sacchi

Waren Sie selbst ein guter Fußballer?
Nein. Ich spielte in der 4. Liga, doch zum ganz großen Sprung war ich ehrlicherweise zu limitiert. Einige haben das später kritisiert, und ich antwortete, dass die Voraussetzung für einen Jockey ja auch nicht ist, in einem früheren Leben ein Pferd gewesen zu sein.

Wer oder was hat Sie inspiriert?
Als Kind hielt ich zu Inter Mailand, doch die Spielweise begeisterte mich nicht wirklich. Faszinierender fand ich Teams, die Emotionen in mir auslösten, die als Protagonisten auftraten, und der Sieg war dann lediglich eine Konsequenz dessen. Zum Beispiel die Ungarn oder Real Madrid mit Gento, Puskas, di Stefano, oder Brasiliens Selecao. Später dann die Niederlande und Ajax, die für eine echte Revolution im Fußball sorgten. In Italien wurde das allerdings von wenigen wirklich erkannt.

Wieso?
Die meisten dachten, sie wären physisch robuster und würden deshalb mehr laufen, und übersahen völlig das neue Konzept von Raum und Organisation.

Mit Milan haben Sie die Kategorien dann später ebenfalls revolutioniert.
Viele Freunde hat mir das in Italien nicht gemacht, da man hier ausnahmslos ergebnisorientiert denkt. Im Ausland war das anders. Wir machten einmal ein Freundschaftsspiel bei Manchester United, und es war fantastisch, wie das Publikum unsere Spielweise verstand und mit Ovationen honorierte. Anschließend kam Mark Hughes zu mir und sagte: Mister, wie haben Sie eine solche Mannschaft in Italien hinbekommen? Wenn das Feld zwei Kilometer lang war, habe ich die Italiener doch immer erst in den letzten 20 Metern getroffen...

Über Ihr später so getauftes "Milan der Unsterblichen" haben sich sicher einige gewundert. Wir übertrafen unsere kühnsten Träume und hatten, anders als etwa viele Maler, das Glück, noch zu Lebzeiten anerkannt zu werden. Unser Ziel war Angriffsfußball, egal ob in San Siro, auswärts oder auf dem Mond. Milan sollte harmonisch selbst Regie führen und nicht die gegnerischen Fehler abwarten. Das beste Gegenmittel, der wuchtigste Treibstoff, den Gegner aufzuhalten, war, unserem Credo treu zu bleiben.

Wie zum Beispiel beim 5:0 über Real Madrid im Halbfinale der Landesmeister 1989 und dem Endspielsieg danach gegen Steaua Bukarest.
Vor dem Finale schrieb einer der wichtigsten Journalisten in Italiens Geschichte, wir würden auf die Herren des Ballbesitzes und der Technik treffen und sollten deshalb abwarten und auf Konter lauern. Seit zwei Jahren hatte ich doch aber das exakte Gegenteil trainiert (lacht).

Arrigo Sacchi

Hat seine Trainerkarriere relativ früh beendet: Arrigo Sacchi. imago images

Was haben Sie also gemacht?
Provoziert. Bei der Spielbesprechung las ich den Artikel vor, und Ruud Gullit stand auf: Mister, das können wir doch gar nicht. Wir attackieren von der ersten Sekunde an bis wir umfallen, wie immer. Genau das hatte ich hören wollen. Klappte nicht so schlecht. Nach 47 Minuten stand das Endergebnis 4:0 schon fest, und L'Equipe titelte: "Von einer anderen Welt. Der Fußball wird nicht mehr derselbe sein." Das machte mich stolz und erinnert mich an eine Episode.

Bitte.
Vor einigen Jahren lud mich der Bürgermeister einer italienischen Stadt ein, die von einem schrecklichen Erdbeben erschüttert worden war. Die meisten lebten noch in Containern, und nach dem Gespräch mit den Leuten kam ein Signore zu mir mit genau jenem Titelblatt von L'Equipe. Das hatte er aus seinem einstürzenden Haus gerettet.

Hat sich das in den letzten Jahren im Calcio nicht ein wenig verbessert?
Naja. Ich war bis 2014 Koordinator der U-Nationalteams und erinnere mich an eine Partie unserer U 21 gegen Dänemark. Die Dänen waren individuell schwächer, spielten aber als Kollektiv mit Pressing und hervorragendem Verschieben besser als Italien. Neben mir stand mein Verteidiger bei Milan, Billy Costacurta, und seufzte: Trainer, auf der ganzen Welt haben sie unser Spiel von damals kopiert - außer in der Heimat.

Ist Fußball in Italien also kein Mannschaftssport?
Leider regiert der Individualismus, und wir spielen selbst mit den größten Champions wie knausrige Geizhälse. Ich dachte an Kollektiv, Teamgeist und Synergie. Mittlerweile kommen in Italien alle aus ihren Kellern und lassen unser Milan hochleben. Sie vergessen, dass sie mich damals als eine Art Gefahr erachteten, als Unruhestifter und Revoluzzer gegen das etablierte Denken.

Dafür gab es jedoch genug Anerkennung jenseits der Grenzen.
Ja, aber ich lebte in Italien, und hier ist es aufreibend, wenn du gegen den Strom schwimmst. Das ermattet dich mental ungemein.

Wenn der Fußball dir keine Emotionen mehr gibt, ist der Augenblick für den Schlussstrich gekommen.

Arrigo Sacchi

War das einer der Gründe, die Trainerkarriere relativ früh zu beenden?
Der Moment kam, als ich im Januar 2001 zu Parma zurückkehrte. Im dritten Spiel führten wir 2:0 in Verona, und ich fühlte nichts, totale Emotionslosigkeit. In 27 Jahren als Trainer hatte mir der Fußball immer etwas zurückgegeben: Euphorie, schlaflose Nächte, Zweifel, gerechtfertigte oder überzogene Kritiken. In jenem Moment aber nichts als absolute Leere. Wenn der Fußball dir keine Emotionen mehr gibt, ist der Augenblick für den Schlussstrich gekommen.

Was taten Sie also?
Ich rief meine Frau an und sagte, ich höre auf, stieg ins Auto und fuhr nach Hause. Ich hatte fast 30 Jahre exklusiv für den Fußball gelebt, kaum geschlafen und alles andere ausgeklammert. Ich war vielleicht viermal im Kino - dabei liebe ich Filme. In jenem Moment in Verona fehlte mir der Atem, ich war müde und ausgebrannt. Deshalb suchte ich für mein seelisches Gleichgewicht später auch psychologische Betreuung.

Wie reagierte Parma?
Wenn der Stress dich zermürbt, ist es sinnlos, dagegen anzukämpfen. Parma-Präsident Calisto Tanzi versuchte mich umzustimmen, niemand von seinen Mitarbeitern wäre jemals aus einem solch lukrativen Kontrakt ausgestiegen. Meine Antwort lautete: Ich habe kein Interesse, der reichste Mann auf dem Friedhof zu sein.

Sie hatten zu jenem Zeitpunkt auch so ziemlich alles erreicht.
Ich startete in der Kreisliga B und schaffte es bis zu Milan.

Und das kam wie genau?
Mit meinem Parma voller Youngster gewannen wir als Zweitligist in San Siro binnen einer Saison im Pokal zweimal 1:0, Gruppenphase und Achtelfinale. Zwei Wochen später meldete sich Silvio Berlusconi, dabei wollte ich gerade Florenz zusagen. Berlusconi sagte mir, er wolle den glorreichsten Klub der Welt aufbauen. Ich dachte bloß: mit mir? Entweder ist er verrückt oder ein Genie.

War das Leben mit dem Cavaliere verrückt oder genial?
Seine Vision ging über das Denken der anderen italienischen Präsidenten hinaus. In Italien ging es allein um das Gewinnen, und das war freilich gegen jeden Grundgedanken des Fußballs. Was ist das denn für ein Erfolg - ohne schönes Spiel, Emotionen, Harmonie oder Verdienst? Er bleibt begraben im Almanach, nicht in der Erinnerung der Menschen. Berlusconi und ich hatten das gleiche Ziel: vincere e convincere - gewinnen und überzeugen.

Dachten die Spieler ähnlich?
Frank Rijkaard wunderte sich: Mister, Sie bekommen selbst Gullit zum Laufen, unfassbar! (lacht) Aber anfangs kam ein Spieler einmal zu mir und nörgelte, wir würden zu hart trainieren und er hätte keinen Spaß. Ich sagte, dass ich noch nie von Erfolg mit wenig Arbeit gehört hätte. Wenn du den 80.000 im Stadion und den Leuten vor dem TV 100 Prozent Leidenschaft und Gefühle vermittelst, dann werden sie dich nie vergessen. Irgendwann sagte er: Mister, Sie hatten recht.

Nicht alle dachten das.
Sehen Sie, Italien hat diese Denkweise immer noch nicht wirklich verinnerlicht. Seit Jahrhunderten sind wir die Meister der Abkürzungen und Gerissenheit. Wir sind mittlerweile auf dem vorletzten Platz der EU in puncto Studienabschlüsse. Und ohne Wissen kann weder Innovation, Wachstum noch Courage entstehen.

Spaß hat Arrigo Sacchi (Mitte) hier im Rahmen eines Benefizspiels.

Spaß hat Arrigo Sacchi (Mitte) hier im Rahmen eines Benefizspiels. imago images

Mit welcher Rolle würden Sie den Trainer Arrigo Sacchi vergleichen?
Ich habe den Fußball immer interpretiert, als sei ich ein Regisseur, Drehbuchautor oder Dirigent. Meine Teams sollten sich in Automatismen bewegen. Einige Spieler beschwerten sich über fehlende Improvisation, darauf erwiderte ich: Ihr improvisiert kollektiv, ohne es zu bemerken. Noch kürzlich erzählte Gullit in einem Interview, die Mannschaft war in totaler Synchronisation, in ständiger Bewegung wie durch einen unsichtbaren Faden verbunden. 1 mal 1 macht 1, 1 mal 11 macht 11. Siehe Rinus Michels, Milan oder Guardiolas Barcelona.

Wer fasziniert Sie heute?
In der letzten Saison hat mich Jürgen Klopps Liverpool mitgerissen. Nur unter diesen Parametern bleibt der Fußball in der nötigen Evolution und wird nicht zur Retro-Ware. Proaktiv und nicht reaktiv, harmonisch wie ein Orchester.

Sie sagten einmal, Sie hätten sich geschämt, Geld für eine Arbeit anzunehmen, die Sie liebten.
Das ist richtig. Ich hätte weitaus mehr verdienen können, doch bei Milan unterschrieb ich einen Blanko-Vertrag und sagte, setzen Sie die Summe ein, die Sie für adäquat halten. Und der Managerfuchs Galliani gab mir weniger als beim Zweitligisten Parma (lacht).

Sie waren auch fünf Jahre lang Nationaltrainer. Wo lag der Unterschied?
Mein Parma und mein Milan spielten besseren Fußball als die Azzurri. Aus einem einfachen Grund: Als Auswahlcoach leitete ich vielleicht 30, 40 Trainingstage, in meinen Klubs 300. In Italien ist der Diskurs noch komplizierter, denn in Anarchie und im Überlebensmodus haben wir nie einen echten Stil geprägt. In der Mode schon, nicht im Fußball. Es existierte die Donau-Schule, die englische, die spanische, die südamerikanische...eine italienische gab es nie.

Man sprach lange vom Catenaccio...
Aber das ist ja keine Schule.

Trauern Sie dem durch Elfmeterschießen verlorenen WM-Finale von 1994 noch nach?
Nein. Wir hatten mit dem Endspiel unsere eigentlichen Möglichkeiten schon weit übertroffen, und Brasilien wurde verdient Weltmeister. Mich sprach mal jemand auf der Straße an und sagte: Schade wegen dieser verflixten Elfmeter. Er war Klempner, und ich sagte: Warum schade? Wären Sie nicht glücklich, eines Tages zum zweitbesten Klempner der Welt gekürt zu werden? Da nickte er nur.

Es hieß, Sie hätten damals ein Film-Angebot aus Hollywood erhalten - für eine Trainer-, nicht Klempner-Rolle.
Stimmt. Ich erzählte meiner Frau, wenn Sharon Stone mitspielt, akzeptiere ich sofort (lacht). Aber aus dem Streifen wurde dann nichts.

Silvio Berlusconi wolle den glorreichsten Klub der Welt aufbauen. Ich dachte bloß: mit mir? Entweder ist er verrückt oder ein Genie.

Arrigo Sacchi

Sie hatten ja noch den Fußball als Entschädigung.
Es ist der wunderschönste Sport, vielleicht der natürlichste und instinktivste überhaupt. Leg einem Kind einen Ball vor die Füße, und es schießt. Zwei Dinge gefährden ihn aber momentan: Business und ein exzessives Reduzieren auf die Hauptdarsteller.

Inwiefern?
Mir sagte ein Jugendlicher neulich, er spiele Fußball, um reich und berühmt zu werden. Wenn dieser Gedanke zur Essenz des Sports wird, sieht es düster aus.

Macht Geld den Fußball also uninteressanter?
Weltweit wird im Fußball nur über Geld gesprochen - Prämien, TV-Gelder, Verträge, Gehälter, etc. Da ist es dann zur Oberflächlichkeit nicht weit. Kürzlich sah ich die Partie eines italienischen Klubs, in der die ausländische Mannschaft deutlich besser spielte. In den letzten fünf Minuten gewannen die Italiener dennoch unverdient, und der Stürmer, der keinen Ball berührt, aber ein Tor erzielt hatte, wurde für die Medien zum Spieler des Spiels. Völlig absurd, das zeugt von unserer mangelhaften Sportkultur, weil wir den Calcio weiterhin über Sieg und Heros definieren.

Was wünschen Sie dem Fußball für die nahe Zukunft?
Endlich wieder Zuschauer in den Stadien, denn ohne ergibt er keinen Sinn. Aber bitte Tifosi mit Fairness und Leidenschaft wie in England. Wenn ich noch einmal geboren werde, dann werde ich dort Trainer.

Interview: Oliver Birkner

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