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Rocketman: Wie Jude Bellingham Real Madrid im Sturm erobert

Wie Jude Bellingham Real Madrid im Sturm erobert

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"Der Junge ist Wahnsinn!": Madrid schwärmt von Jude Bellingham.

"Der Junge ist Wahnsinn!": Madrid schwärmt von Jude Bellingham. IMAGO/ZUMA Wire

Taylor Swift kommt erst im Mai 2024, aber schon jetzt erlebt das aufpolierte und doch noch altehrwürdige Bernabeu-Stadion in Madrid sein ganz eigenes Pop-Spektakel. "Hey Jude", der berühmte Beatles-Hit, gehört mittlerweile zum gesanglichen Repertoire im königlichen Fußballtempel, der bis dato eher als weihevolle Opernbühne bekannt war. Wo früher nach missratenen Aktionen selbst von Größen wie Zinedine Zidane oder Cristiano Ronaldo das Murren der meist älteren, kritischen Fußballkenner hörbar und gefürchtet war, breitet sich neuerdings ekstatische Fankultur aus. Und die Chöre zu Ehren Jude Bellinghams werden immer lauter. Der erklärt gerührt: "Als ich es das erste Mal gehört habe, wäre ich am liebsten stehen geblieben und hätte einfach nur zugehört. Mir haben die Beine gezittert."

Die Wahrheit indes ist: Er hat abgehoben wie eine Rakete.

Es sind nicht nur die Tore, die Bellingham schießt. Der 20-Jährige kommt als Gesamtkunstwerk daher. So einen wie den im Sommer für 103 Millionen Euro aus Dortmund gekommenen Jungstar haben sie in Madrid lange gesucht. Auf die Frage, wieso Bellingham auf Anhieb Publikumsliebling bei den Königlichen geworden sei, erklärte Ex-Profi Guti, einst selbst geschätzt von den Fans: "Ganz einfach: Jude will für Real Madrid spielen, und das merkt man."

Reift hier ein Weltfußballer heran?

Anders etwa als Kylian Mbappé. Kommt der Franzose? Oder nicht? Während die Situation um den Weltstar von Paris unklar ist, reift bei den Königlichen gefühlt ein kommender Weltfußballer heran. Wann hat man zuletzt gesehen, dass einer so eiskalt, aber zugleich dynamisch Tore mehr erspielt als erzwingt? Ohne Drama wie einst bei Cristiano Ronaldo, aber genauso schnörkellos: Am Ende ist die Kugel im Netz und das Bernabeu ein Tollhaus.

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Auch außerhalb des Fußballs sorgt der Neue für Wirbel. Als Spaniens Tennis-Ass Carlos Alcaraz jüngst bei den US Open gegen Alexander Zverev ins Halbfinale einzog, twitterte er ein Foto von sich in Bellinghams Jubelpose, die Arme ausgebreitet. Dazu schrieb er nur: "Hey Jude". Den Bellingham-Jubel sieht man längst spanienweit beim Nachwuchs. Es ist so etwas wie Liebe auf den ersten Blick. Nach dem 3:1 mit England gegen Italien vergangene Woche sagte der Youngster: "Ich möchte die nächsten 10, 15 Jahre bei Real spielen, da bin ich mir sicher. Es gefällt mir hier, ich bin hier ein besserer Spieler geworden."

Birmingham City wurde belächelt

Dass der Jungprofi ein Ausnahmetalent ist, dessen waren sie sich schon vor Jahren bei dessen Heimatverein Birmingham City sicher. Als der Klub nach dem Wechsel des damals 17-Jährigen zu Borussia Dortmund im Sommer 2020 verkündete, seine Rückennummer 22 künftig nicht mehr zu vergeben, wurde er belächelt. Es wirkte auf den ersten Blick wie ein PR-Gag, kommt eine solche Ehre doch, wenn überhaupt, Spielern erst dann zuteil, wenn sie ihre Karriere beenden. Bellingham aber hatte da gerade einmal 44 Pflichtspiele für den Klub absolviert.

Heute lächelt niemand mehr über die "Blues", vielmehr bewundert man sie für ihre Weitsicht. Dass er einer der ganz Großen seiner Zunft wird, wenn nicht gar schon ist, ist unstrittig. Bereits beim BVB war das spielerische Talent nicht zu übersehen, ebenso wenig seine charakterliche Eignung zu einem Top-Profi und Führungsspieler. "Jude ist der reifste, seriöseste 18-Jährige, den ich gesehen habe", sagte Mats Hummels nach dem ersten von drei gemeinsamen Jahren. Dass zur Entwicklung auch Phasen gehörten, in denen Bellingham mit den Mitspielern aneinandergeriet, sich auf dem Rasen im Ton vergriff und sich auch abseits des Platzes mal unüberlegt äußerte - etwa bei der über das Ziel hinausschießenden Kritik an Schiedsrichter Felix Zwayer 2021 -, ist unbestritten.

Vergleiche mit Zidane und Gerrard

Doch die Lernkurve des Aufstrebenden war stets steil. Insbesondere auf dem Rasen, wo er sich im Raketentempo von der zweitklassigen Championship in England auf die Bundesliga sowie später auf die Champions League einstellte. Bei René Maric, damals Assistent von Trainer Marco Rose beim BVB, weckte er früh Assoziationen zu Ikonen: In kleinen Räumen erinnere Bellingham ihn an Zinedine Zidane, in großen an Steven Gerrard. Es gibt schlechtere Referenzen.

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Abseits des Platzes sammelte er als überaus selbstbewusster, wohlerzogener junger Mann regelmäßig Sympathiepunkte, wenn er sich über Gebühr Zeit nahm für Fans und im Kontakt mit seinem direkten Umfeld in Dortmund nicht die Basics des Zusammenlebens vergaß. Ein freundlicher Gruß, ein kurzes "Wie geht’s?". Wo andere Profis häufig Blickkontakt scheuen und wie in einer eigenen Blase gefangen wirken, blieb Bellingham bis zu seinem Abschied vom BVB offen für die Menschen um ihn herum. Beim Ordner angefangen, der ihn morgendlich aufs Trainingsgelände ließ.

Dass er in seinem letzten Jahr bei der Borussia dafür kritisiert wurde, sich ohne die Kollegen von der Südtribüne feiern zu lassen, wirkt im Rückblick noch kleingeistiger, als es schon damals war. Ja, Bellingham war in der Saison 2022/23, die er in der Hinrunde zunächst noch fast allein für den BVB geschultert hatte, ehe er aufgrund von Knieproblemen nur noch wenige Impulse setzen konnte, nicht mehr Everybody’s Darling. Ein Problemfall aber, zu dem ihn der Boulevard nachträglich ausrief, war er nicht. Trotz seiner zuweilen unbequemen Art, die in erster Linie Ausdruck seines ausgeprägten Ehrgeizes war. Ein Ehrgeiz, der ihn früh zum Schlüsselspieler bei Real wie in der Nationalmannschaft werden ließ.

Lineker: "Jude ist ein natürlicher Anführer"

Mit 17 Jahren und 136 Tagen hatte er 2020 für England debütiert, als Drittjüngster aller Zeiten. 2021 war er kurzzeitig der Jüngste, der je bei einer EM-Endrunde auflief. Legende Gary Lineker ist sich sicher: "Bellingham hat eine gute Ausgangsposition, um eines Tages Englands Kapitän zu werden. Klar ist Harry Kane jetzt dabei und führt das Team brillant, aber Jude ist ein natürlicher Anführer. Er ist nicht nur mit unglaublichen Fähigkeiten gesegnet, sondern auch mit einer bemerkenswerten Reife für einen so jungen Mann." Beispiele? "Das sieht man daran, wie er in Madrid vom ersten Moment an alle für sich eingenommen hat. Er hat bei Real das Sagen, und man kann sehen, dass er auch in England das Sagen hat. Er ist die Art von Spieler, die man sich für eine sehr lange Zeit an der Spitze Englands vorstellen kann."

Geht auch ohne Binde für England voran: Jude Bellingham und Kapitän Harry Kane. IMAGO/Offside Sports Photography

Auch Nationaltrainer Gareth Southgate, unter dem Bellingham seit mittlerweile zwei Jahren Stammspieler ist, ist voll des Lobes. Was sonst mit Blick auf dieses Jahrhunderttalent? Der Coach sagt: "Jude ist ein Katalysator. Die Art und Weise, wie er sich selbst trägt und wie er auf dem Feld spielt, zeigt das. Das hat er, seit er durch die Tür gekommen ist. Und die Kraft in seinem Spiel gibt uns etwas Zusätzliches. Schauen Sie sich an, wie er in engen Situationen zurechtkommt und wie er sich aus der Situation herauswinden kann."

Rückennummer mit großer Tradition

Wenn man so will, ist Bellingham prädestiniert, England eines Tages zum ersten WM-Titel seit 1966 zu führen. Auch bei Real reiht sich der Youngster, für den es keine Grenzen zu geben scheint, in die große Ahnenreihe mit der 5 ein, zwangsläufig fast. David Beckham wählte 2003 mit Blick auf die Basketball-Legende Michael Jorden die 23, Bellingham indes die traditionsreiche 5: José Santamaria, Manolo Sanchis, Fernando Hierro, Fernando Redondo haben sie getragen, Zidane tat es. Dazu Miguel Munoz, Marquitos, Ignacio Zoco, José Antonio Camacho, Michel. Bellingham sagt: "Diese Nummer inspiriert mich sehr, es ist eine Ehre für mich, dass ich sie tragen darf."

Während man von Beckham einst kaum ein spanisches Wort zu hören bekam, ist Bellingham voll integriert. Schon nach dem 2:0 zum Saisonauftakt in Bilbao gab er sein erstes Interview auf Spanisch: "Hola Madridistas, primer partido, primera victoria, primer gol. Hala Madrid." Erstes Spiel, erster Sieg, erstes Tor. Es lebe Madrid. So einfach, so perfekt.

Intern soll Real-Boss Florentino Perez geschwärmt haben: "Der Junge ist Wahnsinn!" Bellingham kam, sah und siegte. Eine Siegermentalität, mit der er ein seit Beckham und Cristiano Ronaldo nicht erlebtes Interesse für Real in der englischsprachigen Welt entfesselte, inklusive Berichterstattung und Trikotverkäufe. Schon jetzt ist sein Jersey mit dem von Vinicius Junior das meistverkaufte bei Real in dieser Saison. Weltweit.

Ancelotti: "Bellingham macht alle besser"

Alles fließt, der Neue reüssiert, ganz natürlich, ganz so, als sei er ein reifer Spieler von 30 und nicht ein Youngster von 20 Jahren. Trainer Carlo Ancelotti schwärmte unlängst: "Bellingham kann leicht 15 Saisontore schaffen, er lernt extrem schnell." Die erwähnten 15 dürften schon zu Weihnachten fallen ... Und Toni Kroos betonte in seinem eigenen Podcast: "Jude ist nicht nur physisch unfassbar reif, sondern auch schon sehr weit, wie er spielt, ist immer klar in seinen Aktionen. Technische und taktische Fehler sieht man bei ihm wenig." Der Gelobte selbst erklärt, gewohnt reif: "Die Siegermentalität hier und meine guten Mitspieler geben mir ein neues Level, mental, physisch und technisch." Und auch die Kollegen profitieren. Ancelotti: "Bellingham macht alle besser."

Wie war das gleich noch mal mit den Beatles und dem Bernabeu? Es gibt da den Song "She loves you", im Refrain heißt es "Yeah, yeah, yeah". Daraus machten sie in Spanien in den 60er Jahren ein "Yé-yé", und so wurde auch das großartige Real-Team genannt, das zwischen 1961 und 1969 achtmal Meister wurde, davon fünfmal in Folge, und 1966 die Königsklasse gewann. "Yé-yé" damals, "Hey Jude" heute. Bellingham ist da, die Ekstase ist zurück.

Matthias Dersch, Björn Rohwer, Jörg Wolfrum, Keir Radnedge, Peter Schwarz-Mantey

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