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Pogacar, der sympathische Kannibale auf historischer Mission

Slowene möchte das Double aus Giro und Tour

Pogacar, der sympathische Kannibale auf historischer Mission

Fährt gerne auch mal wild drauflos: Tadej Pogacar.

Fährt gerne auch mal wild drauflos: Tadej Pogacar. IMAGO/Sirotti

Der beste Radfahrer aller Zeiten? Auch wenn jedes Jahrzehnt Ausnahmekönner hervorgebracht hat und Vergleiche über die verschiedenen Epochen einer sich stetig verändernden Sport immer ein wenig schief, weil nicht nachweisbar daherkommen, so herrscht bei dieser Frage noch Einigkeit. Eddy Merckx, der belgische Alleskönner, der in den 70ern des vergangenen Jahrhunderts Landesrundfahrten, Klassiker sowie Sechstagerennen nach Belieben dominierte und wegen seines unstillbaren Siegeshunger den Spitznamen Kannibale verpasst bekam.

In Anbetracht der zunehmenden Spezialisierung des Radsports schien dem heute 78-Jährigen, der über 600 Siege einfuhr, der Titel "Größter aller Zeiten" nicht mehr wegzunehmen zu sein - bis vor rund vier Jahren ein junger Mann namens Tadej Pogacar aus Slowenien auftauchte und im Alter von 21 Jahren als Tour-de-France-Debütant auf Anhieb das bedeutendste Radrennen der Welt gewann. Und als er 2021 diesen Triumph wiederholte und zudem noch zwei Eintagesklassiker draufpackte, prophezeite Merckx, dass ihn Pogacar alsbald von der Spitze der Bestenlisten verdrängen wird. "Er ist um so Vieles besser, als ich es in diesem Alter war," sagte die Radsportlegende, der mit elf Grand Tours so viele wie keine anderer gewonnen hat.

Das Double als unmögliche Herausforderung?

Auch wenn der Slowene im Anschluss zweimal "nur" Zweiter bei der Tour wurde, so ist es doch angesichts seiner Klasse nachvollziehbar, wenn er nicht weniger als der Beste in der Geschichte sein will, wie er unlängst der französischen Sportzeitung L‘ Equipe verriet. Mit etlichen höchst bemerkenswerten Einträgen hat er sich im Historienbuch seiner Sportart zwar bereits verewigt, um aber sein ganz großes Ziel zu verwirklichen, hat der 25-Jährige noch ein gewaltiges Stück Arbeit vor sich - zum Beispiel den Giro d'Italia und die Tour in einem Jahr zu gewinnen.

Dieses Double, das bislang nur sieben Fahrern gelang, darunter Merckx mit dreimal am häufigsten, hat er sich zum ersten Mal in seiner Karriere vorgenommen. Dass dies schon immer ein höchst schwieriges Unterfangen war, verdeutlicht allein die erlesen geringe Zahl an Double-Siegern. In den Jahren, seit Marco Pantani dieses Kunststück 1998 zuletzt gelang, ist aus dem schwierig ein unmöglich geworden: Die von Lance Armstrong begonnene Fokussierung auf die Tour hat das Team Sky, heute als Ineos Grenadier unterwegs, weiter perfektioniert und ist nun in der Ära der "Marginal Gains", dem von einem Heer an Wissenschaftlern begleiteten Drehen an jeder noch so kleinen Schraube, Standard geworden - der jüngste Doppel-Triumph bei der Tour durch Jonas Vingegaard mir der niederländischen Equipe Visma-Lease a bike lässt grüßen.

Froome war am nächsten dran

"Wer heute die Tour gewinnen will, muss dafür 365 Tage leben", betont zum Beispiel Ralph Denk, Boss der deutschen Weltklasse-Equipe Bora hansgrohe, die mit dem Kolumbianer Daniel Martinez als Kapitän in Italien antreten wird. Aus Denks Worten lässt sich im Umkehrschluss also ein im modernen Radsport ungeschriebenes Gesetz ableiten: Wer den Giro auf Sieg fährt, hat rund fünf Wochen später bei der Tour keine Siegchance. Seit dem 26 Jahre zurückliegenden Doppelstreich Pantanis haben sich von Bradley Wiggins, Vincenzo Nibali, Alberto Contador, den Vorjahreszweiten Geraint Thomas bis über Chris Froome etliche Große der Zunft an dem Vorhaben meist sehr deutlich und nur selten knapp überhoben.

Am nächsten dran war vor sechs Jahren der viermalige Tour-Sieger Froome, der nach dem Giro-Triumph bei der Frankreich-Schleife Dritter wurde. Aus diesem Grund hat Pogacar bislang auch noch nie beim Giro d'Italia teilgenommen, obwohl diese vor der Haustüre seiner Heimat stattfindende traditionsreiche Rundfahrt ihn als Jugendlicher inspirierte. So stand er als 15-Jährige inmitten der Radsport-Tifosis am Straßenrand, als sein Landsmann Luka Mezgec eine Etappe in Triest gewann. Deswegen ist es auch nicht verwunderlich, dass er den Giro als eines seiner "Lieblingsrennen" bezeichnet, obwohl er noch nie an ihm teilgenommen hat. Diese Haltung ist übrigens häufig anzutreffen, die Vernunft erkennt die Tour ohne Wenn und Aber als das wichtigste Rennen an, was folglich den Terminkalender bestimmt, auch wenn der Giro das Herz erwärmt.

Pogacar ist ein wilder Draufgänger

Doch zurück zum Double: Wenn es aktuell einer wuppen kann, dann der Alleskönner aus Slowenien, der gnadenlos schnell am Berg wie im Kampf gegen die Uhr ist, und auch im Sprint erst mal geschlagen werden will. "Er hat auf jeden Fall dafür das Vermögen", urteilt die spanische Radsportlegende Miguel Indurain, dem als einziger 1992 und 1993 das doppelte Double gelang. Zugleich schiebt der 59-Jährige aber an eine Warnung hinterher: "Du musst bei diesem Vorhaben sehr sorgfältig mit deiner Energie umgehen."

Und genau da könnte der Haken liegen: Pogacar und die Leitung seiner Equipe UAE haben zwar das Programm entsprechend angepasst, ins Frühjahr zum Vergleich zu den Vorjahren deutlich weniger Renntage gepackt, der Slowene nahm mit Mailand-San Remo und Lüttich-Bastogne-Lüttich nur an zwei Eintagesklassikern teil. Was sich indes nicht verändert hat: er selbst, beziehungsweise seine Fahrweise. Im Vergleich zu dem elegant und mit kühlem Kalkül in die Pedale tretenden Stoiker Indurain gibt Pogacar den wilden, lausbubenhaften Draufgänger.

Auf Attacke gebürstet

Giro d'Italia 2024

Mit Rechenschieber fahren? Auf gar keinen Fall, Attacke ist das immerwährende Programm bei ihm, egal, ob angesichts der starken Konkurrenz ein Tick mehr an Zurückhaltung angebracht wäre, egal auch, wie komfortabel sein Vorsprung oder sein Rückstand ist, Taktieren ist so gar nicht sein Ding. "Ich habe einfach riesigen Spaß am Radfahren" - am für ihn schnellmöglichsten, sei angefügt. So hat er in die gerade bei Landesrundfahrten aufkommende bleierne Langweile von Datenfixierung und Teamdirektiven wieder ein erfrischendes Stück an Wildheit hineingebracht. Unvergessen die ersten zwei Wochen bei der letztjährigen Tour, als er sich mit Vingegaard ein episches Sekunden-Duell lieferte. Und als er in der dritten Woche nach einem infektionsbedingten bitterbösen Einbruch auf der 17. Etappe gegen den Dänen aussichtslos ins Hintertreffen geriet, kämpfte er verbissen weiter und holte sich drei Tage später noch einen Etappensieg.

Apropos verbissen: Siege mögen sein großes wie einziges Rennfahrer-Elixier sein, das Streben nach ihnen raubt ihm aber nicht seine Lockerheit. Der sympathische Kannibale von nebenan eben, der sich wie bei vor wenigen Wochen bei Mailand-San Remo nach einer Niederlage nicht sauertöpfisch zurückzieht, sondern sich als Dritter herzerfrischend authentisch mit dem Sieger, seinem Ex-Mannschaftskollegen Jasper Philipsen (Alpecin-Deceuninck), freuen kann. Neben seiner authentischen Nahbarkeit ist dies ein weiterer Grund dafür, dass er derzeit nicht nur der in der Breite beste Radfahrer der Welt ist, sondern wohl auch der beliebteste.

Monströse Solo-Fahrten mit Ansage

Tadej Pogacar

Hat auf der Zielgerade derzeit genug Zeit, um zu feiern: Tadej Pogacar. IMAGO/IPA Sport

Dabei ist seine Dominanz mitunter schon so frappierend, dass sie eigentlich wenig sympathiefördernd ist. Bei der Strade Bianche, dem schweren Eintagesrennen mit Schotterpassagen durch die Hügel der Toskana, legte er ein monströses 81-Kilometer-Solo hin, das er zuvor exakt so angekündigt hatte.

Bei der von ihm mit fast vierminütigem Vorsprung gewonnenen einwöchigen Katalonien-Rundfahrt feierte er vier Etappensiege, darunter am Schlusstag im Vorbeigehen auch die Sprinteretappe. Weil sein Mannschaftskollege Marc Soler, für den er den Sprint anfahren wollte, plötzlich nicht mehr an seinem Hinterrad war, finalisierte er eben selbst.

Bei jener Rundfahrt machte er zudem etwas, was im heutigen Hochleistungssport zur absoluten Rarität geworden ist: Er erlaubte sich einen Spaß. Auf der 2. Etappe setzte sich er mit einem Teamkollegen Domen Novak gut 160 Kilometer vor dem Ziel aus dem Hauptfeld urplötzlich ab - nicht aber, um die Ausreißer zu jagen, wie viele im Hauptfeld vermuteten, sondern um sich kurz darauf außer Sichtweise zum Pinkeln ins Gebüsch zu verziehen. Dort blieben er und sein Begleiter in geduckter Haltung auch, als das Hauptfeld vorbeiraste, um ihn nicht zu weit ziehen zu lassen. Am Ende war freilich war Schluss mit Lustig, als Solist überquerte er die Bergetappe zur Skistation Vallter mit einem Vorsprung von 1:23 Minuten.

Alle Etappenprofile in der Übersicht: Umbrail-Pass statt Passo Stelvio

Und auch bei der Generalprobe für den Giro, dem ältesten Frühjahrsklassiker Bastogne-Lüttich-Bastogne, stürmte der Slowene als Solist nach 2021 zu seinem zweiten Erfolg bei dem belgischen Radsport-Monument. Rund 35 Kilometer vor dem Ziel trat Pogacar an der steilen Cote de La Redoute an und ließ mit Mathieu van der Poel (Alpecin-Deceuninck) einen Ausnahmekönner seines Schlages stehen, der zuvor die Frühjahrssaison dominierte. Am Ende überquerte Pogacar mit einem Vorsprung von 1:38 Minuten die Ziellinie - der größte seit 44 Jahren. Unterm Strich hat der Slowene damit fast alle Rennen, bei denen er in diesem Jahr an der Startlinie stand, auch gewonnen. Und bei der Ausnahme, der sogenannten Fahrt in den Frühling bei Mailand-San Remo, wurde er Dritter.

Vingegaard und Co. im Sturzpech

Deswegen braucht auch beim am Samstag in der Nähe Turins beginnenden 107. Giro nicht groß das Für und Wider möglicher Siegaspiranten eingehen: Pogacar, wer sonst! Wenn es nur einigermaßen normal läuft, wird der Slowene am 24. Mai in Rom den Giro mit klarem Vorsprungs als Sieger beenden. Andererseits, der Radsport kann bekanntermaßen viele, viele böse Überraschungen parat halten. Beim letztjährigen Giro war es ein grausig kaltes wie nasses Wetter, das den Führenden Remco Evenepoel mit einem Infekt aufgeben ließ. Nicht zu vergessen, der wie bei jedem Rennen und jeder Trainingsausfahrt lauernde "Sturzteufel", der bisher in dieser Saison schon so gnadenlos zugeschlagen hat und die Mitfavoriten Jonas Vingegaard, Primoz Roglic und Evenepoel erwischt hat. So gesehen kann auf jedem der rund 3320 Kilometer des Giro auch Banales wie Sand auf oder Schlaglöcher in der Straße die historische Mission Pogacars gefährden.

Übrigens: Beim Double will es der Slowene nicht belassen, Olympia und die Weltmeisterschaften sind die weiteren Saisonziele - aber so weit ist es noch lange nicht, nun warten erst mal die Straßen Italiens auf ihn.

Chris Biechele