Atalanta Bergamo ist am Mittwochabend knapp am erst zweiten großen Titel der Vereinsgeschichte vorbeigeschrammt. Nach dem Coppa-Triumph 1962/63 setzte es nun im Pokal-Finale gegen Lazio Rom ein spätes 0:2. Es war ein Spiel "auf Messers Schneide", wie Trainer Gasperini im Anschluss gegenüber dem italienischen TV-Sender "Rai Sport" empfand.
Und in der Tat boten sich beide Klubs ein mit sechs Minuten Nachspielzeit versehenes Duell auf Augenhöhe mit dem besseren Ende für die Römer, die im (eigenen) Stadio Olimpico spät durch Joker Sergej Milinkovic-Savic (82. Minute) und Joaquin Correa (90.) die Weichen auf Sieg stellten.
"Gasp" kocht vor Wut - und redet sich in Rage
Zuvor hatten bei den unterlegenen Lombarden unter anderem Papu Gomez (Außenpfosten, knapper Schuss daneben) und Marten de Roon (Pfostenknaller) mögliche Treffer liegenlassen. Doch war da nicht noch etwas anderes? In der Tat: Kurz nach de Roons Schuss in der 26. Minute hatte Lazio-Profi Bastos den Arm deutlich ausgefahren und über dem Kopf gestreckt - und erst dadurch lenkte der schier perfekt getretene Ball letztlich an den linken Pfosten.
Eine Szene, die Gasperini auf dem Feld gar nicht richtig wahrgenommen hatte - und eine Szene, die dem Atalanta-Coach eben nach Spielschluss von "Rai Sport" vorgespielt wurde. Er sah sich die Bilder in Ruhe an, äußerte sich im Anschluss - und steigerte sich auf einmal immer mehr rein: "Das ist ein ernstes Vergehen. Der Ball geht eigentlich ganz klar ins Tor - und wird eindeutig abgelenkt. Ich habe Luca Banti (Schiedsrichter; Anm.d.Red.) das ganze Spiel über schon nicht verstanden, aber dieser Vorfall ist eindeutig ein Fall für den VAR. Das stellt alles auf den Kopf, was während der Serie-A-Saison schon passiert ist. Das ist absolut ungerechtfertigt, unakzeptabel. Wir akzeptieren die Niederlage, sicher, es war ein ausgeglichenes Spiel, aber dieser Vorfall ist nicht hinzunehmen."
Wir haben die ganze Saison über die absurdesten Elfmeterpfiffe gesehen, und wenn es keinen VAR gäbe, wäre das alles verständlich. Aber so, so ist das nicht hinnehmbar.
Gian Piero Gasperini, Trainer Atalanta Bergamo
Gasperini weiter: "Meine Spieler haben mir direkt danach vom Handspiel erzählt, doch ich habe es während des Spiels nicht wahrgenommen. Ich dachte, das wäre eines dieser typischen Handspiele, die in der gesamten Saison schon zu dem ein oder anderen absurden Elfmeterpfiff geführt haben. Aber das ist weitaus schlimmer, das ist ganz klar. Vielleicht hätten wir mit dem Elfmeter trotzdem nicht gewonnen, doch das ist wirklich schlimm zu sehen - denn in solch einem bis in die Schlussphase ausgeglichenen Spiel hätte ein Elfmeter entscheiden können. Und da fange ich noch nicht einmal damit an, dass Bastos bereits vor seinem Handspiel die Gelbe Karte gesehen hatte. Wir haben dieses Coppa-Finale vor 21.000 mitgereisten Fans gespielt - und dieser Vorfall zollt ihnen in keinster Weise Respekt. Wir haben die ganze Saison über die absurdesten Elfmeterpfiffe gesehen, und wenn es keinen VAR gäbe, wäre das alles verständlich. Aber so, so ist das nicht hinnehmbar."
"Ein Skandal!"
Wer nun vielleicht geglaubt hatte, Bergamos 61-jähriger Trainer würde sich nach der sich ziehenden Siegerehrung und eben diesem Gespräch beruhigen, der sah sich auf der Pressekonferenz getäuscht. Dort legte "Gasp" nach: "Das ist schockierend und beschämend gegenüber Atalanta. Das entzieht dem VAR komplett die Glaubwürdigkeit - und ist darüber hinaus ein schlechtes Zeichen für den italienischen Fußball. Das ist unbegreiflich, zumal mal wieder die gleichen Klubs am Ende gewinnen (Lazio wurde zum siebten Mal Pokal-Sieger; Anm.d.Red.). Sollen wir den VAR nur nutzen, wenn er in den Kram passt? Das ist ein Skandal! Erklärt mir, warum das passiert ist? Gebt mir eine Rechtfertigung, wenn ihr könnt? Ich will, dass die Leute aus der Box kommen und mir erklären, was sie gesehen haben! Die einzige Erklärung für mich ist, dass sie einen Blackout hatten und den Bildschirm nicht mehr sehen konnten. Entweder das, oder sie haben einfach ihre Augen geschlossen oder einfach in die andere Richtung geguckt."
Die Medaille für den zweiten Platz in der Coppa Italia behielt Gian Piero Gasperini nicht lange an. imago images
Sein Schlusswort: "Das verändert das Spiel komplett! Es wäre nach 25 Minuten elf gegen zehn gewesen - und ein Elfmeter. Ihr nehmt damit 21.000 Menschen auf die Schippe, ihr macht euch über sie alle lustig!"
Juve vor der Brust, Königsklasse im Kopf
Dass die Wut aber dennoch schnell verfliegen muss, versteht sich von selbst. In der Serie A stehen schließlich noch zwei Spieltage aus - und hier möchte Überraschungsklub Atalanta Bergamo zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte die Champions League erreichen. Die Vorzeichen dafür stehen gut: Vor dem Gastspiel bei Meister Juventus Turin am Sonntag (20.30 Uhr) rangieren die Lombarden mit dem besten Angriff der Liga (73 Tore) mit 65 Punkten auf dem vierten Rang. Dahinter lauern allerdings Milan (62), die Roma (62) um den am Saisonende weiterziehenden Kapitän Daniele de Rossi und Torino (60). Außerdem dürfte das Duell mit der Alten Dame kein Selbstläufer werden, schließlich war es Atalanta, das Juve im Pokal-Viertelfinale den Traum vom nächsten Double kostete (0:3). Die Bianconeri um Cristiano Ronaldo haben hier also noch ein Rechnung offen mit "Gasp" & Co.