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Deutsches Boxen versinkt in der Nische: Kampf gegen Windmühlen

Kabayel als größter Lichtblick

Kampf gegen Windmühlen: Das deutsche Boxen versinkt in der Nische

Lichtblick im deutschen Boxen: Agit Kabayel (li.) bringt Arslanbek Makhmudov zu Boden. 

Lichtblick im deutschen Boxen: Agit Kabayel (li.) bringt Arslanbek Makhmudov zu Boden.  Getty Images

Was sich auf den ersten Blick wie ein Aufruf zu einem Weg zur Selbsterkenntnis anhört, sind die deutlichen Worte von Horst-Peter Strickrodt: "Das deutsche Boxen muss sich von innen selbst erneuern!" Der sportliche Leiter des größten deutschen Boxstalls Agon muss es wissen, er ist seit Jahrzehnten in der Boxszene unterwegs. Und mit seinem Statement trifft der Agon-Boss genau ins Schwarze. Denn nach dem größten Hoch aller Zeiten und einer zwischenzeitlichen Krise scheint das deutsche Boxen wieder langsam, aber sicher auf dem Weg nach vorne zu sein. Die Betonung liegt allerdings auf langsam.

Zeitsprung zurück in die 90er Jahre. Über 18 Millionen Zuschauer hängen an den Fernsehgeräten bei RTL, wenn Henry Maskes Fights von seiner unnachahmlichen Aura umgeben sind. Der Box-Boom nimmt zu den Zeiten des "Gentleman" ungeahnte Höhen an und macht den zuvor etwas verruchten Sport salonfähig. Neben Maske kämpfen mit Sven Ottke, Graciano Rocchigiani, Dariusz Michalczewski und später auch Felix Sturm weitere große Stars mit Weltniveau auf deutschem Boden. Das Boxen zieht Zuschauer an wie noch nie und ist nach dem Fußball und der Formel 1 Sportart Nummer drei im Land. Eine scheinbar nicht endende Welle des Erfolges türmt sich auf. Deren Ende sieht zu diesem Zeitpunkt niemand.

Doch es scheint ein Zyklus des Lebens zu sein, dass auf das höchstmögliche Hoch ein Tief folgt. Nach dem Ende der noch erfolgreichen Klitschko-Ära steigt RTL endgültig aus dem Boxgeschäft aus. Da gleichzeitig auch sportlich für einige Jahre Qualität fehlt, findet sich kein wirklicher Nachfolger für die TV-Übertragungen. Heute läuft das deutsche Boxen vornehmlich in eher kleineren Livestreams. Bei der mittlerweile wieder vorhandenen sportlichen Qualität eigentlich unglaublich.

Olympia 1992: Die zweitbeste Box-Nation heißt Deutschland

"Während der großen Zeiten hat man sich einfach zu sehr auf dem Erfolg ausgeruht, vor allem im Amateurboxen", sagt Strickrodt. Nach der Wende kamen einige Weltklasse-Amateurboxer aus der DDR in den Westen, von denen das deutsche Boxen maximal profitierte. Im Amateurbereich wurde nie mehr ansatzweise das Niveau von 1992 erreicht, als Deutschland die zweitbeste Box-Nation bei den Olympischen Spielen war.

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Doch eine große Qualität im Amateurboxen ist notwendig, um später auch erfolgreiche Profis hervorbringen zu können. Fast jeder bekannte Profiboxer hat seine Meriten bei den Olympischen Spielen oder bei Amateurweltmeisterschaften gesammelt. Bisher hat sich allerdings kein deutscher Boxer für die in diesem Jahr in Paris stattfindenden Spiele qualifiziert. Strukturell hakt es gewaltig. Schon die so bekannten Klitschkos Wladimir und Vitali waren kein Produkt der deutschen Boxschmieden mehr, und der letzte Goldmedaillengewinner bei einem der großen Amateurturniere ist noch immer Jack Culcay mit seinem WM-Triumph 2009.

Lichtblick Kabayel - und kein Einzelfall

Immerhin: Trotz all dieser wenig positiven Schlagzeilen hat es das deutsche Profi-Boxen zuletzt geschafft, sich sportlich wieder etwas in den Vordergrund zu fighten. Der größte Lichtblick ist der Schwergewichts-Hüne Agit Kabayel. Vor großem Publikum bezwang der Mann aus Düsseldorf im Dezember Arslanbek Makhmudov in Riad und katapultierte sich damit in Reichweite eines WM-Kampfes in der Königsklasse. Eine der größten deutschen boxerischen Leistungen der vergangenen Jahre.

"Ich bin stolz, diesen Sieg nach Deutschland geholt zu haben", sagt Kabayel. Doch der Deutsche mit kurdischen Wurzeln ist kein Einzelfall. Mit Slawa Spomer, Michael Eifert, Vincenzo Gualtieri und Etinosa Oliha boxen weitere starke Athleten in der Weltspitze. Mit Veteran Culcay hat ein deutscher Boxer bereits im April wieder die Chance auf eine große Weltmeisterschaft im Superweltergewicht. Und auch im Frauenboxen gibt es mit Nina Meinke, Sarah Bormann und Tina Rupprecht aktuell gleich mehrere starke Vertreterinnen von Weltklasse-Format.

Die Besten müssen die Besten boxen, und die Boxställe müssen sich die Hand reichen, um dies möglich zu machen.

Agit Kabayel

Sportlich gesehen ist es um den Faustkampf hierzulande also gar nicht schlecht bestellt, doch das Problem ist: Außerhalb der Szene sind diese Boxer trotz ihrer Spitzenleistungen quasi unbekannt. Für sie ist es ein Kampf gegen Windmühlen, weshalb es Veränderungen braucht. Aus Sicht Kabayels könnten deutsch-deutsche Duelle helfen: "Die Besten müssen die Besten boxen, und die Boxställe müssen sich die Hand reichen, um dies möglich zu machen." Ähnlich sieht es Strickrodt: "Das deutsche Boxen muss in meinen Augen enger zusammenrücken, das Konkurrenzdenken muss weg."

In der Tat verfügt das Land über viele Boxställe mit Potenzial. Neben Agon bauen P2M und SES immer wieder gute Athleten auf. Auch der traditionellste Boxstall Universum ist noch im Geschäft. Ein Schulterschluss könnte eine große Kraft entfesseln. Denn um ein großes Publikum zu erreichen, ist eine gewisse Regelmäßigkeit von Veranstaltungen wichtig. Natürlich mit entsprechendem sportlichen Niveau. In Zusammenarbeit wäre dies gewiss möglich, der Sport wäre auch unabhängiger von einem TV-Sender, der bei einer solchen Präsenz womöglich gar nicht mehr Nein sagen könnte. "Das Boxen braucht Zukunft. Und diese Zukunft muss sich das Boxen selber bauen", beendet Strickrodt seine Ausführungen. Der Selbstfindungstrip des Faustkampfs hat gerade erst begonnen.

Dieser Artikel erschien erstmals in der Montagsausgabe des kicker am 19. Februar.

Roman Horschig

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