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Immer dieses Übergewicht: Iscos Zeitreise in Sevilla

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Immer dieses Übergewicht: Iscos Zeitreise in Sevilla

Auf in den zweiten Frühling: Isco.

Auf in den zweiten Frühling: Isco. IMAGO/Shutterstock

Wenn Marco Verratti ehrlich ist, erinnert er sich noch ganz genau. Wie ihm der Ball durch die Beine gespielt wurde. Wie er immer nur Iscos Hacken sah. Wie er einfach keinen Zugriff auf den Spanier bekam, der an diesem Abend nicht zu verteidigen war und beim 3:0-Sieg über Italien zwei Tore schoss.

Das war am 2. September 2017 und irgendwie die Verwirklichung dessen, was kein Geringerer als Iker Casillas zwei Jahre zuvor prophezeit hatte. Als der Rekordtorhüter behauptete, dass Isco einmal "Spaniens wichtigster Spieler" werde - so etwas musste er damit gemeint haben.

Für Isco macht Zidane eine Ausnahme

In diesem Moment war Francisco Roman Alarcon Suarez ganz oben. Bei Real Madrid hatte er dafür gesorgt, dass Trainer Zinedine Zidane, der ansonsten stoisch auf seinem 4-3-3 beharrte, plötzlich mit einem Zehner spielte. Cristiano Ronaldos Meister-Tor hatte Isco aufgelegt, der bei der ersten Titelverteidigung überhaupt auch im Finale der Champions League in der Startaufstellung stand. Er, und nicht 100-Millionen-Mann Gareth Bale.

Im Sommer 2013 waren beide - Isco für weniger als ein Drittel von Bales Ablöse - gemeinsam nach Madrid gekommen. Am 1. Spieltag debütierte nur Isco, der Real nach einem Rückstand gegen Betis per Vorlage und eigenem Treffer spät noch zum Sieg schoss. Ein Traum-Einstand. Das Siegtor erzielte der kleine Dribbler sogar per Kopf - was konnte dieser Mann eigentlich nicht?

Beim FC Valencia, dem sich der Edeltechniker bereits in der Jugend angeschlossen hatte, waren diese Fähigkeiten ursprünglich verkannt worden. Der Durchbruch bei "Los Che", wo er meistens nur in der zweiten Mannschaft zum Einsatz kam, wollte sich einfach nicht abzeichnen - sodass Team Isco rechtzeitig reagierte.

2011 schloss sich der damals 19-Jährige dem FC Malaga an, der dank Scheich Abdullah Bin Nasser Al Thani finanziell kurzzeitig ziemlich gut aufgestellt war. Zwischen weitaus prominenteren Einkäufen wie Julio Baptista oder Ruud van Nistelrooy war es allerdings das spanische Talent, das plötzlich die Sterne vom Himmel spielte. Der Stammplatz stand schnell außer Frage, die "Golden Boy"-Trophäe wenig später in Iscos Wohnzimmer. Da wuchs einer heran.

Madrid hat die Champions League lange nicht mehr gewonnen, und ich habe das Gefühl, dass es jetzt so weit sein wird.

Isco vor seinem Wechsel zu Real 2013

Am 22. Dezember 2012 führte der fast schon unverschämt ballsichere Rechtsfuß Malaga zum ersten Sieg über Real Madrid nach knapp 30 Jahren, was den Königlichen in Erinnerung blieb. Es folgte das Viertelfinale in der Champions League, inklusive bitterem Ausscheiden gegen Borussia Dortmund. Als Isco - gemeinsam mit Bayerns kommender Neuverpflichtung Thiago - die spanische U 21 im folgenden Sommer auch noch zum EM-Titel schoss, hatte Real genug gesehen. Isco wurde zum ersten Transfer unter Carlo Ancelotti.

"Ich erinnere mich, dass ich meinen Leuten gesagt habe: Madrid hat die Champions League lange nicht mehr gewonnen, und ich habe das Gefühl, dass es jetzt so weit sein wird", sollte der Mittelfeldmann neun Jahre später in seiner Abschiedsbotschaft schreiben. Und auf seinen Instinkt konnte sich der Instinktfußballer verlassen - mit fünf Torbeteiligungen in zwölf Einsätzen wurde Isco in seiner ersten Saison bei Real CL-Sieger.

Schon in dieser Zeit hatte er aber zu spüren bekommen, was in Madrid nicht erst ihm widerfahren ist: In der Regel bist du nur einer von vielen, und im nächsten Sommer setzen sie dir vielleicht den nächsten Einkauf vor die Nase. Und dann natürlich das ewige 4-3-3. In Iscos zweiter Saison wurde auch schon mal eine Ausnahme gemacht, allerdings für WM-Durchstarter James Rodriguez, der fast dreimal so teuer gewesen war.

Isco schürt Erwartungen, die er nicht erfüllt

Irgendwas war bei Isco immer. Andere teurer, berühmter, torgefährlicher; er selbst nicht schnell, effizient, durchtrainiert genug. Isco spielte viel, aber selten durch. Eingewechselt oder ausgewechselt, und nach den ersten beiden Jahren, in denen sich vorne natürlich alles um Cristiano Ronaldo und Bale drehte, wurden die Minuten immer weniger.

Bis in den Sommer 2017, als Isco, der gerade erst 25 wurde, seine persönliche Renaissance erlebte. Und das Champions-League-Finale, als essenzieller Balancespieler im 4-3-1-2, wieder auf dem Rasen. Elf Tore und neun Vorlagen in 42 Spielen für Real, fünf Tore in acht Länderspielen für Spanien. Als Isco Verratti dessen Berufswahl hinterfragen ließ, war er ganz oben. Casillas hatte Recht behalten.

Cristiano Ronaldo, Isco

Matchwinner in den Halbfinals 2017 gegen Atletico: Cristiano Ronaldo und Isco (re.). Getty Images

Aber hatte er das wirklich? Auf dem Platz, wo Isco meist mit kleinen Schritten glänzte, wurde von ihm nun ein großer erwartet. Jetzt war er richtig gut, aber konnte er auch so gut bleiben? In Vereins- und Nationalmannschaft standen Umbrüche bevor, die Zukunft bei Real Madrid und der Furia Roja schien durch Isco und Landsmann Marco Asensio bestens aufgestellt zu sein. Die Zeit der Rotationsspieler war gekommen - und nach diesem Sommer vor inzwischen fünf Jahren schnell wieder vorbei.

Durch den abnutzungsbedingten Formverlust seiner Vorgänger lastete der Druck wie ein Übergewicht auf Isco, dem in den Jahren nach Reals Champions-League-Hattrick auch immer wieder tatsächliches Übergewicht angelastet wurde. Auf den Isco, der im Sommer 2017 nicht zu verteidigen gewesen war, warteten die Königlichen lange vergeblich - und irgendwann nicht mehr. Dass das 4-3-3 mit Casemiro, Toni Kroos und Luka Modric in Stein gemeißelt und in der Angriffsreihe für diese Version von Isco kein Platz war, das hatte sich der Mann, der sich eigentlich im besten Fußballeralter befand, hauptsächlich selbst zuzuschreiben.

Den Hunger, der CR7 und Co. ausgezeichnet hatte, sah man dem Ballkünstler höchstens auf den Rippen an. Schier gleichgültig lehnte er während einer CL-Niederlage gegen ZSKA Moskau die Kapitänsbinde ab, die Pokal-Blamage gegen CD Alcoyano nahm er später ganz unverhohlen lachend zur Kenntnis. Zwar hatte Isco auf Vereinsebene alles erreicht, das hatte ihn aber auch genügsam werden lassen. Beim Champions-League-Sieg im vergangenen Sommer hatten Karim Benzema, Luka Modric oder Dani Carvajal noch einmal alles dafür getan, um die Zeit zurückzudrehen. Isco erlebte diesen Triumph nur noch als Randfigur.

Eine Länderspielkarriere auf dem Abstellgleis

Für gerade einmal 407 Saisonminuten hatte es noch gereicht für ein Fußball-Versprechen, das sein letztes von "nur" 38 Länderspielen 2019 machte und bei Real nur noch als angeblicher Maulwurf Schlagzeilen schrieb, der der Presse die königliche Startelf gesteckt haben soll. Seinen eigenen Namen musste er dabei nicht mehr nennen.

Dass sich "Marca" und Co. ab der Saison 2022/23 eine neue Quelle suchen mussten, war bereits frühzeitig klar gewesen - Real wollte Iscos Vertrag nach 353 Spielen, 53 Toren, 56 Vorlagen, drei Meisterschaften und fünf CL-Siegen nicht noch einmal verlängern. In der Gegenwart war die vermeintliche Zukunft zur Vergangenheit geworden.

Sevilla ist das beste Team, um wieder meinen Fußball zu zeigen.

Isco über seinen neuen Arbeitgeber

Diese will sich Isco mit einem Lächeln behalten. "Ich hatte bei dem Klub, der mir ermöglicht hat, dass ich all meine Träume erfüllen konnte, eine verdammt geile Zeit", rekapitulierte er vergangenen Sommer, den er größtenteils vereinslos verlebte - und sich über seinen ungewöhnlich langen Urlaub wunderte. Dann aber seien "viele Angebote" eingetrudelt. Unter anderem vom "besten Team, um wieder meinen Fußball zu zeigen".

Unter dem Lieblingstrainer in alter Rolle

Gemeint ist der FC Sevilla, wo der immer noch erst 30-Jährige erneut auf seinen Lieblingstrainer Julen Lopetegui trifft, unter dem er einst in der Nationalmannschaft glänzte - und unter dem er seine letzte gute Phase bei Real hatte. "Ich bin in der Blüte meines Lebens", versichert der Mann, der in der andalusischen Offensive mal über links kommt, auch schon als falsche Neun agierte, aber meistens zwischen und neben den anderen Angreifern in einer relativ freien Rolle spielt. Eine Rolle, wie es sie eigentlich kaum noch gibt, wie sie aber wunderbar zu Isco passt, der insofern also Recht hat.

Doch wird auch er dem gerecht, was sich sein kriselnder neuer Arbeitgeber (Platz 17 nach sieben Spieltagen) von ihm erhofft? Von Isco, der mit fünf CL-Titeln im Gepäck angereist ist? Immer dieses Übergewicht. Auf dem Papier steht, vom 1:1 bei Villarreal, erst eine Vorlage zu Buche, und der FC Sevilla vor dem Heimspiel gegen Borussia Dortmund heute Abend (20.45 Uhr, LIVE! bei kicker) punktgleich mit dem Dritten aus Kopenhagen nur auf Champions-League-Tabellenplatz vier.

Es gibt Leute, die scherzhaft behaupten, dass die Andalusier Jahr für Jahr in ihrer CL-Gruppe absichtlich Dritter werden, um anschließend in ihrem Lieblingswettbewerb Europa League zu triumphieren. Ein Szenario, das Sevilla bei Gegnern wie Manchester City und dem BVB selbst unfreiwillig blühen könnte - das Isco seine Zeitreise zurück in den Sommer 2017 aber erleichtern würde. Denn ein Blick in den Trophäenschrank verrät: Europapokale kann man auch in Andalusien gewinnen.

Niklas Baumgart

13 verschiedene Klubs, zwei deutsche: Alle Champions-League-Sieger seit 1993