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Markus Gisdol im Interview über seinen Türkei-Ansatz

Langjähriger Bundesliga-Coach im Interview

Gisdol spricht über Türkei-Ansatz: "Mehr Sachlichkeit, weniger Emotionalität"

Folgte dem "ganz besonderen Reiz" des türkischen Fußballs: Markus Gisdol.

Folgte dem "ganz besonderen Reiz" des türkischen Fußballs: Markus Gisdol. AFP via Getty Images

Auf dem 20. und damit letzten Tabellenplatz übernommen, hat Markus Gisdol Samsunspor mittlerweile auf Rang 18 geführt. Mit Kontakt zu den Nichtabstiegsplätzen. Am Samstag startet die türkische SüperLig in den zweiten Teil ihrer Saison, die nicht nur für positive Schlagzeilen sorgt.

Herr Gisdol, im türkischen Fußball herrscht große Aufregung und Unruhe. Gewalt gegen Unparteiische, der türkische Supercup zwischen Galatasaray und Fenerbahçe in Riad wurde nicht angepfiffen, auf den Rängen herrscht zuweilen große Gewalt. Frage Sie sich ab und zu, wo Sie da hineingeraten sind?

Diese Dinge will niemand sehen. Für Gewalt sollte in unserem Sport kein Platz sein, nirgendwo eigentlich. Der Verband hat entsprechend reagiert und Strafen ausgesprochen. Aber es ist natürlich schade, dass der türkische Fußball durch das Fehlverhalten Einzelner international für negative Schlagzeilen gesorgt hat. Dabei ist man sportlich auf einem richtig guten Weg. Alle Verantwortlichen sind sich einig, dass sich so etwas nicht wiederholen darf.

Beschäftigt das Sie oder Ihre Spieler oder Mannschaft in irgendeiner Weise?

Komplett fernhalten kannst du ein solch dominantes Thema natürlich nicht. Aber das Tagesgeschäft ist mittlerweile so rasant geworden, die Anzahl der Spiele ist immens, sodass wir alle mit dem Kopf bei den nächsten Aufgaben sind. Das ist auch unser Job.

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Wie erleben Sie diese Emotionen in Samsun?

Die Emotionalität ist grenzenlos. Es ist unglaublich, wie schnell die Zuschauer aus dem Häuschen sind, wie fantastisch sie uns unterstützen. Diese Emotionalität hat schon einen ganz besonderen Reiz. Mir wurde vieles darüber erzählt. Aber was hier in den Stadien los ist, hat schon noch ein ganz anders Niveau. Das war auch der Grund, warum ich die türkische Liga gerne mal selbst erleben wollte.

Am Samstag geht es für Sie und Samsunspor mit dem Kellerduell gegen das vor ihnen stehende Fatih Karagümrük weiter. Kommt so ein wichtiges Spiel zu einem unerwünschten Zeitpunkt so kurz nach der ebenfalls kurzen Winterpause?

Die Mannschaft hatte rund um den Jahreswechsel drei Tage frei. Das haben wir alle eigentlich nicht als Pause wahrgenommen. Das hat sich mehr wie ein Länderspielwochenende angefühlt. Man hat keine Zeit für eine größere Vorbereitung und versucht, schnell wieder in den normalen Rhythmus, in die gewohnten Mechanismen zu kommen.

Nach Fatih Karagümrük folgt das Duell mit dem großen Regional-Rivalen Trabzonspor, der auf Platz 3 liegt. Eine spezielle Partie wie HSV gegen St, Pauli oder BVB gegen Schalke. Gibt es dazu besondere Vorkehrungen?

Angesichts der Vorkommnisse der letzten Wochen, ist es gut und wichtig, dass sich alle Beteiligten im Vorfeld bemühen, die Emotionen nicht zu hoch schlagen zu lassen. Natürlich ist es für uns und den Klub ein besonderes, ein sehr wichtiges Spiel. Aber das gilt eigentlich für alle Partien. Deswegen wird keine besondere, extreme Ansprache notwendig sein. Im Gegenteil, vielleicht ist es eher notwendig, kühlen Kopf zu bewahren und das Spiel betont taktisch anzugehen.

In Deutschland spricht man bei solchen Tabellenkonstellationen von einem Bonusspiel.

Das ist hier nicht anders. Für uns sind alle Partien gegen die Top-Teams Bonusspiele. Da erwartet niemand etwas von uns, das sind Spiele mit kleiner Erwartungshaltung. Wir können und wollen nur positiv auf uns aufmerksam machen.

Samsun galt als erster Abstiegskandidat, hat sich unter Ihrer Führung allerdings bisher gut gehalten. Wie haben Sie die dennoch zuweilen überhöhten Erwartungen des Klubs und seines Umfelds im Zaum gehalten?

Der Präsident und der Manager haben alles dafür getan, damit ich diesen Job übernehme. Sie haben mich für die Aufgabe, für dieses Projekt wirklich begeistert. Ich stand in meiner Trainerlaufbahn schon vor anderen unmöglich scheinenden Herausforderungen - und habe es eigentlich immer geschafft, das gesteckte Ziel zu erreichen. Aber diese Aufgabe hier ist vielleicht noch einmal etwas größer. Als ich die Mannschaft mit nur einem Punkt aus sieben Spielen übernommen habe, war es vor allem nötig, neuen Willen, Glauben und neues Selbstvertrauen zu entwickeln.

Wo sehen Sie sich und Ihr Team auf dem Weg raus aus den Abstiegsplätzen?

Die ersten Schritte sind uns bisher gut gelungen. Wir haben den Anschluss geschafft an die Konkurrenz. 21 Spieltage stehen noch aus. Es wird noch ein weiter Weg. Wahrscheinlich wird es sogar bis zum letzten Spieltag dauern.

Was macht Sie optimistisch, dass Sie die Liga halten?

Wir haben eine gute Struktur im Team gefunden mit Spielern, die schnell adaptiert haben, was wir wollen. Wir haben die Spielweise umgestellt, spielen jetzt ein intensives Pressing, mit schnellem Umschaltspiel. Das alles hat die Mannschaft Stück für Stück dazu gebracht, wieder an sich zu glauben und auch Spiele gewinnen zu können.

Kann die aktuelle Ruhe rund um den Klub und die Mannschaft beim Klassenerhalt helfen?

Das kann sicher helfen. Der Präsident, der Manager und ich stehen in einem engen und regelmäßigen Austausch und versuchen, ein Stück weit eine neue Mentalität zu fördern. Etwas mehr Sachlichkeit und etwas weniger Emotionalität.

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Das Transferfenster hat jetzt geöffnet. Wie oft blicken Sie sehnsüchtig nach draußen, weil Sie nicht tätig werden dürfen?

Wir wussten natürlich, dass uns eine Transfersperre droht, hatten aber trotzdem den einen oder anderen Plan, was personelle Verstärkungen angeht. Jetzt ist die Sperre Realität und wir müssen ohne Verstärkungen auskommen. Aber es ist, wie es ist. Wir machen das Beste daraus und arbeiten mit den Spielern, die wir haben.

Das erschwert natürlich den Kampf um den Klassenerhalt.

Ich halte mich nicht damit auf. Es war so schon eine große Herausforderung, jetzt ist es vielleicht eine noch größere - diese Situationen kenne ich.

Ihr Vertrag läuft nur bis zum Sommer. Warum nur so kurz?

Ich unterschreibe in einer solchen Situation eigentlich immer nur bis zum nächsten Sommer. Ich möchte mir immer erst einmal alles in Ruhe anschauen. Danach kann man immer noch reden und entscheiden, ob und wie es weitergeht.

Wie würden Sie die türkische SüperLig einschätzen?

Jede Liga hat ihren eigenen Charakter. So ist es in der Türkei auch. Die Top-Teams spielen modernen Hochgeschwindigkeitsfußball. Das konnte man bei Galatasaray gegen den FC Bayern in der Champions League sehen. Und auch die türkische Nationalmannschaft spielt richtig guten Fußball.

Woher kommt’s?

In vielen Klubs wird sehr modern gearbeitet. Es sind viele Leistungszentren entstanden, in denen großer Wert auf die Jugendausbildung gelegt wird. Da entsteht etwas. Das ist unverkennbar.

Und die Liga insgesamt?

Natürlich herrscht bei 20 Mannschaften ein gewisses Gefälle. Aber es ist auffallend, dass es in jeder Mannschaft gute Individualisten gibt, die der Qualität der Liga guttun. Es gibt überall Topspieler, die auch in der Bundesliga spielen könnten. Da ist schon vieles entstanden. Das hat mich anfangs schon etwas überrascht.

Welche Rolle spielen die deutsch-türkischen Talente, die sich in der Heimat ihrer Eltern zum Profi entwickeln?

Es gibt einige davon. Sie sind besonders gefragt, weil sie eine gute Ausbildung mitbringen und obendrein dank ihrer Staatsbürgerschaft das Ausländerkontigent nicht belasten. Bei den türkischen Talenten, die aus den Akademien kommen, sieht man sofort, dass viele Straßenfußballer darunter sind. Das sieht man auch in der Nationalmannschaft. Es gibt eine Vielzahl an Top-Talenten. Wenn sie dann noch auf dem Niveau von Galatasaray oder Fenerbahce ausgebildet werden, entsteht etwas Besonderes. Der türkische Fußball hat wirklich viel Positives vor sich.

Oben ist es ein Zweikampf zwischen Fenerbahce und Galatasaray um den Titel. Was spricht für wen als Meister?

Das Duell der beiden steht in dieser Saison tatsächlich unentschieden. Zuletzt gab es zwischen den beiden im Istanbuler Derby eine Art Abnutzungskampf. Sie haben aus gegenseitigem Respekt irgendwie nicht 100 Prozent ihrer Qualität auf den Platz gebracht. Aktuell würde ich keine Prognose abgeben wollen, wer den Titel holt. Das wird eine ganz enge Sache.

Unten ist es ein Achtkampf gegen die vier Abstiegsplätze. Wie sehen Sie Ihre Chancen?

Mein Manager hat kürzlich zu mir gesagt: "Markus, die zweite Hälfte der Saison in der Türkei kann man mit der ersten nie vergleichen. Da wird es Überraschungen geben, Mannschaften, die noch unten reinrutschen, von denen man das nie erwarten würde. Da passieren völlig unerwartete Dinge." Ich glaube, es wird tatsächlich sehr eng und bis zum letzten Spieltag gehen.

Mit dem Klassenerhalt würden Sie sich bei Samsunspor in den Geschichtsbüchern verewigen. Die Fans von Besiktas und Fenerbahce verehren Christoph Daum. Wann werden Sie durch Samsun getragen?

Das wäre vielleicht eine schöne Rand-Geschichte. Für mich zählt aber einzig und allein, dass ich diese Mission hier erfülle. Was danach passiert, lasse ich dann mal auf mich zukommen.

Sehen wir Sie denn eines Tages nochmal in der Bundesliga?

Warum nicht? Ich kann mir das sicher vorstellen, den Großteil meiner Trainerlaufbahn habe ich dort verbracht. Aber momentan ist das aber kein Thema. Mein voller Fokus gilt immer der Aufgabe, der ich mich verschrieben habe. Und das ist aktuell Samsunspor.

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