Verschossene Elfmeter, zahlreiche Wendungen, Traumtore - und ein Außenseiter, der nie aufgab und ein dramatisches Elfmeterschießen: Dieses Spiel hatte so wirklich alles, was das Fußballherz begehrte - und am Ende auch die ganz große Überraschung.
Für eine erste kleine Überraschung hatte Frankreichs Trainer Didier Deschamps schon vor Anpfiff gesorgt. Er änderte sein Spielsystem und stellte von der in der Vorrunde praktizierten Viererkette auf Dreierkette um - auch aufgrund von Verletzungsproblemen in der Abwehr: Koundé und Digne fehlten verletzt, Hernandez saß leicht angeschlagen nur auf der Bank. Dafür übernahm Rabiot die linke Seite, auf rechts kehrte Pavard zurück. Außerdem brachte Deschamps im Vergleich zum 2:2 gegen Portugal in Lenglet (für Tolisso) einen dritten Innenverteidiger.
Die beiden Letztgenannten hatten allerdings ihre Aktien bei der frühen Führung für den krassen Außenseiter: Pavard ließ Zuber flanken, Lenglet verlor das Kopfballduell gegen Seferovic - und der ehemalige Frankfurter bezwang Lloris mit einem platzierten Aufsetzer ins linke Eck (15.).
Kaum Chancen vor der Pause: Frankreich fremdelt mit dem System
Der Treffer mit der ersten echten Gelegenheit spielte den Eidgenossen, die mit der gleichen Mannschaft antraten wie beim 3:1 gegen die Türkei, logischerweise in die Karten, das Team von Vladimir Petkovic verlegte sich nun auf konzentrierte Abwehrarbeit - und Frankreich fehlten die Ideen, die Equipe Tricolore schien mitunter auch mit der Systemumstellung zu fremdeln.
Distanzschüsse von Mbappé (26.) und Rabiot (28.) - viel mehr war trotz einiger im Ansatz stark gespielten Angriffe im ersten Durchgang nicht drin für den Weltmeister. Nati-Keeper Sommer war - auch dank der disziplinierten Vorstellung seiner Vorderleute gegen den Ball - kein einziges Mal ernsthaft gefordert.
EM-Achtelfinale
Lloris sorgt für die Initialzündung: Frankreich vom Abgrund zur Führung in vier Minuten
Deschamps reagierte auf die schwache Vorstellung seines Teams, brachte zur zweiten Hälfte Offensivspieler Coman für Innenverteidiger Lenglet und kehrte wieder zur Viererkette zurück - doch den ersten Wendepunkt der Partie musste der Torhüter liefern: Nach Foul von Pavard an Zuber und anschließendem VAR-Eingriff entschied Schiedsrichter Rapallini (Argentinien) auf Elfmeter für die Schweiz. Der Weltmeister stand am Abgrund - und lag keine fünf Minuten später vorne!
Der erste Wendepunkt - aber nicht der letzte: Hugo Lloris pariert den Elfmeter von Ricardo Rodriguez. Getty Images
Denn Keeper Lloris parierte den flachen Strafstoß von Rodriguez (55.) und sorgte damit für die Initialzündung der Equipe Tricolore, die plötzlich wie verwandelt auftrat und herrlich kombinierte: Mbappé vergab nach toller Vorarbeit von Pogba noch knapp (56.), dann zeigte Benzema am Ende eines schnellen Angriffs eine herausragende Ballmitnahme und vollendete frei vor Sommer zum 1:1 (57.).
Und nur wenige Augenblicke später tauchte Griezmann nach überragendem Doppelpass mit Mbappé erneut vor dem Schweizer Keeper auf. Der war am Heber-Versuch zwar noch dran, doch Benzema köpfte den Ball aus kürzester Distanz über die Linie - Doppelpack, Spiel gedreht (58.). Zwischen Lloris' Parade und Benzemas zweitem Treffer lagen gerade einmal vier Minuten und drei Sekunden.
Pogba trifft traumhaft - doch die Schweiz schlägt zurück!
Die Schweiz reagierte darauf sichtlich geschockt - und die nun befreit aufspielenden Franzosen legten eines der bislang schönsten Turniertore nach: Pogba nahm einen abgeblockten Benzema-Schuss auf und zirkelte die Kugel aus gut 20 Metern herrlich genau in den Winkel - ein Traumtor zum 3:1 (75.).
Die Entscheidung? Noch lange nicht. Gerade, als nichts mehr auf ein Schweizer Comeback hindeutete, fand der eingewechselte Wolfsburger Mbabu mit einer hohen Flanke Seferovic, der die zuvor schon mitunter dramatische Partie mit seinem zweiten Kopfballtor noch einmal so richtig spannend machte (81.). Plötzlich schwang das Momentum wieder komplett in Richtung der totgeglaubten Eidgenossen, die nun auf das dritte Tor spielten - und tatsächlich belohnt wurden: Der eingewechselte Gavranovic, der kurz zuvor bereits ein Abseitstor erzielt hatte, ließ nach starkem Xhaka-Zuspiel Kimpembe aussteigen und traf flach ins linke Eck - der Schweizer Block stand Kopf (90.).
Emotion pur: Die Schweiz feiert das 3:3 durch Mario Gavranovic (re.). Getty Images
Ein langer Abend zeichnete sich ab, hätte in einer wild geführten Nachspielzeit aber auch noch abgekürzt werden können: Auf der einen Seite ließ Mehmedi das 4:3 für die Schweiz liegen, im direkten Gegenzug knallte Coman den Ball fulminant an die Latte (90.+4). Erst danach ging es in die Verlängerung.
Sommer bringt die Schweiz ins Elfmeterschießen - und steigt dort zum Helden auf
Und echte Abkühlung gab auch die nicht her. Mehmedi hatte früh die erste Gelegenheit (93.), auf der Gegenseite parierte Sommer glänzend gegen Pavard (95.). Die Partie wogte hin und her, auch die Schweiz spielte keineswegs auf Elfmeterschießen, sondern munter nach vorne. Erst im zweiten Durchgang der Verlängerung machte sich der Kräfteverschleiß der Eidgenossen langsam bemerkbar und Mbappé (109./110.) und der eingewechselte Giroud (114.) hatten noch den Siegtreffer für den Weltmeister auf dem Fuß, Giroud zwang Sommer kurz vor Ende noch zu einer weiteren Flugeinlage (119.) - die EM 2020 bekam ihr erstes Elfmeterschießen.
Da ging es hochklassig weiter - zumindest aus Schützensicht. Die ersten neun Spieler verwandelten größtenteils sicher, einzig Vargas hatte bei seinem Versuch gegen Lloris etwas Glück. Das Drehbuch dieser unglaublichen Partie sah schließlich Mbappé als zehnten Schützen vor, der halbhoch nach links zielte. Sommers Arm schnellte glänzend nach oben - und der Rest war Ekstase pur vor dem Nati-Block: Der Top-Favorit der EM war ausgeschieden, die Schweiz sensationell im Viertelfinale. Dort trifft das Petkovic-Team nun am Freitag (18 Uhr) in St. Petersburg auf Spanien.