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Khvicha Kvaratskhelia, die anarchistische Brise mit Instinkt

kicker & DAZN - die Story

Erst unaussprechlich, dann unantastbar: Kvaratskhelia, die anarchistische Brise mit Instinkt

Die 77 trägt er aus einem bestimmten Grund: Khvicha Kvaratskhelia.

Die 77 trägt er aus einem bestimmten Grund: Khvicha Kvaratskhelia.

Als hätte Juventus Turin gerade nicht schon genug um die Ohren, musste der Klub vor einigen Wochen auch noch Schadenfreude aus Russland erdulden. Über die sozialen Medien erzählte Rubin Kasan also: "Juve - 2021 waren dir für ihn 20 Millionen zu viel!". Und falls irgendjemand im Piemont den Sarkasmus nicht verstanden hatte, pflasterten die Jungs aus Kasan noch eines dieser "Achtung, Schadenfreude"-Smilies mit ausgestreckter Zunge dazu.

Besagter "zu viel für ihn" auf dem Porträt-Foto war ein gewisser Khvicha Kvaratskhelia, Bild Nummer zwei illustrierte den Georgier bei einem seiner drei Scorer-Punkte, die zu Juves 1:5-Demontage im Januar beigetragen hatten. Vor drei Jahren hatte sich Kvaratskhelia für einen durchaus naheliegenden Wechsel die noblen Einrichtungen in Turin angeschaut. Doch kurz darauf wechselten im Piemont Strategie und Sportchef und der Georgier flog zurück nach Kasan.

Für Juventus war es einer dieser verteufelten Momente wie im Film "Sliding Doors", ähnlich wie 2018, als der Verein vom möglichen Kauf eines gewissen Erling Haaland Abstand nahm. Im Juve-Konditional lebt es sich derzeit überhaupt schlechter als in neapolitanischen Tatsachen. Kvaratskhelia ist derzeit das heißeste Ticket auf der linken Offensivbahn, und womöglich ist eine Prise Ironie deshalb gar nicht mal ordnungswidrig. Jedenfalls überbieten sich die europäischen Top-Klubs bereits in ihren Umgarnungsversuchen, auch wenn Napolis Patron Aurelio de Laurentiis dessen Unverkäuflichkeit so inständig beteuert, als stünde er vor Neapels Stadtheiligem San Gennaro. Der ist für jenes Wunder bekannt, sein getrocknetes Märtyrer-Blut in Ampullen flüssig werden zu lassen.

Ganz so weit ist Kvaratskhelia freilich noch nicht. Seine unaufhaltsame, unschuldige Freude am Spiel bringt das Blut der Tifosi seit Monaten aber immerhin auf gehörige Temperatur. Manchmal wirkt er dabei wie ein sorgloser Junge, dem es schnuppe ist, ob er gerade halb Liverpool oder Cremonese schwindelig spielt. Mit ungeschliffenem Instinkt und Eingebung ist er die frische anarchistische Brise gegen die moderne Maschinerie vorgestanzter Matchpläne.

Eher Panda als Ferrari? Auch in Neapel herrschte Skepsis

Der Klub vermeldete im April den Transfer zur neuen Saison und stach dabei Juventus und die Roma aus. Zehn Millionen Euro kostete der Georgier, das Gehalt beträgt 1,5 Millionen Euro netto pro Saison. In Zeiten pharaonischer Unsummen war es der Coup des Jahres und der "Corriere dello Sport" urteilte: "Kompliment an Sportdirektor Cristiano Giuntoli. Er hat einen Ferrari zum Preis eines Pandas gekauft."

Andernorts werden womöglich seit Wochen seufzenden Sportdirektoren die Ohren langgezogen, in Turin sowieso. Freilich bedeutete er ein, wenn auch günstiges, Risikogeschäft. Niemand ahnte, wie sich der damals 21-Jährige aus Tiflis im Fußball der Großen machen würde. Kasan und Batumi, also bitte. Dieser No-Name sollte den abgewanderten Capitano Lorenzo Insigne auf links ersetzen? Die Neapolitaner ätzten und die Presse stöhnte über die offenbar ohne Logik zusammengewürfelten 13 Konsonanten und sieben Vokale. Jetzt rauschen Woche für Woche bloß Vokale von der Tribüne des Stadio Diego Armando Maradona, wenn der Georgier zu seinen unbändigen Läufen ansetzt: Ahs und Ohs und der komische Kvara wer? ist plötzlich "Kvaradona", "Caravaggio" und der "azurblaue Engel".

Der Fußball hat ein kurzes Gedächtnis, und Neapel ist womöglich dessen Superlativ. Bereits im September meldete der Klub, alle Trikots mit der Nummer 77 seien ausverkauft. Es gibt freilich andere Quellen. Jüngst hob die Polizei in Neapel mal wieder ein illegales Nest aus, das "gefälschte Originale" nähte. Die meist produzierten Jerseys trugen die Namen von Kvaratskhelia und Victor Osimhen. Neben den 21 Pflichtspieltoren und vier Assists des Nigerianers notiert der Georgier 13 Treffer und 15 Vorlagen. Das mag der Produktion flinke Hände gemacht haben. Aus dem Unaussprechlichen wurde so ein Unantastbarer: Als ihm vor einigen Monaten sein Mini entwendet wurde, tauchte das Auto wenige Stunden später wieder auf. Napolis Heroen zu bestehlen? Geht mal gar nicht.

Ein Ex-Wolfsburger war übrigens beteiligt, die grenzenlose Euphorie zu ermöglichen. Cristian Zaccardo erstand nach Karriereende die offizielle Lizenz als Spieler-Vermittler und hielt sich zu Freundschafts-Besuchen oft in Georgien auf. Dort sichtete Zaccardo einen gewissen Khvicha Kvaratskhelia, auf die er einige Klubs in Europa aufmerksam machte - darunter Napoli. "Einige Vereine zeigten sich interessiert, doch Napoli verfolgte ihn intensiv seit zwei Jahren, und ich operierte als Vermittler zwischen der SSC und der Entourage des Spielers", erzählte Zaccardo dem kicker.

Warum Kvaratskhelia die 77 trägt

"Kvara" dribbelte sich damals für Rubin Kasan durch die russische Liga und Napoli hielt dennoch engen Kontakt zu Zaccardo und dem Umfeld des Youngsters. Die Wende ereignete sich im Zuge des Russland/Ukraine-Konflikts. Kvaratskhelia berichtete von Drohungen und Aggressionen in der Heimat gegen ihn und seine Familie, weil er in Russland spielte, und bat, den Verein verlassen zu dürfen. Ende März wechselte er deshalb zum georgischen Dinamo Butani - und Neapel handelte in Windeseile.

Volksheld in Georgien: Khvicha Kvaratskhelia.

Volksheld in Georgien: Khvicha Kvaratskhelia. Getty Images

Bereits in den drei Monaten vor dem Wechsel nach Italien galt der Rückkehrer in die Heimat als Attraktion. Selbst die Klubs, die normalerweise vor ein paar Hundert Zuschauern kickten, meldeten gegen Dinamo ausverkauft. In der Geburtsstadt Tiflis ziert ein Graffiti seines Konterfeis die Stadionmauer, in den Straßen hängt neben Diego Maradonas 10 Napolis Nummer 77 zum Verkauf. Man taufte ihn den Messi Georgiens, doch sein Idol heißt Cristiano Ronaldo - deshalb trägt er zwei Mal die 7 auf dem Rücken.

Dokumentarfilm in Arbeit

Der 22-Jährige wurde nun zum dritten Mal in Folge zu Georgiens Fußballer des Jahres gekürt und der laufende Hype veranlasste den georgischen Regisseur Gogi Toradze zu einem Dokumentarfilm, an dem er momentan arbeitet. "Wenn Napoli spielt, steht Tiflis still. Alle sind in Bars oder im Kino versammelt, wo die Spiele übertragen werden. Jeder kennt Trainer Spalletti oder den Presidente de Laurentiis, jeder hofft auf Neapels Meisterschaft und große Abende im Europapokal", verriet Toradze.

Champions League, Achtelfinale

Napolis letzten Scudetto kennt "Kvaradona" bloß von DVD. Er wurde 2001, elf Jahre später, geboren. Der Leiter der Jugend-Akademie von Dynamo Tiflis ist Spanier und kennt das mögliche Erfolgsgeheimnis. "Kvara spielt auf georgische Art - er macht sich keine großen Gedanken, wenn Dinge mal schlecht laufen, und denkt bei Fehlern nicht an mögliche Konsequenzen. Er ist ein bisschen Künstler, ein bisschen Anarcho", sagte Andrés Carrasco der Zeitung "Repubblica".

So wurde er zum Sinnbild des neuen Napoli, das mit seiner beinahe unverschämten Sorglosigkeit und Exzentrik frischen Wind durch die Serie A und Europa wehte. Ein wahrlich kolossaler Streifen des Film-Produzenten de Laurentiis.

Seit kurzem kursiert im Netz ein "Best of" von Kvaratskhelias Toren und Dribblings im Napoli-Trikot. Eine Symphonie, krachender als die Champions-League-Hymne. Und vielleicht tanzt Neapel zu diesen Klängen sogar erstmals in der Klubgeschichte ins Viertelfinale der Königsklasse.

Oliver Birkner