Nationalelf

Löws EM-Aufgebot in der Analyse: Ein Kader, der viel verspricht

Analyse

Ein Kader, der viel verspricht

Comeback in der Nationalelf: Joachim Löw holte Kevin Volland (li.) und Mats Hummels (re.) für die EM zurück.

Comeback in der Nationalelf: Joachim Löw holte Kevin Volland (li.) und Mats Hummels (re.) für die EM zurück. imago images (3)

Es ist eine schlüssige und verheißungsvolle Personalauswahl, die Joachim Löw mit seinem Trainerteam für sein letztes Turnier als Bundestrainer getroffen hat. Die 26 Spieler, die Deutschland bei der Europameisterschaft vertreten, wurden nach Leistungskriterien gefunden und für tauglich befunden.

Das Comeback der 2014er Weltmeister Mats Hummels und Thomas Müller war zu erwarten: Die ernüchternden Eindrücke, die seine führungslose Mannschaft gerade in der letzten Partie, der 1:2-Niederlage gegen Nordmazedonien, hinterließ, bestätigten Löw in seiner Idee, die schon damals zum Beschluss gereift war. Mit diesen Routiniers reimportiert der DFB-Chefcoach Erfahrung. Müller geht in München als eine Art Spielertrainer voran, Hummels dirigiert in Dortmund die Abwehr.

Es hätte die Integration befördert, Müller und Hummels schon im März zurückzuholen

Obwohl Löw beide für kommunikative und umgängliche Charaktere hält, hätte es den Integrationsprozess gewiss befördert, wenn er sie schon zu den drei Länderspielen im März dieses Jahres zurückgeholt hätte. Beide sollen zentrale Aufgaben übernehmen, mit ihrem internationalen Hintergrund auf die jüngeren Kollegen Selbstbewusstsein übertragen und in heiklen Momenten auf dem Platz vorbildlich Widerstand leisten.

Es ehrt den Bundestrainer, dass er im Sinne des angepeilten Erfolgs diese zwei im März 2019 aussortierten Spieler zurückholt. Die perspektivische Frage, wie es mit Hummels und Müller nach der EM sowie mit Blick auf die WM 2022 weitergehen wird, verdrängt das Selbstverständnis des Fußball-Landes Deutschland, das in jedem Turnier eine erfolgreiche Abschlussbilanz verlangt. Löw will sie zum Ausklang seiner 15-jährigen Tätigkeit als Bundestrainer liefern.

Reus' DFB-Karriere bleibt unvollendet - Draxler und Brandt strich Löw zu Recht

Marco Reus, ein anderer Akteur jenseits der 30er Altersgrenze, hat sich mit Löw darauf verständigt, auf dieses Turnier zu verzichten. Der Dortmunder Kapitän hätte in der jüngst wieder beachtlichen Form eine Bereicherung für die Offensive sein können. Seine Karriere in der Nationalmannschaft - 13 Tore in 44 Länderspielen - bleibt unvollendet. Die anderen unberücksichtigten Akteure aus der vermeintlichen Rubrik der Hochbegabten, Julian Draxler (Paris) und Julian Brandt (Dortmund), strich Löw zu Recht, auch wenn er sie mit Nettigkeiten zu trösten suchte. Aber wer im Verein austauschbar ist, kann in der DFB-Auswahl keine Planstelle beanspruchen.

Dieser Befund gilt genauso für Thilo Kehrer (Paris) und den Dortmunder Nico Schulz, dessen Job entlang der linken Bande der Freiburger Christian Günter (28) bekam. Der SC-Kapitän, der sein erstes und bisher letztes Länderspiel vor sieben Jahren erleben durfte, eingewechselt beim 0:0 gegen Polen, drängte sich noch auf die Schnelle in die deutsche Delegation, er ist ein wuchtiger, dynamischer, schussgewaltiger Außen-Seiter. Robin Gosens und Marcel Halstenberg sind zwei weitere Kräfte für die linke Seite.

Nach jetzigem Stand scheinen Hummels und Rüdiger erste Wahl

Lukas Klostermann ist der einzige originär rechte Außenverteidiger, allerdings sieht Löw dort auch Matthias Ginter, den eigentlichen Innenverteidiger, oder Emre Can, der als Sechser, Innen- wie Rechts-Links-Verteidiger brauchbar und damit der Mann für alle defensiven Fälle ist. Nach jetzigem Leistungsstand scheinen Hummels und Antonio Rüdiger im Abwehrzentrum erste Wahl. Niklas Süle wird sich anstrengen oder - wie gelegentlich beim FC Bayern - nach rechts außen ausweichen müssen. Womöglich hilft die Erinnerung an den WM-Triumph in Brasilien, wo Löw zunächst die vier Innenverteidiger Boateng-Mertesacker-Hummels-Höwedes losschickte. Was Höwedes in Brasilien links außen in der Viererkette dem Team gab, könnten nun Ginter oder Süle rechts außen leisten.

Das ist der EM-Kader der deutschen Nationalelf

Im Mittelfeld drängt sich edelste Qualität in üppiger Quantität. Dieser Bereich ist ein Prachtstück, während im Angriff viel Talent steckt, das nun seine Reife nachweisen muss. Leroy Sané und Timo Werner sind schnell unterwegs, aber oft zu fahrig. Ihnen fehlt genauso die Konstanz wie Serge Gnabry, der in Kai Havertz ein interessantes Pendant als hängende oder umtriebige Neun hat.

Vollands Rückkehr ergibt Sinn - Löws Bescheidenheit ist eine gute Basis

Einen typischen Mittelstürmer kann der deutsche Fußball weiterhin nicht aufbieten. Kevin Vollands Rückkehr nach viereinhalb Jahren Pause ergibt deshalb Sinn, weil der Linksfüßer Körperlichkeit und höchsten Einsatz einbringt, dazu in Monaco mit 16 Saisontoren für sich geworben hat und variabel einsetzbar ist. Acht Spieler des Champions-League-Gewinners 2020, FC Bayern, stärken den DFB-Kader, vier gehören zu Klubs, die das Finale 2021 bestreiten, Rüdiger, Havertz, Werner für Chelsea, Gündogan für Manchester City. Davon wird auch die Nationalmannschaft profitieren.

Löw verspricht höchste Leidenschaft und ein gutes Turnier, ohne sich auf ein konkretes Ziel festzulegen. Nach der komplett misslungenen WM 2018 und den extremen Schwankungen seither ist Bescheidenheit eine gute Basis für Besserung. Dieser EM-Kader 2021 verspricht in jedem Fall einiges.

Karlheinz Wild