Nationalelf

40 Jahre "Nacht von Sevilla": "So sollte Fußball sein"

Littbarski und Co. erinnern sich an die "Nacht von Sevilla"

"Dieses Spiel hatte alles. So sollte Fußball sein"

Mit 22 Jahren damals einer der Besten auf dem Platz: Pierre Littbarski.

Mit 22 Jahren damals einer der Besten auf dem Platz: Pierre Littbarski. imago images/Sportfoto Rudel

Im Sommer 1990, am 8. Juli, ist Pierre Littbarski Weltmeister geworden. Doch den 1:0-Sieg mit der deutschen Elf gegen Argentinien im römischen Olympiastadion nennt der frühere Kölner Nationalspieler nicht "das größte Spiel meiner gesamten Laufbahn". Dieses ereignete sich vielmehr vor 40 Jahren.

Am 8. Juli 1982 traf die Mannschaft von Bundestrainer Jupp Derwall im Halbfinale der WM in Spanien auf Frankreich. Was nach dem Anstoß im Estadio Ramon Sanchez Pizjuan geschah, ging als "Nacht von Sevilla" in die Fußball-Geschichte ein. In die deutsche und die französische sowieso, in die Historie der Weltmeisterschaften ebenso. Denn das erbitterte Ringen zweier Superschwergewichte musste mit dem ersten Elfmeterschießen bei einer WM überhaupt entschieden werden. Am Ende gewinnen es die Deutschen 5:4.

Nach der regulären Spielzeit hatte es 1:1 gestanden, nach der der Verlängerung 3:3. Zwischenstände lauteten 1:0 für Deutschland und 3:1 für Frankreich, was ein Drama schon erahnen lässt, doch alleine nichts aussagt über die tatsächliche Wucht von Triumph und Tragödie nach mehr als 120 Minuten. "Uns ist der Himmel auf den Kopf gefallen". So fasste es Frankreichs Nationaltrainer Michel Hidalgo zusammen.

Mehr als Schumacher und Battiston

"Dieses Spiel hatte alles. So sollte Fußball sein", schwärmt "Litti", Schütze des 1:0-Führungstreffers, als er am Mittwoch bei der Eröffnung der "Nacht von Sevilla" im Deutschen Fußballmuseum in Dortmund auf der Bühne sitzt. Eine Sonderausstellung dort trägt diesen mythischen Namen. Museumsdirektor Manuel Neukirchner hat aus O-Tönen, Zitaten und Zeitungszeilen ein Theaterstück in fünf Akten darüber geschrieben, das soeben als reich bebildertes Buch bei Delius Klasing erschienen ist.

Toni Schumacher und Patrick Battiston

"Schumacher hat gemacht, was man von einem Torwart damals erwartet hat"

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"Jahrhundertspiel" nennt Littbarski die Begegnung, die "1000 Sachen mehr zu bieten hatte neben Battiston". BA-TTIS-TON. Wer diesen Namen liest, muss unwillkürlich SCHU-MA-CHER mitdenken. Die 57. Spielminute läuft, als Michel Platini, der große Taktgeber im Herzen der Equipe Tricolore, Patrick Battiston hinter die Linien vor Toni Schumacher schickt. Der Torhüter eilt heraus, es folgt ein fürchterlicher Zusammenstoß, der die Augenzeugen um das Leben des Franzosen bangen lässt, während der regungslos auf dem Rasen liegt. Im Stadion gibt es 1982 nicht die heute gewöhnliche Vielzahl an Kameras und Einstellungen, um ein zweifelsfreies und abschließendes Urteil fällen zu können über diesen Vorfall. Oder gar ein umgehendes.

Das Wichtigste war, dass Patrick gesagt hat: 'Ich glaube dir.'

Toni Schumacher

Feststeht: Weder der niederländische Schiedsrichter Charles Corver noch seine Assistenten erkennen ein Foulspiel. Was eine Fehlentscheidung bedeutet. Schumacher wird nicht des Feldes verwiesen. Glaubhaft kann er seit 40 Jahren versichern: "Es war keine Absicht." Und er erhält dabei Unterstützung, wie die von Paul Breitner: "Schumacher hat in dieser Situation getan, was ein Torhüter tun muss." Er würde es wieder tun. Wieder versuchen, vor dem Angreifer an den Ball zu kommen. Oder zumindest, ihn von einer kontrollierten Ballaktion abzuhalten.

Als es im Museum um diese Szene geht, und der Torwart sie ein weiteres Mal anschaut, ist er erkennbar und nach eigener Aussage "mitgenommen". Was Schumacher weiter sagt, würden alle aus dem 1982er WM-Aufgebot unterschreiben, die an diesem Abend noch viele Autogramme geben: Breitner, Littbarski, Felix Magath, Hansi Müller, Manfred Kaltz, Uli Stielike, Klaus Fischer, Wilfried Hannes: "Das Wichtigste war, dass Patrick gesagt hat, ich glaube dir."

Battiston erlitt eine Gehirnerschütterung, eine Halswirbelverletzung, verlor vier Zähne. Dass Schumacher in den Minuten nach dem Zusammenprall aus Verlegenheit und Unsicherheit, ebenso in Ungewissheit über die unmittelbaren Folgen für den Gegenspieler, in seinem Kasten Distanz zum "Tatort" hielt, wurde ihm lange sehr vorwurfsvoll ausgelegt. Mit zeitlichem Abstand kann man die Umstände heute emotionsloser einordnen. Schumacher, dem vermeintlich harten Hund, gebührt Respekt dafür, dass er wiederholt gestand: "Ich war in dem Moment auch feige."

Paul Breitner, Pierre Littbarski

40 Jahre nach der WM 1982 fachsimpelten auch Paul Breitner und Pierre Littbarski (re.) über die legendäre "Nacht von Sevilla". IMAGO/Eibner

Die 1001. Sache - um Littbarskis Worte aufzugreifen - drohte im Zusammenhang mit dem Ausgang des Spiels vorübergehend die deutsch-französischen Beziehungen zu gefährden. Der französische Torschütze zum 2:1, Marius Tresor, machte soeben im Interview mit dem kicker (Donnerstag-Ausgabe) deutlich, wie sehr diese Niederlage noch heute schmerzt, wie heftig auf ewig die Vorwürfe gegen Schiedsrichter Corver sind.

"Das deutsche Monster hat zu lange überlebt"

Zu den aufgeregten Pressestimmen in den Tagen danach zählt diese von einem Reporter der "Liberation": "Dieses wilde Tier, das der deutsche Fußball ist, verdiente es, im eigenen Urin ertränkt zu werden! Das deutsche Monster hat zu lange überlebt". Karl-Heinz Heimann ist für den kicker vor Ort, beschreibt den Bewegungsablauf detailliert und urteilt: "Es gehört schon Absicht dazu, um aus dem Ablauf einen bösen Vorsatz Schumachers, Battiston verletzen zu wollen, zu konstruieren." In einer folgenden Ausgabe geht Rainer Kalb im kicker mit dem Verhalten Schumachers kritisch ins Gericht.

Der Schauspieler Peter Lohmeyer, Hauptdarsteller im Film "Das Wunder von Bern", liest im Fußballmuseum Teile von Neukirchners Werk auf beeindruckende Weise vor, Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein führt die leichtherzigen Gespräche mit den Vizeweltmeistern. Unter den Zuhörern weilen die Schalker Kremers-Zwillinge Erwin und Helmut, der frühere Dortmunder und Kölner Manager Michael Meier, Ex-BVB-Trainer Bert van Marwijk sowie der viele Jahre in Frankreich aktive deutsche Spieler und Trainer Gernot Rohr.

Selbstverständlich feiern sie mit der "Nacht von Sevilla" auch das Tor des Abends. Sein famoser Fallrückzieher-Treffer zum 3:3 ist für Klaus Fischer "das wichtigste Tor meiner Karriere". Als "Jahrhunderttor" gilt sein auf die gleiche Weise gelungenes Kunststück 1977 gegen die Schweiz.

Klaus Fischer trifft per Fallrückzieher

Wichtiger als sein "Jahrhunderttor": Fallrückzieher-Spezialist Klaus Fischer, der das 3:3 erzielte. imago sportfotodienst

Magath hätte sich getröstet

Es gibt auch leisere Töne. Wie die von Felix Magath. "Das war nicht dein Spiel heute", hätte der Trainer Magath über den Mittelfeldmann Magath anschließend in der Kabine gesagt - sowie die von Uli Stielike, dessen Elfmeter Jean-Luc Ettori parierte. "28 Sekunden sind es vom Mittelkreis bis zum Elfmeterpunkt. Ich habe die Zeit noch einmal gestoppt", erläuterte der Ex-Gladbacher dem erstaunten Publikum. 28 Sekunden - lange genug, um einen vermeintlich sicheren Elfmeterschützen von Real Madrid von seinem ursprünglichen Plan der Exekution abzubringen. "Wenn der Torhüter in den Kopf des Schützen kommt, wird es für den schwer", sagen der damals unglückliche Stielike und Schumacher unisono. Schumacher wehrte den Versuch von Didier Six ab, weil Hansi Müller ihm die bevorzugte Ecke seines früheren Stuttgarter Mitspielers angegeben hatte. Anschließend scheiterte auch Maxime Bossis am deutschen Schlussmann.

Breitner und Kaltz hingegen können 40 Jahre danach selbstbewusst referieren, mit welcher Selbstverständlichkeit ein Profi Elfmeter verwandelt, wenn er nur cool genug ist. Hrubesch "machte" den entscheidenden der "Nacht von Sevilla" ohne Tamtam. Er nahm die Kugel einfach so, wie sie der Referee auf den Punkt gelegt hatte.

Wenn wir noch zehn, zwanzig Minuten haben, gewinnen wir 4:3 oder vielleicht 5:3.

Paul Breitner

Breitner, über den Schumacher wertschätzend sagt, "Er hatte schon immer eine kalte Schnauze", erklärt ohnehin mit verblüffender Klarheit, dass dieses Drama gar nicht anders enden konnte als mit dem Sieg der Deutschen. Als die Kräfte der Hochbegabten um Platini bereits schwanden, kam mit dem 2:3-Anschlusstreffer des eingewechselten Karl-Heinz Rummenigge noch die Angst hinzu. Die spezielle psychische Disposition des Spielverlaufs sprach für Derwalls Truppe. "Wenn wir noch zehn, zwanzig Minuten haben, gewinnen wir 4:3 oder vielleicht 5:3. Ohne Elfmeterschießen." Davon ist Breitner felsenfest überzeugt.

Es gibt viel Applaus bei der lebendigen Erinnerung an die "Nacht von Sevilla". Spontan am heftigsten brandet er im Publikum auf, als Littbarski, damals der Youngster, sagt: "Es waren viele schwierige Charaktere in der Mannschaft, die sich nicht mit wenig zufrieden geben wollten, die von den Kollegen Höchstleistungen erwarteten. Persönlichkeiten, von denen ich mir heute mehr wünschen würde."

Jörg Jakob

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