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kicker-Serie "Kids in der Krise": Die Vergessenen

kicker-Serie: Kids in der Krise

Die Vergessenen

Kids in der Krise - die neue Serie im kicker.

Kids in der Krise - die neue Serie im kicker. AdobeStock/kicker

Fünf junge Menschen aus Berlin erkennen die gewaltigen Schwierigkeiten, die da auf uns zukommen, ganz früh. Sie machen sich sofort an die Arbeit und verlieren keine Zeit. Schon im Mai 2020 geht krisenchat.de an den Start, ein neuer Service für junge Leute mit einer simplen und doch effektiven Idee: Wer unter 25 ist, ein Problem hat, in der Klemme steckt oder mit der Corona-Krise nicht klarkommt, der kann an diesen kostenlosen Dienst eine WhatsApp schicken. Er oder sie muss mit keinem reden, eine Nachricht reicht. Diese wird von einer ehrenamtlichen Beraterin oder einem Berater beantwortet. Ein Dialog entsteht. Es wird geholfen. Und wenn das nicht reicht, wenn die Probleme tiefer liegen, wird das Mädchen oder der Junge an einen Profi vermittelt.

Zehn Monate später wird deutlich, wie hoch der Bedarf an Hilfe ist: Über 1 Million Nachrichten sind bei krisenchat.de eingegangen. "Die Kids sitzen im Lockdown daheim, haben viele Fragen, viele Probleme, weil zu Hause krass viel Druck entsteht, wenn alle auf engem Raum zusammen sind", erklärt Kai Lanz. Er ist einer der fünf Köpfe hinter dem Projekt. Die Zahl der monatlichen Beratungen ist bis auf 5000 im Februar gestiegen, 200 Berater sind aktiv. Gerade der zweite Lockdown im Winter hat die Lage dramatisch verschärft. "Wir haben sehr viele extreme Fälle", berichtet Lanz, "Suizidgedanken, sexuelle Gewalt, Kindesmissbrauch. Für viele sind wir die erste Anlaufstelle, weil wir rund um die Uhr erreichbar sind." Das ist wichtig: Die Hälfte der Nachrichten geht zwischen 20 und 2 Uhr ein.

Das Team von krisenchat.de mit Kai Lanz (hinten) ist die erste Anlaufstelle für viele Kids.

Das Team von krisenchat.de mit Kai Lanz (hinten) ist die erste Anlaufstelle für viele Kids. krisenchat.de

Physische und psychische Auswirkungen

Die Corona-Krise ist auch die Krise der Kids. Immer mehr Mediziner und Forscher warnen davor, dass das, was jungen Menschen seit nun schon einem Jahr zugemutet wird, bei aller Vorsicht zu weit geht. Laut einer Studie des Uniklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt fast jedes dritte Kind in Deutschland psychische Auffälligkeiten. 71 Prozent fühlen sich durch die Kontaktbeschränkungen belastet. Sorgen und Ängste hätten zugenommen, auch depressive Symptome und psychosomatische Beschwerden wie Kopf- oder Bauchschmerzen seien verstärkt zu beobachten, erklärt die Leiterin der Studie, Ulrike Ravens-Sieberer. Vor der Pandemie war jedes fünfte Kind psychisch belastet. Im Dezember und Januar nahmen mehr als 1000 Kinder und Jugendliche und mehr als 1600 Eltern an der Befragung teil. Die Ernährung sei ungesünder, der Konsum von Süßigkeiten habe zugenommen, berichtet die Forscherin. Viele Kinder würden keinen Sport mehr treiben.

Und da ist er, der Sport. So wichtig für viele und vieles, für Gesundheit, Sozialverhalten und Psyche, doch seit Monaten außen vor, zumindest in der Gemeinschaft. "Sport spielt bei der Lösung der Probleme einen essenziellen Part", betont Kai Lanz, der Krisen-Chatter, "für den Stressausgleich ist er ganz wichtig. Er würde definitiv einen großen Teil dazu beitragen, dass die Jugendlichen wieder emotional ausgeglichener sind." Doch der Weg zurück, gerade in die Vereine, ist schwierig. Nur wenn die Inzidenz vor Ort stimmt, ist die Wiederaufnahme eines Trainingsbetriebes erlaubt. Wenn die Stadt oder die Gemeinde ihre Plätze freigegeben hat. Wenn der Klub sein Hygienekonzept überarbeitet hat. Wenn der Trainer bereit ist anzufangen und die Eltern es auch sind. Wenn die Inzidenz bis zum nächsten Training nicht doch wieder an drei aufeinanderfolgenden Tagen über 50 gestiegen ist. Dann bleiben die Kids ab 14 zu Hause. Ist sie an drei Tagen über 100, geht die Ampel für alle wieder auf Rot.

"Ohne Perspektive keine neuen Kinder im Verein"

In Kinderarztpraxen und bei Psychologen, aber auch bei Vereinen und Verbänden beobachten viele die Entwicklung zunehmend kopfschüttelnd. Wie soll das alles weitergehen? Wie viel Sport treiben die Kids nach der langen Pause noch? Oder haben sie den Bezug längst verloren, was ihre Probleme nur verschärfen würde? Eine Zahl, die der Bayerische Fußball-Verband ermittelt hat, zeigt die erste Stufe des Dilemmas auf. In der bisher sehr kurzen Saison 2020/21 waren 30.157 F-Jugendliche gemeldet. Ein Jahr zuvor waren es noch 33.060. Dieser Rückgang von 8,8 Prozent ist alarmierend, denn normalerweise ist die F-Jugend der Bereich, in dem die Mädchen und die Jungs in die Klubs strömen. "Ohne Perspektive keine neuen Kinder im Verein", fasst Verbands-Jugendleiter Florian Weißmann zusammen. Deshalb will er mit seinem Team im September am Weltkindertag Aktionen in Kindergärten und Schulen veranstalten. Die Kids sollen den Spaß am Spiel wiederentdecken. Der Landessportbund Hessen wiederum vermeldet, dass im vergangenen Jahr 58 Prozent seiner 7600 Vereine geschrumpft und 69.000 Mitglieder ausgetreten seien. 63 Prozent der Mitgliederverluste fallen auf Kinder und Jugendliche. Präsident Rolf Müller erklärt: "Angesichts der anhaltenden Einschränkungen befürchten wir, dass sich diese Entwicklung bis Ende 2021 sogar noch verschärfen wird. Die derzeitige Perspektivlosigkeit zehrt. Es besteht eine große Gefahr, dass uns eine ganze Generation verloren geht."

Kurswechsel angestrebt

Ein gängiges Bild in der Corona-Krise.

Ein gängiges Bild in der Corona-Krise. imago images

Ansgar Thiel ist Professor am Institut für Sportwissenschaften der Uni Tübingen. Er hat mit seinem Team gesucht und recherchiert, was Corona mit den Kindern macht. "Die Bedeutung des Sports wird nicht gesehen", bemängelt er und fordert einen Kurswechsel. Bewegungsmangel führt auf Dauer zu Krankheiten mit vielen Symptomen, die niemand gut finden kann.

Einen solchen Kurswechsel strebt auch der DFB an. Er versucht, mit Kampagnen und Umfragen für die Wiederbelebung des Amateursports zu kämpfen. "Die Menschen wollen nicht länger eingesperrt sein", sagt Vizepräsident Rainer Koch. DFB-Boss Fritz Keller fügt hinzu: "Fußball, an der frischen Luft gespielt, trägt wenig zu Infektionen bei, das wissen wir." Er versichert: "Wir können wieder auf den Platz." Die Hygienekonzepte haben schon 2020 funktioniert, die Menschen in den Klubs sind klug und verantwortungsvoll genug, um sie mit den Mitgliedern, auch den jungen, umzusetzen. Doch der harte, allein auf Inzidenzwerte ausgelegte Kurs der Politik steht dem im Weg, was viele Menschen im Land verstehen, andere nicht, andere nicht mehr. Deutschlands höchste Fußballfunktionäre werben für eine Art Grundsatzvertrauen - wenn sich auf dem Platz nachweislich keiner ansteckt, wie Studien besagen, warum sollen gesunde Kinder dann nicht gemeinsam trainieren? -, doch die Politik anzweifeln oder gar angreifen wollen Keller und Koch nicht. Koch betont nur vorsichtig: "Die Inzidenz ist nicht die einzige Währung, auf die es ankommt." Keller bietet an, dass der Verband beim Testen der jungen Leute helfen könnte, was wiederum auch die Schulen unterstützen würde.

Zurück auf dem Platz

Wer in Regionen, in denen das Virus nicht alles beherrscht, das Glück hatte, nach knapp fünf Monaten Sportdown mit einem Nachwuchsteam wieder auf den Platz zu dürfen, der sah berührende Bilder. Auch wenn die Kids nur mit Abstand üben, ohne feurige Zweikämpfe und das geliebte Abschlussspiel, so waren sie unglaublich happy. Endlich wieder Fußball! Endlich wieder draußen! Endlich wieder Freunde! Endlich wieder ein Highlight am Tag, wenigstens eins! Die Netzwerke und Messengergruppen sind seitdem voll von Bildern, Videos und Wir-sind-zurück-Botschaften mit Herzchensmileys. Für die Kids sind zwei Stunden im Verein eine physische wie psychische Wohltat. Für die müden Eltern ebenso. Die Hygienekonzepte sorgen dafür, dass sich alle am Platz sicher fühlen. Wenn Menschen sich vertrauen, können sie vieles schaffen.

Es könnte vielen Herausforderungen guttun, wenn man junge Leute herbeiziehen würde und ihnen nicht nur von oben sagt, was gut für sie ist.

Kai Lanz (19)

Die Politik sieht den Sport trotzdem weiter kritisch. Kai Lanz ärgert es generell, dass in allen brisanten Fragen dieser Zeit Erwachsene über Jugendliche hinweg entscheiden. "Es könnte vielen Herausforderungen guttun, wenn man junge Leute herbeiziehen würde und ihnen nicht nur von oben sagt, was gut für sie ist", erklärt er. Der 19-Jährige, selber Hobbyfußballer, redet ruhig, klug und überlegt, trotzdem brodelt es in ihm, weil er merkt, dass das Ausmaß dieser Krise, Kids in der Krise, von vielen nicht erkannt wird. Deshalb sagt er es am Ende drastisch: "Kinder und Jugendliche nehmen sich wegen dieser Situation das Leben!" Man kann das "Verdammt" heraushören, das er am liebsten lauthals nachschieben würde.

Es wird Zeit, den Vergessenen Beachtung zu schenken. Da geht es um viel mehr als nur um Sport. Sport wiederum kann Teil der Lösung sein. Auch er kann: helfen.

Lesen Sie in der aktuellen Montagausgabe des kicker Teil zwei der Serie "Kids in der Krise". Was macht die Corona-Zeit mit dem Nachwuchs? Wir haben Jugendliche, Eltern, Trainer und Vereine gefragt. Teil drei (Die jungen Erwachsenen: Wenn ein Virus alle Träume gefährdet) erscheint am Dienstag nach Ostern.

Bernd Salamon