Champions League

Wie die Karriere von Sebastien Haller wieder Schwung aufnahm

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Chamäleon ohne Bordeaux: Wie Hallers Karriere wieder Schwung aufnahm

Nebengeräusche, öffentliches Nachtreten oder gar Lachen auf dem Platz? Nichts davon ein Fall für Sebastien Haller.

Nebengeräusche, öffentliches Nachtreten oder gar Lachen auf dem Platz? Nichts davon ein Fall für Sebastien Haller. imago images/kicker

Wenn Fußballklubs ihre teuren, neuen Stürmer in Transfermitteilungen anpreisen, darf ein Wort nicht fehlen: "schnell". Ohne geht es nicht. Ein "schneller Flügelspieler mit Zug zum Tor" wird da beworben oder ein "Mittelstürmer mit hoher Grundschnelligkeit".

Nun führte vor den Achtelfinal-Rückspielen der Champions League jemand die Torjägerliste an, der vor Kurzem im "Guardian" sagte: "Für mich ist es schwierig, Verteidiger zu überholen." Und: "Ich habe meine Mutter gefragt, ob sie mir etwas Speed vererbt, aber sie konnte nicht."

Wie kann gerade dieser Mann einer der besten Stürmer der Königsklasse sein? Dieser Sebastien Haller, den West Ham United nach nur anderthalb Jahren mit 27,5 Millionen Euro Verlust gehen ließ? Er, der ewig und vergeblich auf einen Anruf des französischen Nationaltrainers wartete?

Zehn Tore? Es hätten 13, 14, 15 sein sollen.

Sebastien Haller

"Ich habe den Eindruck, dass mich diese Königsklasse beflügelt", sagte Haller kürzlich im kicker-Interview (nachzulesen im Sonderheft "Die K.-o.-Runde"). "Ich habe auf diesen Moment lange gewartet."

Mit 27 Jahren nimmt er zum ersten Mal an der Champions League teil. Und verhält sich so, als hätte er nie etwas anderes getan. Viermal mit dem linken Fuß, dreimal mit dem rechten, dreimal per Kopf und einmal, beim 2:0-Sieg über Besiktas, mit dem rechten Oberschenkel. Macht elf Tore in nur sieben Spielen. So liest sich die Statistik eines kompletten Stürmers. Oder?

Der Weg des Sebastien Haller: Früher "unförmig", jetzt "Ballermann"

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"Gegen Besiktas habe ich zum Beispiel drei Kopfballchancen vergeben", sagte Haller dem "Guardian". "Ich bin ein Perfektionist. Ich denke nicht: 'Oh, wow, ich habe zehnmal getroffen.' Ich denke: 'Es hätten 13, 14, 15 sein sollen.'"

"10.000 Jungs mit mehr Talent" - aber Haller schafft es

Seinen stets auffällig verhaltenen Tor-"Jubel" erklärt das allerdings nicht. "Fragen Sie jeden - ich lache abseits des Platzes viel", sagt Haller. "Aber auf dem Platz kann es ablenken. Du musst fokussiert bleiben."

Aufgewachsen in einem Vorort südöstlich von Paris, musste Haller sich früh auf zwei Arten behaupten: in einer Patchwork-Familie mit fünf älteren Geschwistern - und auf den sandigen Steinplätzen der Hauptstadt. Seine Idole: Henry, Ibrahimovic, Drogba. Und auch wenn laut eigener Aussage "10.000 Jungs mit mehr Talent" auf diesen Bolzplätzen herumliefen, schaffte er es wie Pogba, Kanté und Mahrez von dort in den Profifußball: "Die Entscheidungen, die du triffst, machen den Unterschied."

Beim Zweitligisten AJ Auxerre geriet seine Karriere 2014 ins Stocken, sein Trainer legte ihm einen Wechsel in die 3. Liga ans Herz. Der 20 Jahre alte Haller entschied sich anders. Im niederländischen Utrecht startete er unter einem Trainer namens Erik ten Hag durch, schoss 30 Tore in 65 Spielen. Nach zwei Jahren zahlte Eintracht Frankfurt sieben Millionen Euro für ihn, die bis dahin höchste Summe der Vereinsgeschichte.

Eine vergebene Chance, die nachwirkt

Am Mainufer machte sich der schlaksige, manchmal etwas staksig wirkende Stürmer schnell Freunde. "Haller ist so ähnlich wie früher Yeboah", sagte Bundesliga-Rekordspieler und Klubikone Karl-Heinz Körbel schon nach wenigen Wochen, "das ist einer, den du nicht so leicht wegblasen kannst. Wenn du dem in die Wade trittst, merkt der das gar nicht."

Offensiv und spürbar auch defensiv steigerte sich Haller, in beiden Bundesliga-Saisons als Adlerträger bestritt er je mehr als 500 Zweikämpfe. 2017/18 die zweitmeisten hinter Caiuby, 2018/19 ligaweit die meisten. Ein Ackerer eben, ein Arbeiter? Dazu später mehr.

"Ich wollte einfach eine neue Herausforderung annehmen", sagte Haller im Interview des kicker-Sonderhefts, als er auf den Sommer 2019 zurückblickte. "Ich vermisse die Eintracht nicht, aber die Erinnerungen, die ich in mir habe, bleiben für die Ewigkeit. Ich bin der Eintracht für immer dankbar."

Rebic, Jovic, Haller

Angriffstrio der Vergangenheit: Rebic, Jovic, Haller (v. li.). imago images/Krieger

Mit der SGE hatte Haller den DFB-Pokal gewonnen und die märchenhaft anmutende Europa-League-Saison erlebt, die im Elfmeterschießen des Halbfinals gegen Chelsea geendet hatte. Das lange Bein von David Luiz verhinderte damals in der Verlängerung Hallers Tor, das vielleicht zum Endspiel geführt hätte. Wenig später klärte noch Davide Zappacosta einen Kopfball des Frankfurter Stürmers auf der Linie. "Wenn ich auf meinen Fauxpas angesprochen werde", sagte Haller dem kicker, "dann tut es auch heute noch mächtig weh. Diese vergebene Chance war zweifelsohne eine der größten Enttäuschungen meiner Karriere."

Harte Worte - der Stürmer kam damals schließlich aus einer wochenlangen Verletzungspause zurück und wurde spät eingewechselt. Haller, der selbstkritische Perfektionist.

Dreimal die 88

Als größte Enttäuschung fällt manch anderem wohl eher Hallers Zeit bei West Ham United ein. "Ich spielte in einem System, das nicht zu mir passte", sagte der 50 Millionen Euro schwere Rekordeinkauf später dem "Guardian". "Mein Trainer David Moyes bevorzugte jemanden wie Michail Antonio in vorderster Linie." Auch wenn er sich für Antonio und die Kollegen freue, dass es nun so gut läuft: "Ich war wirklich sauer über die Situation, über unsere Spielweise, darüber, wie ich spielte und mich fühlte." Als Kritik an Moyes wollte er das aber nicht verstanden wissen: "Manchmal passt ein Spielstil nicht zu einem Spieler. Ich war nicht der Stürmer, den er brauchte. Und es war nicht er, der mich verpflichtet hatte." Sondern Ex-Trainer Manuel Pellegrini.

Dabei hatte die Zeit auf der Insel mit drei Toren in drei Spielen vielversprechend begonnen. In dem defensiv ausgerichteten Ansatz verbrauchte Haller allerdings zunehmend seine Körner im Anlaufen der gegnerischen Verteidiger. Bis zur Corona-Pause zwischen März und Juli 2020 traf er immer seltener. Als es wieder losging, fand sich der Franzose mit ivorischem Pass auf der Bank wieder.

Der Tiefpunkt: Zum Saisonstart 2020/21 wurde er dreimal hintereinander in der gleichen Minute eingewechselt. Dass es sich dabei um die 88. handelte, sprach Bände. Was er auch versuchte, es klappte wenig. Zwar erkämpfte Haller sich im Laufe der Hinrunde wieder einen Startplatz, die Ausbeute war dennoch mau: drei Tore in 16 Spielen. Er selbst sieht sich allerdings nicht als gescheitert an: "Mir ist es stets gelungen, mich schnell anzupassen, Fuß zu fassen und die Ziele zu erreichen", sagte er dem kicker vor wenigen Wochen über seine Karrierestationen.

Warum denke ich darüber nach, was andere Leute denken?

Sebastien Haller

Ajax schlug zu, machte 22,5 Millionen Euro locker und verlängerte eine Serie: Rekordtransfer bei Eintracht Frankfurt, Rekordtransfer bei West Ham, Rekordtransfer bei Ajax Amsterdam. "Ich musste lange überlegen, ob ich es machen soll", zitierte der "Guardian" Haller. "Am Ende wollte ich Fußball genießen und dachte: 'Warum denke ich darüber nach, was andere Leute denken?' Es ist nicht ihr Leben, sondern meines." Zwar habe er über sich sagen können, dass er für einen Premier-League-Klub spiele, "aber ich sitze immer auf der Bank".

Diese Rolle gibt es in den Niederlanden für ihn nicht mehr. Geschont wird Haller auch in englischen Wochen so gut wie nie, ein annähernd gleichwertiger Ersatz fehlt seinem Trainer. Dessen Name: Erik ten Hag, der ehemalige Utrecht-Coach.

"Ich betrachte meinen Wechsel eher als einen Schritt nach vorne", sagte Haller zum kicker. "Hier werde ich gebraucht und geschätzt, das war in meiner Karriere nicht immer der Fall." Im 4-3-3-System von Ajax blüht er auf: Endlich hat er wieder Sturmpartner! Anders als bei Frankfurt mit Ante Rebic und Luka Jovic flankieren ihn in Amsterdam aber zwei echte Flügelspieler. Antony fehlt an guten Tagen nur Standhaftigkeit zur Weltklasse. Und Dusan Tadic ist seit Jahren eigentlich überqualifiziert für die Eredivisie.

Haller, Tadic, Antony

Angriffstrio der Gegenwart: Haller, Tadic, Antony (v. li.). imago images/ANP

Die beiden gehen gerne steil, verknoten mit ihren Dribblings die Beine der gegnerischen Außenverteidiger. Währenddessen positioniert sich Haller im Zentrum variabel. Entweder er lauert am Strafraumrand oder er geht auf Ballhöhe an den ersten oder zweiten Pfosten, von wo er die Hereingaben verwertet. Alle elf Champions-League-Tore erzielte er aus dem Strafraum.

In der Eredivisie kann Haller auch mal nebenherjoggen

Den Unterschied im Spielniveau zwischen Sittard und Zwolle am Wochenende sowie Dortmund und Benfica unter der Woche? Meistern Ajax und sein Mittelstürmer bestens. Wer verstehen möchte, wie Haller seine Spielweise an die schwächere nationale Liga anpasst, wirft einen Blick auf bemerkenswerte Zahlen.

Während er in der Premier League wie in der Bundesliga stets in den Top-Listen der Profis mit den meisten Zweikämpfen auftauchte, ist das in den Niederlanden ganz anders. In nur noch 11,7 Duelle je 90 Minuten geht der 27-Jährige, noch einmal deutlich weniger als in der Vorsaison bei Ajax (17,3). Doppelt so viele waren es zuvor in der Premier League.

In der Eredivisie muss Haller nicht mehr so viel Arbeit verrichten, er kann auch mal unbeteiligt wirkend nebenherjoggen. Er weiß, er wird seine Situationen bekommen. Inzwischen auch in der Nationalmannschaft: Seit November 2020 lief der ehemalige U-21-Nationalstürmer Frankreichs zehnmal für die Elfenbeinküste auf (vier Tore). Trainer Didier Deschamps, der Haller nie für die Equipe Tricolore nominierte, machte er im "Guardian" keinen Vorwurf: "Wenn die Leute sagen, dass Deschamps einen Fehler gemacht habe, denke ich: 'Da ist kein Fehler.'"

Alle Rottöne harmonieren - außer Bordeaux

Nebengeräusche, öffentliches Nachtreten oder gar Lachen auf dem Platz - nichts davon ein Fall für Haller. Auch dass Ajax ihn im vergangenen Frühjahr wegen eines Versehens nicht in der Europa League gemeldet hatte, ist vergessen und verziehen.

Längst ist Haller mehr als der abschirmende Wandstürmer, den man in der Bundesliga in ihm sah und der Eintracht Frankfurt im Moment fehlt. Muss er arbeiten, tut er das, wie 16 Fouls in der laufenden Champions-League-Saison zeigen. Kein anderer Stürmer beging mehr als elf. Haller fügt sich in den Spielstil seines Teams ein, wandelbar wie ein Chamäleon, das sich der Umgebung angleicht. Die Rottöne von Utrecht, Frankfurt und Ajax nahm es an, wenn man im Bild bleiben möchte; als Arbeiter, Wandstürmer, Knipser, je nach Bedarf und Wettbewerb, aber nie als Sprinter. Nur mit dem Bordeauxrot der "Clarets" von West Ham harmonierte es nicht.

Wir werden sehen, ob ich dazu fähig bin.

Sebastien Haller

Wie Haller im kicker seine aktuelle Trefferquote erklärt? "All diese Tore waren kein Zufall. Sie waren das Ergebnis einer kollektiven Arbeit auf dem Platz. Wir finden uns fast blind. Wir haben alle zusammen wahnsinnig viel Spaß jeden Tag."

Um ihrer Rolle als Geheimfavorit der Königsklasse gerecht zu werden, muss diese Ajax-Mannschaft am Dienstagabend (21 Uhr, LIVE! bei kicker) allerdings gegen Benfica bestehen. Im Hinspiel (2:2) traf Haller, na klar, wie bisher immer, allerdings zuvor auch ins falsche Tor. Schon wieder ein Rekord. Auch der wird ihn nicht zum Lächeln gebracht haben.

"Jeder Fußballer will in der Champions League spielen", hatte Haller 2017 im kicker-Interview gesagt. "Wir werden sehen, ob ich dazu fähig bin."

Die Frage hat er sich inzwischen selbst beantwortet.

Paul Bartmuß

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