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Auf ewig

Diego Armando Maradona: Ein bewegtes Leben

Auf ewig

Für viele bis heute "El Mas Grande" - der Allergrößte: Diego Armando Maradona.

Für viele bis heute "El Mas Grande" - der Allergrößte: Diego Armando Maradona. Getty Images

Hat er wirklich gesagt. Man kann ja von Diego Armando Maradona halten, was man will. Aber auf die Zunge hat er sich nie gebissen und aus seinem Herzen hat er auch nie eine Mördergrube gemacht. Also: "Ohne die Drogenprobleme hätte ich viel mehr erreichen können", gab er 2010 in einer Dokumentation zu. "Was für ein Spieler wäre aus mir geworden, wenn es das Kokain nicht gegeben hätte." Die ureigene Antwort des einstigen "Goldjungen": "Mein Leben war nicht das, was ich mir gewünscht habe. Ich könnte viel mehr sein als das, was ich heute bin." Maradona sagte das bereits 2010. Damals war er 50 und gerade als argentinischer Nationaltrainer gescheitert.

Wobei: Dabei hatte er als solcher 2008 nach seiner Amtseinführung zunächst die Albiceleste mitgerissen, allein durch seine Präsenz. Wenn Maradona sprach oder es mitunter auch nur versuchte angesichts all der Spuren, die der jahrzehntelange Raubbau an seinem Körper hinterlassen hatte, dann klebten sie in Argentinien immer an seinen Lippen.

Gegen Deutschland erleidet er "die größte Niederlage meiner Karriere"

Doch Maradonas Präsenz hatte sich dann auch im Kreise der Nationalmannschaft doch eher schnell abgenutzt. In Extremis schaffte er es mit seinen "Muchachos" zur WM 2010. Maradonas Reaktion darauf? Unflätiges Beschimpfen der Journalisten. Beim Turnier in Südafrika endete die Mission des Rosenkranzbeters dann im taktischen Desaster und einem 0:4 im Viertelfinale gegen Deutschland. Es war, so Maradona, "die größte Niederlage meiner Karriere".

Erst vor wenigen Wochen war Diego Armando Maradona, als Spieler für viele ein vermeintlicher "Gott", 60 Jahre alt geworden. Auch in seinem sechsten Lebensjahrzehnt hatte er seit 2010 das geschafft, was er immer in seinen gefühlt zig Leben stets geschaffte hatte: Er kam zurück. Wenn auch nur als eine Art Trainer-Botschafter-Maskottchen in den Vereinigten Arabischen Emiraten, nun gut.

Bei der WM 2018 in Russland machte er als augenscheinlich von Sinnen agierender Anhänger Argentiniens negative Schlagzeilen - und war sich direkt im Anschluss an das Turnier nicht zu schade, im autokratischen Belarus in einem panzerartigen Gefährt vorzufahren und eine Position als Ehrenpräsident von Dinamo Brest anzunehmen. Immerhin: Gesehen hatte man ihn dort seither nicht mehr.

In Neapel träumen sie noch heute von ihm, manchmal sind es Albträume

So war das mit Maradona: heute hier und morgen da. In Mexiko kriegte er Ende 2018 erneut die Kurve, brachte den Zweitligisten Dorados de Sinaloa in die Spur, als ein als "Trainer" bezeichneter Motivator. Wie gesagt, mitreißen kann er, zumindest anfangs. Seit gut einem Jahr war das ewige Stehaufmännchen wieder in seiner Heimat tätig, bei Gimnasia La Plata unweit von Buenos Aires entfernt. Doch auch da: Mal war der vermeintliche Cheftrainer da, mal nicht. Die eigentliche Arbeit verrichteten seine Adjutanten. Dem Abstieg entging Gimnasia einzig, weil es wegen der Corona-Pandemie keine Absteiger gab.

So oder so wäre Maradona kein Absteiger für seine Fans. Vielmehr ist er für viele, nicht nur in Argentinien, "El Mas Grande": der Allergrößte. Noch vor Pelé. Sei's drum. Fakt ist: Maradona wurde 1986 Weltmeister, zudem in seiner Karriere fünfmal Torschützenkönig Argentiniens, es ist noch immer ein Rekord. Zweimal, 1987 und 1990, wird er Meister in Italien mit Napoli, das vorher ein Provinzklub war und noch heute von Maradona träumt, manchmal freilich sind es auch Albträume angesichts des sich einst im Drogen- und Camorra-Wirrwar auflösenden Engagements. Die gemeinsamen Jahre waren Himmel und Hölle zugleich, 70.000 Fans feierten allein schon bei "Diegos" Präsentation; ein UEFA-Cup-Sieg gegen den VfB Stuttgart 1989 sprang auch noch raus, aber es waren eben auch Jahre der Exzesse, auf und neben dem Spielfeld.

In Argentinien beten sie das Vater Diego - das hat er Messi voraus

Vor allem aber war Maradona Zeit seines Lebens bereits eine lebende Legende, eine Ikone, als einstiger Wunderfußballer praktisch unsterblich. Sogar eine Kirche ist nach ihm benannt. Seine Jünger beten das Vater Diego. Seine Bedeutung geht in der Heimat weit über den Fußball hinaus, als Spiegelbild der einstigen, auch wirtschaftlichen Weltspitze des Landes. Das hat er Lionel Messi voraus. "Maradona wird in Argentinien immer der Größte bleiben. Da ist er ein Highlander, der niemals stirbt", sagte einst der Ex-Stuttgarter José Basualdo.

Aufgewachsen ist Maradona in den Sechzigern im Armenviertel Villa Fiorito in den Außenbezirken von Buenos Aires. Schon als Bubi schafft er es dank seiner Kabinettstückchen ins Fernsehen. Zehn Tage vor seinem 16. Geburtstag gibt er 1976 für seinen Stammverein Argentinos Juniors sein Debüt in Argentiniens erster Liga. Mit 16 wird er Nationalspieler, mit 17 Torschützenkönig, mit 18 U-20-Weltmeister unter seinem Mentor Cesar Luis Menotti.

"Göttlich" mit Hand und Fuß: Die Karriere von Diego Maradona

Da ist er bereits das erste Mal zurückgekommen - nach der Enttäuschung, dass ihn eben dieser Nationaltrainer Menotti, der auch für die A-Nationalmannschaft verantwortlich ist, nicht für die "richtige" WM nominiert hatte, die 1978 in Argentinien. Ohne den Goldjungen holte Argentinien damals seinen ersten WM-Titel. Maradona zaubert derweil für Argentinos Juniors.

Lattek macht ihm das Leben schwer, die "Hand Gottes" erfindet er selbst

1981 wird er dann bei Boca Juniors zum Helden auf alle Zeit, 1982 folgt der sagenumwobene Wechsel von Boca zu Barça. Doch in Barcelona wird er nicht glücklich, Trainer Udo Lattek macht ihm das Leben schwer. 1983 tritt ihn Bilbao-Verteidiger Andoni Goikoetxea um, es sieht fürchterlich aus, drei Monate später aber spielt Maradona wieder. Ein Stehaufmännchen. Das war sein Leben. Oft am Boden - und doch nicht (gänzlich) kaputt. Immer wieder stand er auf. Und tanzte alle aus, zumindest auf dem Platz.

"Mitreißen kann er, zumindest anfangs": Diego Armando Maradona, hier im März 2020 als Trainer von Gimnasia La Plata.

"Mitreißen konnte er, zumindest anfangs": Diego Armando Maradona, hier im März 2020 als Trainer von Gimnasia La Plata. Getty Images

1986 der Höhepunkt: erst die zwei Tore gegen England im Viertelfinale, zunächst das mit der "Hand Gottes" - Maradona selbst erfindet den Begriff -, dann folgt sein Jahrhundertsolo. Im Halbfinale trifft er doppelt zum Sieg gegen Belgien, im Endspiel gegen Deutschland bereitet sein Traumpass das 3:2 von Jorge Burruchaga vor.

Sie haben mir die Beine abgeschnitten.

Diego Maradona nach seinem Ausschluss von der WM 1994

1994 der Ausschluss von der WM in den USA wegen der Einnahme verbotener Substanzen. "Sie haben mir die Beine abgeschnitten", es wird Maradonas legendärster Satz. Fortan beginnt sein vermeintlich lebenslanger Kampf gegen die FIFA - irgendwann war der aber auch wieder passé. Zuletzt konnte er wieder mit dem Weltverband. Nicht selten dribbelte sich der einstige Wunderdribbler selbst aus.

1997 das Karriereende, wie es sich gehört für einen Argentinier nach einem Superclasico zwischen Boca und River. Bei seinem Abschiedsspiel sein anderer Satz, der ihn überdauern wird: "Der Ball lässt sich nicht beschmutzen." Es ist, unter Tränen und in der proppenvollen Bombonera, (s)ein Eingeständnis aller Verfehlungen. Fast wie bei einem Gebet hat er dabei die Hände auf die Brust gelegt.

Fidel Castro, Magenverkleinerung, TV-Show

Zum Millenniumswechsel hätte sich Maradona dann tatsächlich fast physisch verabschiedet: Überdosis, Herzprobleme, Maradona entrinnt nur knapp dem Tod. Es folgt die Flucht nach Kuba zu Kumpel Fidel Castro, jahrelang bleibt er dort, lässt sich das Haar färben, posiert aber schon bald wieder mit dicker Zigarre. 2004 wieder eine lebensbedrohliche Situation, Maradona steht wieder auf, und wie.

2005 zeigt sich der Ex-Spieler in einer eigens für ihn aufgelegten TV-Show als Moderator: charmant, rank und schlank. Fast sieht er nach einer Magenverkleinerung besser aus denn je. Die "Noche del 10", die Nacht der 10, wird ein Quotenhit, gleich in der ersten Sendung ist Pelé Studiogast. Kein Streit darüber, wer der Größere ist. Man scherzt, tanzt und zaubert gemeinsam. Hach, hätte es doch nur immer so sein können. Hasta siempre, Diego.

Dieser Text erschien erstmals anlässlich des 60. Geburtstags von Maradona am 30. Oktober 2020.

Jörg Wolfrum