EM

Warum Sterling bei Englands Fans einen so schweren Stand hat

"Er kann nicht gewinnen"

Das Sterling-Paradoxon: Warum Englands Bester bei den Fans so einen schweren Stand hat

Publikumsliebling? Eher Publikumslieblingsopfer: Raheem Sterling.

Publikumsliebling? Eher Publikumslieblingsopfer: Raheem Sterling. Getty Images

Raheem Sterling ist ja einiges gewohnt, doch diese Frage musste er erst noch einmal wiederholen, um sicherzugehen, dass er sie auch wirklich richtig verstanden hatte. "Ob ich meine Nominierung gerechtfertigt habe?" Gerade hatte er England bei der EM zum 1:0-Auftaktsieg gegen Kroatien geschossen.

"Er kann nicht gewinnen", konstatierten bereits vor Jahren die "Manchester Evening News", und im Grunde hat sich daran nichts geändert. Wo Sterling auch hingeht, die Skepsis ist schon da. Englands auffälligster Spieler bei dieser EM ist in einer Art Handicap-Wette gefangen: Während etwa Jack Grealish schon beim Aufwärmen gefeiert wird, geht Sterling mit einem Rückstand ins Spiel, der manchmal so groß ist, dass er schon vorher verloren hat.

Sterling wuchs in schwierigen Verhältnissen ein paar hundert Meter neben dem Wembley-Stadion auf, war bei Manchester City unter Pep Guardiola in 154 Premier-League-Spielen an 107 Toren direkt beteiligt (72 Treffer/35 Assists) und hat mit 26 Jahren schon 67 Länderspiele absolviert. Es ist ein Spektakel, wenn er sich mit irrem Tempo und eng angelegten Oberarmen - er selbst spricht von "Tyrannosaurus-rex-Armen" - in Abwehrreihen stürzt. Kein Spieler hat bei dieser EM mehr Dribblings versucht (32) und erfolgreich gestaltet (18).

Sollte so jemand nicht eher Publikumsliebling sein? Es ist das große Sterling-Paradoxon. Ihm würde es vermutlich schon reichen, nicht mehr Publikumslieblingsopfer zu sein.

Sterling schoss England zum Gruppensieg - und erntete Twitter-Hass

Sterling war 21, als englische Anhänger bei der EM 2016 explizit ihn ausbuhten; einer sammelte online sogar Geld, um Sterling ein Rückfahrticket zu finanzieren.

Bei der WM 2018 beherrschte tagelang sein neues Unterschenkel-Tattoo, ein nach unten gerichtetes Sturmgewehr, die Schlagzeilen. "Raheem schießt sich selbst in den Fuß", titelte die "Sun" und zitierte empörte Eltern, deren Kinder durch Waffen getötet worden waren.

Und nach der EM-Vorrunde 2021 deckte der "Guardian" in einer großen Twitter-Analyse auf, dass Sterling hinter dem glücklosen Harry Kane der meistbeleidigte englische Nationalspieler war, obwohl er Englands einzige Tore erzielt hatte. Elf Prozent der Beschimpfungen waren rassistischer Natur.

Es ist wohl nicht zu hochgegriffen, in Sterling ein Opfer der modernen Medien- und Social-Media-Welt zu sehen. Als er mit 19 beim FC Liverpool die ersten Profifußballschritte unternahm, hieß es, er habe schon drei oder vier Kinder. In Wahrheit hatte er eins. Als er 2016 seiner Mutter ein edles Haus kaufte, malte der Boulevard das Bild des überbezahlten "Bling-bling"-Jungstars, der jeglichen Bezug zur Realität verloren hat. In Wahrheit wollte er der Frau etwas zurückgeben, die ihn als Kleinkind in Jamaika zurückgelassen hatte, um in London eine Existenz aufzubauen, nachdem der Vater erschossen worden war (damit begründete Sterling später auch sein Tattoo). Als Schulkind half er ihr mit seiner Schwester in den frühen Morgenstunden beim Putzen von Hoteltoiletten.

2016 nannte sich Sterling selbst "The Hated One"

Gegen Sterling richtete sich eine beispiellose, von rassistischen Untertönen begleitete Hetzkampagne; er war der Sündenbock, wenn es einen zu schlachten galt. "The Hated One", der Gehasste, nannte er sich 2016 selbst. Ein gutes Jahr später wurde er nahe des Trainingsgeländes von einem Mann attackiert und rassistisch beleidigt.

Es wäre also schon etwas mehr als eine gute Pointe, wenn Sterling derjenige wäre, der England am Sonntag (21 Uhr, LIVE! bei kicker) gegen Italien den ersten EM-Titel beschert. Und er gibt sich wirklich Mühe: Bei drei der fünf Siege, auch im Achtelfinale gegen Deutschland, erzielte er das 1:0, im Viertelfinale gegen die Ukraine bereitete er es vor. Und im Halbfinale gegen Dänemark erzwang er das Eigentor zum 1:1 und das Elfmetergeschenk zum 2:1. Teilweise sei er am Mittwoch "unplayable", nicht zu verteidigen gewesen, schrieb sogar die "Daily Mail", eines dieser berüchtigten Boulevardblätter.

Sterling stark, aber zwei Dänen überragen: Die kicker-Noten zu England-Dänemark

England profitiert gerade in doppelter Hinsicht von spanischen Einflüssen: von Guardiola, der Flügelflitzer Sterling in den letzten Jahren beigebracht hat, wie er sich in Räume bewegt, die bei anderen Mittelstürmern vorbehalten sind (alle drei EM-Tore erzielte er so); und von einem 3:2-Sieg am 15. Oktober 2018 in Sevilla. Damals traf Sterling nach einer Flaute von drei Jahren und 27 Spielen doppelt für England - das sei sein "Raketenstart-Moment" gewesen, sagte Gareth Southgate dieser Tage. In seinen letzten 22 Länderspielen war Sterling in 22 Tore direkt involviert (15/7).

Southgate an die Skeptiker: "Ja, bitte, stellt weiter solche Fragen"

Seit er die Three Lions 2016 übernahm, bot Southgate Sterling so etwas wie ein Kontrastprogramm zu dem, was Teile der Öffentlichkeit mit ihm machten. Je mehr diese ihn infrage stellten, desto mehr Halt gab ihm Southgate. "Ja, bitte, stellt weiter solche Fragen", entgegnete er dieser Tage den Sterling-Skeptikern. "Denn wenn wir ihn nicht mehr motivieren können, werden das bestimmt alle anderen schaffen."

Dem Nationaltrainer gefällt, dass Sterling "ein Kämpfer" ist und "unglaublich widerstandsfähig", wen wundert es bei dieser Biografie. Bei Southgate war er in den letzten Jahren nahezu immer gesetzt. Nach seiner bisher durchwachsensten Guardiola-Saison, in der ihm oft Phil Foden und Riyad Mahrez vorgezogen worden waren, war er in kaum einer Wunschelf (Grealish! Foden! Mount! Sancho! Rashford!) für das Auftaktspiel gegen Kroatien aufgetaucht. In Southgates schon, und das war halt die einzige, die zählte.

Sterling, im Juni für seinen Einsatz gegen Rassismus im Sport mit dem britischen Ritterorden geehrt, hatte seinen mittelmäßigen Beitrag zur Meisterschaft 2020/21 - zehn Tore, sieben Vorlagen - nur nebulös mit "verschiedenen Gründen" erklärt, mit "einigem, was hinter den Kulissen passiert": "Das würden Sie nie verstehen." Schnell machten Gerüchte die Runde, ManCity sei diesen Sommer bei Angeboten für ihn gesprächsbereit. Doch das war vor dieser EM. Seit wenigen Tagen heißt es, Sterling, der seit Jahresbeginn auf einen Berater verzichtet, winke eine Verlängerung seines 2023 auslaufenden Vertrags.

Er kennt dieses Hin und Her, und deswegen dürfte er kaum damit rechnen, seine Kritiker nach diesem Turnier ein für alle Mal los zu werden, selbst als Europameister nicht. Es kann ja alles so schnell gehen: Als Thomas Müller im Achtelfinale die Torchance vergeben hatte, sank einige Meter hinter ihm auch Sterling, der zuvor diesen fatalen Fehlpass Richtung Kai Havertz gespielt hatte, zu Boden und zwar derart, dass man das Video dazu sehen muss, um die Erleichterung zu greifen.

Vielleicht war es sein wichtigster Moment bei dieser EM.

Jörn Petersen