Tennis

Tim Henman: "Zverev muss das aus seiner Karriere löschen"

Ehemaliger Publikumsliebling über Struff, Nadal und Alcaraz

Tim Henman im Interview: "Zverev muss das aus seiner Karriere löschen"

Tim Henman (li.) sieht einen langen Weg zurück für Alexander Zverev (re.).

Tim Henman (li.) sieht einen langen Weg zurück für Alexander Zverev (re.). Getty Images (2)

kicker: Herr Henman, ist es ein anmaßender Einstieg, wenn man sagt, dass die French Open nicht ihr Lieblingsturnier waren?

Tim Henman (48): Ich habe immer gerne in Paris gespielt, aber mit meinem Spielstil war es leider immer knifflig auf Sand.

Sie schafften es nie über die dritte Runde hinaus - außer 2004, als Sie zur Überraschung der Experten bis ins Halbfinale kamen.

Das Witzige daran war, dass ich mir in der Woche davor einen Virus eingefangen und keine Energie hatte. In der ersten Runde spielte ich gegen Cyril Saulnier, einen talentierten Franzosen, der aber noch nie ein Spiel in Paris gewonnen hatte. Trotzdem verlor ich die ersten zwei Sätze und lag im dritten mit Break hinten. Ich dachte: Okay, ich fahre nach Hause und spiele wieder auf Gras. Dann hatte er einen Krampf in der Hand. Ich sah beim Seitenwechsel, wie er seine Hand dehnen musste und sagte mir: Gut, dann kämpfe ich eben weiter. Ich kam zurück, gewann den dritten Satz im Tiebreak und das Match in fünf Sätzen. In der zweiten Runde spielte ich dann gegen Lars Burgsmüller, der mir sehr gut lag. Ich schlug ihn problemlos und fühlte mich danach körperlich wieder besser. Es war wie ein zweites Leben, ich habe befreit aufgespielt. Ich dachte ja, ich würde nach Hause fahren. Am Ende war es eines der unterhaltsamsten Turniere meiner Karriere.

Djokovic thront ganz oben: Spieler mit den meisten Grand-Slam-Titeln

Seit 2004 sind die Plätze in Paris schneller geworden. Macht das die Chancen für die wenigen verbliebenen Serve-and-Volley-Spieler größer?

Ich konnte auf Asche immer dann Erfolg haben, wenn ich die Sandplatzspezialisten aus ihrer Komfortzone gebracht habe. Wenn man ihnen ihren Rhythmus lässt, dann wusste ich, dass sie mich schlagen werden. Wenn ich aber Serve-and-Volley spielen kann, wenn ich die Ballwechsel mit Chip-and-Charge abkürzen kann, wenn ich kurze Bälle spielen kann, um sie ans Netz zu holen, dann hole ich sie aus ihrer Komfortzone. Ich denke, dass das auch heute noch das Rezept für Spieler mit meinem Stil ist. Es ist aber immer noch schwer auf Sand, daran hat auch der schnellere Belag nichts geändert.

Es wird dauern, bis er wieder auf seinem alten Level ist.

Tim Henman über Alexander Zverev

In Deutschland wird vor dem Turnier in Paris besonders auf Alexander Zverev geschaut, der vor einem Jahr in Paris seinen letzten großen Auftritt hatte, ehe er sich im Halbfinale verletzte. Schafft er es wieder zurück in die Weltspitze?

Das wird Zeit benötigen. Er sieht jetzt zumindest fit und gesund aus. Ich hoffe, er hat Vertrauen in sein Sprunggelenk nach dieser fürchterlichen Verletzung. Er muss geduldig bleiben, denn es wird dauern, bis er wieder auf seinem alten Level ist. Aber er hat eine tolle Arbeitseinstellung und ist total motiviert. Sein zweiter Aufschlag ist jetzt auch wieder ein bisschen besser geworden. Ich denke, dass er früher oder später wieder zurück in die Top 10 der Welt kommt. Ein bisschen fühlt es sich so an, als müsse er Paris auch deswegen spielen, um dieses ganze Jahr aus seiner Karriere zu löschen.

Besser läuft es derzeit für Jan-Lennard Struff. Könnte er - wie zuletzt in Madrid - für eine Überraschung sorgen?

Ich denke, er kann in die zweite Woche kommen. In Madrid kam ihm die Höhe und der etwas schnellere Belag mit seinem Spielstil entgegen. Aber es war ein tolles Ergebnis, aus dem er viel Selbstvertrauen ziehen kann. Bei den Grand Slams hat er nicht so viel Erfahrung, da fehlen ihm bis jetzt die Ergebnisse. Aber wenn du in Paris durch die erste Woche kommst, fängt das Turnier quasi von vorne an und du kannst Momentum aufbauen.

Welchem der beiden deutschen Spieler trauen Sie in Paris mehr zu?

Beide Spieler sind aus verschiedenen Gründen interessant. Struff hat das Selbstvertrauen, hat in letzter Zeit sehr gut gespielt, hat aber nicht die Erfahrung bei den Grand Slams. Die hat wiederum Zverev - obwohl er jünger ist. Die Frage ist, ob er das zu seinem Vorteil nutzen kann.

Seine Beinarbeit ist vielleicht die beste, die ich je gesehen habe.

Tim Henman über Carlos Alcaraz

Struff verlor im Finale von Madrid gegen Carlos Alcaraz, der auch für die French Open der Topfavorit ist. Ist er in seiner derzeitigen Form überhaupt schlagbar?

Es gibt jedenfalls nicht viele, die ihn auf Sand schlagen können. Wenn man sein Spiel analysiert, stellt man fest, dass es extrem stabil ist. Er schlägt jetzt härter und genauer auf, von der Grundlinie ist er mit Vorhand und Rückhand aggressiv, macht kaum Fehler. Seine Beinarbeit ist vielleicht die beste, die ich je gesehen habe. Und er variiert sein Spiel unglaublich gut. Er hat keine Angst davor, ans Netz zu gehen, er nutzt Stopps. Für mich ist er aktuell der Favorit. Könnte Djokovic ihn schlagen? Ich denk schon. Könnte Sinner ihn schlagen? Ich denke schon. Tsitsipas, Rune, Ruud - das sind auch alle sehr gute Sandplatzspieler. Aber wenn ich mich festlegen müsste, würde ich auf Alcaraz setzen.

Interview: Michael Bächle