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Senft & Radlinger: "Wir sind nicht Barnsley, wir müssen unsere eigene Geschichte schreiben"

Gelingt auch Ried "The Great Escape"?

Senft & Radlinger: "Wir sind nicht Barnsley, wir müssen unsere eigene Geschichte schreiben"

Samuel Sahin-Radlinger und Maximilian Senft (v. l.) wollen mit Ried den Klassenerhalt schaffen.

Samuel Sahin-Radlinger und Maximilian Senft (v. l.) wollen mit Ried den Klassenerhalt schaffen. GEPA pictures

Herr Senft, Herr Sahin-Radlinger, Sie waren 2019/20 als Co-Trainer bzw. Torhüter am "Great Escape" des FC Barnsley beteiligt. Fühlt sich die Situation in Ried jetzt ähnlich an?

Sahin-Radlinger: Ich muss voraus schicken, dass ich in der entscheidenden Phase nicht mehr dabei war. Aufgrund der Verzögerungen durch die Corona-Pandemie mussten die Verträge der Spieler ja verlängert werden. Weil ich aber verletzt war und ohnehin nicht gespielt habe, bin ich mit meinen zwei kleinen Kindern in Österreich geblieben und habe das Ganze aus der Entfernung intensiv verfolgt.

Senft: Die Tabellenkonstellation war schon vergleichbar. Als Gerhard Struber und ich in Barnsley übernommen haben, waren wir Letzter. Der Start ist ähnlich verlaufen und am Ende haben wir zwei Siege und einen Umfaller der Gegner gebraucht. So ist es eingetroffen, wobei wir die Siege gegen Nottingham Forest und Brentford (heute beide in der Premier League; Anm.) geschafft haben.

Quali-Gruppe - 31. Spieltag

"Pipo" Schmidt war mit einem Last-Minute-Tor bzw. -Assist hauptbeteiligt am Wunder. Haben Sie einen "Pipo" im Kader?

Senft: Das wird sich weisen. Ich glaube schon, dass wir Spieler haben, die das drauf haben.

Helfen Ihnen die damaligen Erfahrungen, gab es einen entscheidenden Knackpunkt, den man versucht, wieder herbeizuführen?

Senft: Das waren sicher wichtige Learnings, die ich damals machen konnte. Aber wir sind nicht Barnsley. Es hat auch nicht diesen einen Knackpunkt gegeben, was es gab, ist beharrliche, harte Arbeit. Wichtig war, unumstößlich in der Idee zu bleiben, wie wir Fußballs spielen wollen. Nicht in Panik verfallen und plötzlich alles umdrehen. Das ist auch jetzt entscheidend, inhaltlich bei uns bleiben, bei dem Kraftakt, den es braucht.

Sahin-Radlinger: Alleine zu wissen, dass Max so eine Situation schon erlebt hat und dabei erfolgreich war, gibt uns ein gutes Gefühl.

Wie darf man sich die Arbeit in den letzten Tagen vorstellen? Wie unterscheidet sie sich von "normalen" Wochen?

Senft: Die Situation ist schon sehr speziell nach dem Nackenschlag gegen Altach. Ich glaube, es hat jeder Zeit gebraucht, um die Sache sacken zu lassen. Es ist eine intensive Zeit, schwer, emotional auszukoppeln. Aber ich denke, wir haben zu mündige Spieler, als dass jetzt Aktionismus Sinn machen würde. Wir arbeiten der Situation angepasst. Natürlich müssen wir Kniffe und Hebel bedienen, die vielleicht anders sind als vor zehn Wochen. Aber es bleibt Fußball und es geht darum, am Wochenende Leistung zu bringen. Das ist unser Fokus.

Sahin-Radlinger: Ich weiß nicht, wieviel ich verraten darf, aber wir schauen uns jeden Tag eine Comeback-Story eines anderen Vereins an.

Senft: Das ist eine Idee, die aus dem Trainerstaff gekommen ist. Jedes Mitglied hat sich dafür begeistert, deshalb haben wir sie umgesetzt.

Ist das Beispiel Barnsley schon vorgekommen?

Sahin-Radlinger: Der Max nimmt sich da zurück, er hat es bis jetzt nur einmal kurz erwähnt. Er ist da sehr bescheiden. Aber wer weiß, vielleicht kommt es ja noch.

Senft: Es geht gar nicht bei allen um Fußball. Aber ein aktuelles Beispiel war das Comeback von Sheffield Wednesday vergangene Woche im Aufstiegs-Playoff gegen Peterborough.

Sahin-Radlinger: Es ist alles recht und schön, die Geschichten anderer zu sehen und darüber zu reden, aber wir müssen unsere eigene Geschichte schreiben.

Senft: Das herauszuarbeiten, genau darauf liegt auch der Fokus.

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Wie reell ist die Chance noch?

Sahin-Radlinger: Natürlich hat sich unsere Situation durch die Niederlage gegen Altach verschlechtert, das steht außer Frage. Aber ich habe versucht, es in meinen Kopf hineinzubringen und auch den Jungs zu vermitteln, dass es an uns liegt, unsere Aufgaben zu erledigen. Was dann auf den anderen Plätzen passiert, darüber müssen wir uns nicht zu viele Gedanken machen.

Senft: Zwei Siege in zwei Runden sind uns absolut zuzutrauen. Wir müssen ja kein 0:5 aufholen. Ein bissl Glück muss noch reinfallen. Aber so lange ein kleiner Funke Hoffnung besteht, denke ich an nichts anderes. Wenn wir das, was wir in den letzten zwei, drei, vier Spielen gezeigt haben, auf den Platz bringen können und uns mit Toren belohnen, werden wir in Hartberg gewinnen.

Sahin-Radlinger: Wer weiß, wofür die Situation gut ist. Vielleicht ist der Druck jetzt, wo viele es uns nicht mehr zutrauen, ein bissl weniger als er vorige Woche gegen Altach war. Da war der Druck von außen mit dem ausverkauften Haus und dem Unbedingt-gewinnen-Müssen schon sehr groß.

Vor einem Jahr waren die Vorzeichen umgekehrt: Zwei Runden vor Schluss war Ried vier Punkte vor Altach und die Altacher haben das Wunder zu Lasten der Admira noch geschafft.

Sahin-Radlinger: Damals haben wir den einen Punkt, den wir dann gar nicht mehr gebraucht hätten, in Hartberg gemacht. Aber ich glaube das Beispiel Altach werden wir uns nicht anschauen, oder?

Senft: Geschichten gibt es genug. Wenn wir jetzt am Samstag einmal unseren Job erledigen und auch Altach nicht gegen Lustenau gewinnt, dann steht uns eine heiße nächste Woche bevor und ein Endspiel gegen den WAC.

Wenn es nach der Expected-Goals-Differenz in der Quali-Gruppe geht, müssten wir Zweiter hinter Hartberg sein.

Ried-Coach Senft

Um noch eine Parallele zu Barnsley zu bemühen: Damals standen 74 "expected goals" nur 49 tatsächlich geschossenen gegenüber. Sind in Ried auch die zu wenig erzielten Tore das Problem?

Sahin-Radlinger: Wenn ich mir alleine die letzten Spiele anschaue, wieviele Hochkaräter wir da nicht gemacht haben, haben wir sicher zu wenige Tore geschossen. Und wenn du dann hinten drin stehst, kriegst du natürlich auch noch Tore.

Senft: In Barnsley hatten wir vor allem große Probleme bei den Standards, das ist jetzt die größte Waffe. Die Chancenauswertung ist sicher ein wichtiger Grund, warum wir nicht mehr Punkte haben. Wenn es nach der Expected-Goals-Differenz in der Quali-Gruppe geht, müssten wir Zweiter hinter Hartberg sein. Leider können wir uns um diese Statistik nichts kaufen. Aber es hat auch gewaltige Entscheidungen gegen uns gegeben. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Saison. Verletzungen, Schiedsrichterentscheidungen, Rote Karten gegen uns. Vielleicht kommt das ja alles in den letzten zwei Spielen zurück.

Wird der 22. Juli, der Tag der Barnsley-Rettung, jedes Jahr wenigsten noch in einer WhatsApp-Gruppe gefeiert?

Senft: Wir feiern am 22. Juli nicht jedesmal Jahrestag, aber mit dem einen oder anderen teilt man schon Erinnerungen.

Sahin-Radlinger: Zu einigen habe ich in England noch Kontakt. Soli (Sollbauer; Anm.) und Mike Bähre (jetzt Altach; Anm.) sehe ich ja jetzt wieder öfter. Das ist ja das Schöne am Fußball, dass man sich immer irgendwo wieder über den Weg läuft.

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