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Schalke 04: Der Vier-Minuten-Meister

2000/01 - Wenn alle Dämme brechen

Schalke 04: Der Vier-Minuten-Meister

Nacktes Entsetzen und tiefe Enttäuschung: Schalkes Trainer Huub Stevens (Mitte) und seine Schützlinge.

Nacktes Entsetzen und tiefe Enttäuschung: Schalkes Trainer Huub Stevens (Mitte) und seine Schützlinge. imago

Kahns Trainer Ottmar Hitzfeld dachte zu diesem Zeitpunkt schon weiter: Vier Tage nach dem letzten Saisonspiel stand das Champions-League-Finale an, und da "brauchten wir ein Erfolgserlebnis". Als der Hamburger Sergej Barbarez in der 90. Minute das 1:0 köpft, scheint das Unglück seinen Lauf zu nehmen. Auf Schalke ist das Spiel beendet. In Hamburg werden vier Minuten nachgespielt . . .

Ein Schrei, ein Orkan. Die Erde bebt.

Königsblau wird rosarot. Um 17.16 Uhr pfeift der Unparteiische Hartmut Strampe die Partie zwischen dem FC Schalke 04 und der SpVgg Unterhaching ab: 5:3 für die Hausherren. Unterhaching steigt ab. Und Schalke? Die "Knappen" können es nicht fassen! Meister: Endlich! Drei Punkte Rückstand zu den führenden Bayern vor dem letzten Spieltag und dann das. Als in Hamburg das 1:0 in der 90. Minute fällt, steht das Parkstadion Kopf. 65.000 Menschen liegen sich in den Armen. Nach 1958 kommt die Schale wieder in den Pott. Oder doch nicht? Auf der Videoleinwand hinter der Südtribüne flackern plötzlich Bilder auf. Bilder vom Bayern-Spiel. Live. Wie, live? - denken sich alle im Stadion. In Hamburg werden vier Minuten nachgespielt. Vier Minuten für die Ewigkeit.

Bundesliga - Tabelle
Pl. Verein Punkte
1
Bayern München Bayern München
63
2
FC Schalke 04 FC Schalke 04
62
3
Borussia Dortmund Borussia Dortmund
58

Zurück zum Anfang: Die Bayern sind, wie in den Siebzigern, die Supermacht im deutschen Fußball. 1999 hat der FCB sagenhafte 15 Punkte Vorsprung vor dem Zweiten, Bayer Leverkusen. Die Werkself bleibt auch ein Jahr schärfster Bayern-Jäger und lässt sich mit einer unglaublichen 0:2-Niederlage am letzten Spieltag gegen Aufsteiger Unterhaching die Butter vom Meisterbrot nehmen. Welch ein Finale, denken sich die Bayern-Fans. Dass es noch eine Spur dramatischer geht, ahnt da noch niemand. Warum auch, jubelt die Münchner Großmacht doch gerne über die erfolgreiche Titelverteidigung.

Abschied von Matthäus und Wilmots

Vor dem Start in die Saison 2000/01 verlassen zwei ganz Große die Bundesliga: Bei den Bayern nimmt Lothar Matthäus nach siebeneinhalb Jahren seinen Hut in seiner zweiten "Amtszeit" beim Rekordmeister (die erste von 1984 - 1988). Ihn zieht es auf den Spuren von Franz Beckenbauer und Gerd Müller ebenfalls über den großen Teich zu den New York/New Jersey MetroStars. Auf Schalke beendet der belgische Eurofighter Marc Wilmots sein vierjähriges Deutschland-Gastspiel. Sechs Millionen überweist Girondins Bordeaux für ihn in den Pott. Andreas Möller (ablösefrei) in königsblau und Willy Sagnol (15 Millionen, AS Monaco) sowie Ciriaco Sforza (12,8 Mio., 1. FC Kaiserslautern) in Meister-Rot sollen die Lücken schließen.

Vier Minuten im Mai

Meister Bayern lässt beim Auftakt gegen Berlin seine Klasse, weil Effizienz, aufleuchten. Ottmar Hitzfeld, der auf die verletzten Effenberg, Jeremies, Elber, Sergio und Strunz verzichten muss, setzt im Angriff auf Santa Cruz, lässt Zickler zunächst auf der Bank. Wiesinger erhält den Vorzug vor Salihamidzic. Bis zur 89. Minute führt der Meister 4:0, ehe Berlin zum Anschlusstreffer kommt. Bei Schalke setzt Coach Huub Stevens zu Beginn auf drei Neuzugänge: Hajto, Möller und Böhme. Auch sie führen bis zur 89. Minute (2:0), bevor Aufsteiger Köln der Anschluss gelingt. Der Saisonauftakt für beide Mannschaften ist gelungen.

Sprung zum Ende: Tabellenführer Bayern München gewinnt verdient, wenn auch knapp am vorletzten Spieltag gegen den 1. FC Kaiserslautern 2:1. Schalke 04 zeigt Nerven: Nach der unglücklichen 0:1-Niederlage in Stuttgart hat es S04 verpasst, mit den Bayern gleich zu ziehen. Drei Punkte Rückstand vor dem Finale. Kann man die Bayern stoppen? Der nächste Schalke-Gegner heißt SpVgg Unterhaching. Die müssen als Drittletzter unbedingt punkten und auf einen Ausrutscher von Energie Cottbus hoffen. Die Bayern reisen hoch nach Hamburg. Der HSV ist mit 40 Punkten jenseits von Gut und Böse.

19. Mai 2001: Finale in der Bundesliga. Bochum, bereits abgestiegen, verliert in Leverkusen 0:1. Frankfurt kann sich trotz des 2:1 gegen Stuttgart nicht mehr retten. An der Spitze hat Schalke reichlich Mühe. 0:2 liegen sie nach 26 Minuten hinten. An eine Meisterschaft denkt niemand. Bei den Bayern ist noch nichts passiert. Ihnen reicht auch ein Punkt. Leben in die Bude kommt im Ruhrgebiet, als van Kerckhoven (44.) und Asamoah (45.) mit einem Doppelschlag zur Halbzeit ausgleichen. Und in Hamburg? Die Hausherren sind die bessere Mannschaft, finden aber in Oliver Kahn ihren Meister. Einen spannenden Fight erlebt das ausverkaufte Parkstadion: Die Gäste kämpfen ums Überleben und gehen durch Seiferts Kopfball in der 69. Minute erneut in Führung.

Mit den letzten mobilisierten Kräften reißen die Schalker das Ruder noch herum: 3:3 Böhme (73., direkter Freistoß), 4:3 Böhme (74., Linksschuss), 5:3 Sand (89., Rechtsschuss). Geht da noch was in Sachen Meisterschaft?

In Hamburg begnügt sich der Gast damit, eroberte Bälle zu halten. Dann der Schrei: Sergej Barbarez köpft das verdiente 1:0. Es läuft die letzte Minute der regulären Spielzeit.

17.16 Uhr: Das Spiel auf Schalke ist aus. Es ist angerichtet für die Meisterfeier. Doch in Hamburg lässt Schiri Markus Merk vier Minuten nachspielen. Während die Schalker ihre Meisterschaft tränenreich feiern, gibt Merk in Hamburg einen indirekten Freistoß, weil HSV-Keeper Mathias Schober einen Rückpass von Tomas Ujfalusi mit der Hand aufnimmt.

17.20 Uhr: Auf der Bayern-Bank hält es keinen mehr. Oli Kahn kommt mit nach vorne. Wer wird schießen? Entfernung zum Tor zirka acht Meter auf Höhe des linken Schalker Fünf-Meter-Raums. Abwehrspieler Patrik Andersson läuft an, Stefan Effenberg legt auf. Einfach drauf: Drin. Das war's für die Schalker. Sie sind die "Meister der Herzen". Bayern wird zum dritten Mal hintereinander Meister - in wirklich allerletzter Sekunde.

Der Torschützenkönig

Zweiter Sieger ist der erste Verlierer, heißt es. So fühlen sich die Schalker im Kollektiv. Nach dem Finale kann sich zumindest Ebbe Sand wie ein Sieger fühlen. Der S04-Stürmer führt mit dem Hamburger Sergej Barbarez die Torjägerliste mit 22 Toren an. Dahinter reihen sich Claudio Pizarro (19) und Michael Preetz (16) ein. Und die Bayern-Stürmer? Von den fünf Münchner Angreifern Elber, Göktan, Jancker, di Salvo, Santa Cruz, Sergio und Zickler ist der Brasilianer Giovane Elber mit 15 Toren am erfolgreichsten.