Champions League

UEFA-Schiedsrichter-Chef Roberto Rosetti im kicker-Interview: "Wir haben doppelt so viele Emotionen" durch den VAR

UEFA-Schiedsrichter-Chef im kicker-Interview

Rosetti: "Wir haben doppelt so viele Emotionen" durch den VAR

Blickt der Einführung des VAR in der CL entgegen: Roberto Rosetti.

Blickt der Einführung des VAR in der CL entgegen: Roberto Rosetti. imago

kicker: Mit dem Start in die K.-o.-Phase der laufenden Champions League wird in der kommenden Woche auch der Video-Assistant-Referee (VAR) sein Debüt in diesem Wettbewerb feiern. UEFA-Präsident Ceferin hat lange mit der Einführung gezögert, weil er die Technik noch nicht ausgereift fand. Ist sie es jetzt, Herr Rosetti?

Rosetti: Ich würde das nicht als Zögern bezeichnen. Aleksander Ceferin ist eben sehr seriös und professionell. Er wollte einfach ganz sichergehen, wollte das nötige Feedback von allen bekommen: was ist für die TV-Sender wichtig, gibts Probleme mit der Technik, was sagt der Provider? Und er wollte von mir die Garantie, dass die Schiedsrichter bereit dafür sind.

kicker: Was hat ihn dann dazu bewogen, grünes Licht zu geben?

Rosetti: Wir hatten sehr, sehr viele gute Tests gemacht, und unser Provider hat die Garantien für die Durchführung gegeben. Und auch ich habe meine Zustimmung erteilt. Dann hat sich das UEFA-Exekutivkomitee dafür ausgesprochen und die Einführung beschlossen. Das ist ja nicht nur ein Schiedsrichter-Projekt, sondern ein Fußball-Projekt. Wir machen das, um die Fehlentscheidungen der Schiedsrichter zu verringern und damit zum Wohle des Fußballs. Wir wissen, dass dieses Projekt nicht perfekt ist. Aber wenn Sie die Schiedsrichter fragen, ob sie den VAR haben wollen oder nicht, wird jeder sagen, dass er ihn will.

kicker: Sie haben sich den VAR in verschiedenen Ligen und Ländern angesehen. Welche Unterschiede haben Sie festgestellt und welche Schlüsse daraus gezogen?

Rosetti: Meiner Meinung nach mussten wir die Idee des VAR klarstellen und ein bisschen zurückkommen auf das Prinzip des VAR. Wir wollen dieses Werkzeug nur bei offensichtlichen Fehler benutzen. Der VAR soll nur mit einem eindeutigen Beweis intervenieren. Der Schiedsrichter sollte nicht bei jedem Zweifel zum Anschauen des Onfield-Review (OFR) geschickt werden. Nein, dass ist nicht der Sinn der Sache. Wir müssen den Fußball schützen, wir lieben dieses Spiel, wir brauchen den VAR-Einsatz nur bei klaren Fehlern.

kicker: Sie sagen "klare Fehler". Genau das sagen die Verantwortlichen in Deutschland auch. Aber wir haben hier große Diskussionen darüber, was ein klarer Fehler eigentlich ist.

Rosetti: Nicht nur in Deutschland...

kicker: Was also fällt unter den Begriff "klare Fehlentscheidung"?

Roberto Rosetti

Er weiß, wann der VAR eingreifen soll: Roberto Rosetti. imago

Rosetti: Nochmal: Der VAR darf nur eingreifen, wenn ein Fehler des Schiedsrichters beweisbar ist. Nur mit dem Nachweis durch die Kamerabilder. Wenn er sofort nach dem Anschauen der Szene sicher ist, dass es sich um einen Fehler handelt, muss er intervenieren. Zudem arbeiten wir sehr viel an der Vereinheitlichung, denn wir müssen bei diesen Interventionen eine einheitliche Linie haben. Bei einigen Entscheidungen ist die Grenze für Eingriffe sehr niedrig, weil wir klare Fakten haben. Wenn es zum Beispiel um den Ort geht, wo etwas passiert ist. Das gilt bei Abseits-Situationen, wo wir die 3-D-Technologie mit Linien nutzen, die beste, die derzeit auf dem Markt ist. Hier muss der VAR eingreifen - ohne jeden Zweifel. Oder bei der Entscheidung, ob ein Foul innerhalb oder außerhalb des Strafraums passiert. Oder wenn der Ball vor einem Tor während des Angriffszuges schon im Aus war.

kicker: Diese Eindeutigkeit ist aber nicht immer gegeben.

Rosetti: Viele Situationen im Fußball lassen Interpretations-Spielraum. Aber auch da gibt es wieder Unterschiede. Zum Beispiel: Im Strafraum wird jemandem eindeutig auf den Fuß gestiegen. Natürlich gibts hier Interpretations-Spielraum, aber der wird begrenzt durch die Tatsache, dass da jemand auf den Fuß gestiegen ist. Da kann der VAR eingreifen. Oder ein klarer Tritt. Wenn wir das eindeutig im Bild haben, kann eingegriffen werden, weil es die Interpretation eines Fakts ist. Dann gibt es aber auch 50-50-Situationen, zum Beispiel bei einem Zusammenprall zweier Spieler. Da geht es um eine subjektive Beurteilung durch den Schiedsrichter. In solchen Situationen liegt die Messlatte für Interventionen sehr, sehr hoch. Weil das eine Entscheidung des Schiedsrichters ist. Er muss die Kraft und die Intensität dieser Szene fühlen. Das ist keine Sache der Bilder, sondern das muss auf dem Spielfeld entschieden werden.

kicker: Was passiert, wenn Spieler den VAR einfordern?

Rosetti: Wir haben die Schiedsrichter angewiesen, bei eindeutiger Gestik, also das Formen eines Bildschirms mit den Händen, Gelbe Karten zu zeigen. Das ist das gleiche, wie wenn ein Spieler eine Verwarnung für einen Gegenspieler fordert."

kicker: Es geht nach wie vor nur um die vier Komplexe: Verwechslung von Spielern, Elfmeter, Rote Karten und Tore?

Rosetti: Ja. Wir müssen klarstellen, dass es nur ein Protokoll gibt, das von der IFAB geschrieben wurde und dem wir zu 100 Prozent folgen müssen. Es geht nicht um Gelbe Karten, nicht um Gelb-Rote Karten, nicht um normale Fouls - nur um die vier Fälle. Wir arbeiten viel an diesen einzelnen Themen, wie Elfmeter, Rote Karten etc. Und alle Themen haben wiederum Unterpunkte, denn es gibt viele verschiedene Elfmeter-Situationen. Und für alle definieren wir die Grenze für das Eingreifen des VAR.

kicker: Es gibt ja auch die 30/70-Entscheidungen, zum Beispiel in einem Zweikampf. Den beurteilt der Schiedsrichter auf dem Feld, stellt aber nach dem Spiel fest, dass die Entscheidung eher falsch war, es aber auch Argumente für seine Entscheidung gab. Er liegt also bei 30 Prozent. Soll der VAR auch in diesen Fällen eingreifen, oder sagen sie, mit solchen kleinen Fehlern müssen wir eben leben?

Rosetti: Ich will die Intervention nur, wenn der VAR einen Beweis hat. Wenn er sich sicher ist, dass es ein Elfmeter ist, dass es eine Rote Karte ist. Aber nicht, wenn es ein 'vielleicht' oder ein 'meiner Meinung nach könnte' gibt. Denn wir müssen den Fußball schützen, wir können nicht vier, fünf Mal unterbrechen. Wir wollen nicht das Spiel nochmal neu leiten.

kicker: Die Mehrheit der deutschen Fans steht dem VAR wegen der Fehler, die passiert sind, immer noch kritisch gegenüber. Ist die Anwendung des VAR in der Bundesliga dennoch ein Vorbild für die UEFA? Einiges hat ja auch gut funktioniert.

Im Gespräch: Die kicker-Redakteure Carsten Schröter-Lorenz und Manfred Münchrath mit Roberto Rosetti (v.l.).

Im Gespräch: Die kicker-Redakteure Carsten Schröter-Lorenz und Manfred Münchrath mit Roberto Rosetti (v.l.). kicker

Rosetti: Der VAR wird nicht dazu führen, dass es keine Diskussionen mehr gibt. Nicht nur in der Bundesliga, sondern überall wird diskutiert: in Italien, in Spanien, in Frankreich ist es das gleiche. Wir müssen eben an der Vereinheitlichung arbeiten, aber eine absolute Einheitlichkeit ist utopisch, ist unmöglich. Wir müssen noch sehr viel tun, um die Unterschiede in der Auslegung zu reduzieren.

kicker: Lutz Michael Fröhlich, Schiedsrichterboss der Bundesliga, sagte in einem kicker-Interview, dass die Art und Weise der Anwendung des VAR in der Bundesliga international besser bewertet wird als innerhalb Deutschlands. Stimmen Sie zu?

Rosetti: Ich kann sagen, dass die Deutschen Schiedsrichter in den UEFA-Wettbewerben sehr gute Arbeit machen. Ich bin wirklich zufrieden mit den Leistungen von Felix Brych, Felix Zwayer oder Daniel Siebert. Daniel hat sein erstes Spiel in der Champions League geleitet. Er ist sehr jung und ich kenne ihn seit vielen Jahren. Er macht das richtig gut. Die deutschen Schiedsrichter sind sehr wichtig für dieses Projekt.

kicker: Und wir beurteilen sie denn nun, wie der VAR in der Bundesliga angewendet wird?

Rosetti: Ich äußere mich generell nicht über die Ligen, aber wie gesagt, wir haben deutsche Schiedsrichter in unseren Wettbewerben, die sehr gute Arbeit machen und die auch bereits sehr viel gute Erfahrung mit VAR aus der Bundesliga mitbringen.

kicker: Ist das Bild denn international positiver als national?

Rosetti: Na ja, überall gibt‘s Diskussionen, die Meisterschaft ist sehr lang mit vielen Spielen. Da ist es natürlich leicht, eine gewisse Uneinheitlichkeit bei den Entscheidungen festzustellen. Ich möchte darauf nicht so genau eingehen.

kicker: Wurden an die Einführung des VAR zu hohe Erwartungen - Stichworte: Unfehlbarkeit der Technik,nie mehr Fehlentscheidungen - geknüpft?

Rosetti: Sie haben recht. Die Erwartungen sind hoch. Aber wir haben ja auch Fortschritte gemacht. Vor einigen Jahren haben wir über Tore diskutiert, bei denen der Schütze einen Meter im Abseits stand. Das ist nicht mehr möglich. Jetzt diskutieren wir über 10 Zentimeter. Oder: Vor vielen Jahren haben wir über ein mit der Hand erzieltes Tor geredet. Auch das ist nicht mehr möglich. Jetzt reden wir über ein mögliches Handspiel, über eine mögliche unnatürliche Handhaltung. DIeses Projekt ist noch jung, wir haben erst vor zwei Jahren damit begonnen. Natürlich können wir die Uhr nicht mehr zurückdrehen. Jetzt müssen wir daran arbeiten, dieses Projekt stetig zu verbessern.

kicker: Fürchten Sie, dass es trotz der Einführung des VAR weiterhin große Diskussionen über Handspiel-Situationen geben wird?

Rosetti: Handspiel ist wahrscheinlich das komplizierteste Thema, überall im Fußball gibt es Diskussionen darüber. Das IFAB arbeitet an der Thematik mit dem Ziel, den Referees zu helfen und den Komplex noch klarer für alle verständlich zu machen. Wenn der VAR einen Bildbeweis für ein absichtliches Handspiel hat, soll er eingreifen. Oder, wenn der Arm in einer unnatürlichen Weise vom Körper absteht, auf Schulterhöhe oder darüber hinaus, muss der VAR genauso eingreifen. Aber natürlich gibt es weiterhin den Graubereich. In diesem muss der Schiedsrichter auf dem Platz entscheiden und Hilfsparameter wie Distanz, Geschwindigkeit, Arm- und Ballbewegung in seiner Entscheidung berücksichtigen. Das ist dann jedoch kein Fall für den VAR.

kicker: Oft diskutiert werden beispielsweise Szenen, in denen ein grätschender Spieler den Ball an die Hand bekommt. Strafbar oder nicht?

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Nicht das Ende aller Diskussionen: Der VAR. imago

Rosetti: Gerade hatten wir in Lissabon ein Meeting der UEFA-Elite-Schiedsrichter und haben natürlich auch über Handspiel gesprochen. Ein Unterpunkt waren Situationen mit grätschenden oder auf dem Boden rutschenden Spielern. Es gibt zwei Arten: Entweder versucht der Spieler, den Ball zu spielen oder er versucht, den Ball zu blocken. Da ist ein großer Unterschied. Wenn man auf den Ball geht, braucht man die Arme für die Balance. Das ist natürlich. Wenn der Arm auf dem Boden aber abgespreizt und gestreckt ist, ist es nicht natürlich. Wenn ein Spieler zum Blocken seine Körperfläche mit den Armen vergrößert, ist das genauso unnatürlich und strafbar.

kicker: Es gibt Stimmen, die durch VAR-Entscheidungen neue Emotionen, neue Spannungsmomente ausgemacht haben. Wie beim letztjährigen DFB-Pokalfinale, als kurz vor Schluss alle Zuschauer und Akteure beim Stand von 2:1 für Frankfurt der Entscheidung von Felix Zwayer in der Review Area entgegengefiebert haben, ob es nun Elfmeter für Bayern gibt oder nicht. Ist es nur eine Frage der Gewöhnung an den VAR?

Rosetti: Ja, so etwas erzeugt große Emotionen. Vor drei Jahren haben wir diskutiert, dass der VAR die Emotionen zerstören wird. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, wir haben doppelt so viele Emotionen. Am Anfang waren wir sehr besorgt wegen der Zeit. Jetzt spricht aber niemand mehr über die Zeit.

kicker: Was meinen Sie?

Rosetti: Für die entscheidende Szene eines Spiels ist eine Minute und 30 Sekunden nichts. Wir verlieren acht Minuten pro Spiel für Freistöße, sieben Minuten für Einwürfe, vier Minuten für Eckbälle. Das wichtigste ist, für ein verlässliches und korrektes Hilfsmittel für die Schiedsrichter zu arbeiten.

kicker: Es scheint, als ob sich die Probleme und Themen vom Rasen hin zu den Monitoren verlagern. Ist das die Zukunft des Fußballs?

Rosetti: Das ist uns bewusst. Was aber sehr wichtig ist: Wir wollen weiterhin, dass der Schiedsrichter auf dem Platz im Zentrum des Entscheidungsprozesses steht und er die finale Entscheidung fällt. Der VAR kann bei faktischen Entscheidungen – Abseits ja oder nein, Foul im oder außerhalb des Strafraums – vorschlagen und der Schiedsrichter trifft die endgültige Entscheidung ohne zum Monitor gehen zu müssen. Aber alle subjektiven Fälle bei denen dem VAR ein klarer Beweis vorliegt, muss der Schiedsrichter selbst am Monitor bewerten. Weil er das Spiel fortsetzen und den Akteuren erklären muss, was passiert ist. Sonst sagen die Spieler, wer ist der VAR? Wo ist er? Wir sehen ihn nicht. Wer ist noch bei ihm?

kicker: Wo wird der VAR in der Champions League beheimatet sein? Wird es Videocenter wie Köln in der Bundesliga oder Moskau bei der WM geben?

Rosetti: Nein, sie werden im Stadion sitzen.

kicker: Werden die Fans im Stadion auch die relevanten VAR-Szenen auf den Leinwänden sehen können oder gibt es wie in der Bundesliga nur Textgrafiken?

Rosetti: Es wird wie in der Bundesliga nur Textgrafiken geben.

kicker: Ist es in Planung, den Fans im Stadion Szenen zu zeigen?

Rosetti: Das ist ein junges Projekt. Wir arbeiten daran, die Transparenz und die Objektivität zu steigern. Das könnte in Zukunft dazugehören.

kicker: Wie viele Personen umfasst ein Video-Team?

Rosetti: Ein VAR, ein Assistent des VAR, ein Operator und ein Assistent des Operators plus ein UEFA-Offizieller im Hintergrund, der lediglich den Grund für ein Review und dann die finale Entscheidung per Tablet an die jeweilige Stadionregie und die TV-Sender kommuniziert und nicht in den Entscheidungsprozess involviert ist.

Interview: Carsten Schröter-Lorenz und Manfred Münchrath