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Garnbret warnt vor "nächsten Generation an Skeletten" - Druck auf Kletterverband wächst

Essstörungen im Sportklettern

Garnbret warnt vor "nächsten Generation an Skeletten" - Druck auf Kletterverband wächst

Positioniert sich klar für strenge Regularien: Olympiasiegerin Janja Garnbret.

Positioniert sich klar für strenge Regularien: Olympiasiegerin Janja Garnbret. IMAGO/CTK Photo

Anfang Juli gab es in der Medical Commission der IFSC (MedCom) zwei personelle Veränderungen. Mit dem Vorsitzenden Eugen Burtscher und Volker Schöffl traten zwei langjährige und prägende Figuren des Gremiums aus Protest zurück, weil sie als Sportmediziner den Umgang  mit dem Thema Essstörungen bei Athleten und vor allem Athletinnen in verantwortlicher Funktion nicht mehr länger mittragen konnten.

"Als Konsequenz der Untätigkeit der IFSC trete ich umgehend von meiner freiwilligen Position als Mitglied der Medical Commission zurück. Ich schließe mich damit dem Präsidenten der Medical Commission (Burtscher, d. Red.) an", begründete Schöffl seinen Schritt via Instagram vor einigen Wochen. 

Die Relevanz von Körpergewicht: Klettern die offensichtlichste Sportart

Konkret geht es bei den genannten Essstörungen um das "Relative Energy Deficiency in Sport", kurz RED-S. Bei verschiedenen Sportarten kann die Leistungsfähigkeit durch eine bewusst herbeigeführte Reduzierung des Körpergewichts zunächst gesteigert werden. Neben dem Skispringen oder bei den Bergfahrern im Profi-Radsport ist aber vor allem das Klettern die offensichtlichste Sportart, bei der das Körpergewicht eine elementare Auswirkung auf das Ergebnis haben kann.

Das Gefährliche dabei: Athleten rutschen aus einem natürlichen Bewusstsein für das eigene Körpergewicht in eine Essstörung, die sich zur Sucht entwickeln kann, der so genannten "Anorexia athletica". Schöffl, neben seiner seit 2009 andauernden Tätigkeit bei der IFSC zugleich Teamarzt der deutschen Spitzenkletterer beim DAV, begleitet diese Erkrankung seit Jahrzehnten. 

RED-S ist speziell bei jungen Frauen die tödlichste Suchterkrankung, weil es langristig alle Körperfunktionen betrifft.

Volker Schöffl

 "Mit RED-S habe ich in meiner Praxis fast täglich zu tun. Aber auch im Weltcup geht es um die Spitzenathleten. Man muss wissen: Die Auswirkungen von RED-S merkt man nicht mit 22, sondern erst deutlich später, so mit 35 bis 40. Und dann ist diese Sucht fast auch nicht mehr therapierbar. RED-S ist speziell bei jungen Frauen die tödlichste Suchterkrankung, weil es langristig alle Körperfunktionen betrifft", sagte der Bamberger Sportmediziner Anfang Oktober 2022 in dem Podcast "Bin-weg-Bouldern".

Hoffnungen auf Vorbildrolle des Sportkletterns vorerst enttäuscht

Zu diesem Zeitpunkt rechnete Schöffl noch fest damit, dass das Executive Board der IFSC die Empfehlungen der Medical Commission befolgen würde. Gerade auch, weil das Sportklettern mit Tokio 2021 die olympische Bühne betrat, hoffte Schöffl, dass das Sportklettern beim Thema Essstörungen/RED-S "sich vernünftig positionieren" und so eine Vorbildfunktion für andere Sportarten einnehmen könne.

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Ende des Jahres 2022 sprach Schöffl noch davon, dass Medical Commission und das Executive Board "alle in einem Boot" sitzen würden, denn "uns allen ist die Brisanz dieses Themas völlig klar". Vorangegangen waren 2022 enorme Anstrengungen der MedCom: Schöffl und seine Kollegen hatten bei allen Weltcups die Athleten im Vorfeld des Wettkampfes untersucht, um eine valide Datengrundlage zu schaffen.

Ein erster Indikator war der Body Mass Index (BMI) sowie das Vermessen im Sitzen, "weil das bei kleineren Athleten etwas fairer ist", so Schöffl, der darauf hinweist, dass neben der Ermittlung des BMI weitere Verfahren wie zum Beispiel die  Ultraschall-Messung des Körperfettgewebes durchgeführt wurden. Mit diesen Screenings wurde zudem festgestellt, dass die RED-S-Gefährdung bei Sportkletterern am deutlichsten ausgeprägt ist.

Knackpunkt BMI und fehlende Rechtsgrundlage

Auf dieser Datengrundlage machte das Gremium entsprechende Vorschläge für eine Überprüfung der Athleten vor den Wettkämpfen 2023, weil es zu verhindern galt, dass der Verband im Falle von Wettkampfsperren von gefährdeten Athleten in Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden würde. "Wir sehen Athleten und Athletinnen und jeder sagt, um Gottes Willen, wie könnt ihr sie starten lassen, aber uns fehlt das Werkzeug, um sie auszuschließen", erklärt Schöffl die Wichtigkeit von Rechtssicherheit bei diesem Thema.

Anfang Juli teilte das Executive Board der IFSC mit, dass es den Rücktritt von Burtscher und Schöffl zur Kenntnis nehme und stellte fest, dass der Weltverband nicht gewillt sei, "allein auf Grundlage des BMI" Maßnahmen zum Schutze einzelner Athleten einzuleiten. Medzinische Tests in der laufenden Weltcup-Saison fielen weitestgehend aus, dafür kündigte der IFSC an, für 2024 eine "komplettierte RED-S-Policy" an den Start zu bringen. Schöffl sieht darin eine Verzögerungs- und Verschleppungstaktik - ein Kurs, den der DAV-Teamarzt "aufgrund der akuten Dringlichkeit" nicht mehr gewillt war, mitzugehen.

Heiß diskutiertes Thema bei den Athleten

Klar ist auch, dass das Thema nicht nur auf Verbandsebene hinter verschlossenen Türen heiß diskutiert wird, sondern auch im Kreis der Athleten und Athletinnen. So wurde ein kritischer Beitrag der Co-Moderatorin Alannah Yip (29, Kanada) zu RED-S beim Weltcup in Innsbruck von der IFSC zensiert, DAV-Athlet Alex Megos (29) spricht von einem "riesigen Thema unter uns Sportlern".

Wollen wir die nächste Generation von Skeletten heranziehen?"

Janja Garnbret

Und nun meldete sich auch Janja Garnbret zu Wort und stellte via Instagram die drastische Frage, "ob wir die nächste Generation von Skeletten heranziehen wollen", die Slowenin versah ihren Post mit dem Aufruf "Let's not look away".

Die seit 2016 mit Abstand erfolgreichste Athletin (Olympiasiegerin 2021, sechs WM-Titel, drei EM-Titel 2022, 40 Weltcup-Siege im Lead und Bouldern) könnte mit ihrer Stimme den Druck auf die IFSC massiv erhöhen. "RED-S Untersuchungen sollten bei allen Weltcup- und Europacup-Teilnehmern verpflichtend werden", so die 24-Jährige, die sich zudem ganz klar für Wettkampfsperren aussprach, sollten die von den Experten der Medical Commission gesetzten Schwellenwerte nicht erreicht werden.

Wenige Tage vor Beginn der Weltmeisterschaften im Sportklettern in Bern (1. bis 12. August) und mit der dadurch beginnenden Olympia-Qualifikation für Paris 2024 erreicht das Thema RED-S die nächste Aufmerksamkeitsschwelle. Mindestens.

Bernd Staib

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