Champions League

BVB gegen Malaga 2013: Nachrufe für den Mülleimer

Ein Erlebnisbericht

Nachrufe für den Mülleimer: Dortmunds Entfesslungsakt gegen Malaga

Besonderer Rahmen eines besonderen Spiels: Borussia Dortmund gegen den FC Malaga 2013.

Besonderer Rahmen eines besonderen Spiels: Borussia Dortmund gegen den FC Malaga 2013. imago sportfotodienst

Laut offizieller UEFA-Statistik dauerte dieses vollkommen irre, verrückte, unvergessliche, abgefahrene, atemberaubende Spiel 94:01 Minuten. Aber geredet wird nur über vier, seien wir großzügig: maximal über zwölf Minuten. Über die Zeit zwischen Malagas Führungstor (1:2, 82., Eliseu) und dem dramatischen Schlussakkord, der in die Geschichte eingeht als ein Entfesselungsakt, wie ihn der große Harry Houdini nicht besser hätte hinbekommen können.

Die Atmosphäre im Stadion an diesem Abend: einzigartig. Fiebrig. Erwartungsfroh. Das beginnt mit einer spektakulären Choreographie auf der Südtribüne ("Auf den Spuren des verlorenen Henkelpotts") und entlädt sich in einem furiosen, unfassbaren Finale. Es steht 1:2, nach dem torlosen Unentschieden im Hinspiel ist Borussia Dortmund eigentlich mausetot. Zwei Tore müssen her, um doch noch ins Halbfinale einzuziehen. Das ist nicht unmöglich, aber wenig wahrscheinlich. Im BVB-Netradio überträgt Danny Fritz das Spiel, er sitzt auch ein paar Wochen vorher am Mikrofon, als seine Borussia ein verloren geglaubtes Spiel in der Meisterschaft noch dreht. Aus Aberglauben lässt ihm Stammkommentator Boris Rupert den Vortritt.

So laut wie bei einem Rockkonzert

Der Signal Iduna Park (vorher: Westfalenstadion) hat viele phänomenale Spiele erlebt. Malaga toppt bis hierhin alle(s). Mittelfeldmann Sven Bender spürt eine "einzigartige Energie", sobald die Borussia die Mittellinie überschreitet. Die Fans feiern jede Aktion, jeden Ballgewinn, jeden Zweikampf, während Malagas Fußballer gnadenlos ausgepfiffen werden. Längst ist es so laut wie bei einem Rockkonzert, uns scheppern die Trommelfelle, nie stimmte die Floskel von den Fans als "zwölftem Mann" mehr als am 9. April 2013. Auf der Pressetribüne hacken die Journalisten ihre Texte in den Computer, für sie ist es ein Kampf gegen die Uhr, sie müssen mit dem Schlusspfiff fertig sein, es sind Nachrufe auf Borussia, die in diesen Augenblicken Gestalt annehmen.

Dortmund gegen Malaga 2013

Mit dem 2:2, das Marco Reus in der ersten Minute der Nachspielzeit schießt, halten die Reporter inne. Vorher hat Stadionsprecher Nobby Dickel die Zuschauer eindringlich schon auf vier Minuten Nachspielzeit eingeschworen, Danny Fritz traut sich an seinem Mikrofon zum ersten Mal, von einem Wunder zu träumen. Von einem weiteren Tor. Vom Happy End. Der Glaube ist zurück. Auf Dortmunds Bank bricht Hektik aus. Jürgen Klopp ist an der Linie nicht mehr zu bändigen, er pusht seine Jungs, peitscht sie nach vorn. In der Champions League trägt Klopp Anzug, Lackschuhe - und keine Kappe, eine Jacke mit dem Klublogo schützt ihn vor der aufziehenden Kälte.

Felipe Santana trifft gegen Malaga

Der Schlussakkord: Felipe Santana (#27) erzielt - aus Abseitsposition - das 3:2. Bongarts/Getty Images

Dortmund hat auf dem Weg ins Viertelfinale jedes Heimspiel für sich entschieden. Siege gegen Ajax Amsterdam (1:0), Real Madrid (2:1), Manchester City (1:0) und Schachtar Donezk (3:0) sind der Prolog jenes thrillerartigen Stückes, das jetzt zur Aufführung gelangt. Der Sekundenzeiger in der Uhr von Schiedsrichter Thomson (Schottland) befindet sich schon auf seiner vorletzten Runde, als der Ball noch einmal durch den Strafraum der Spanier flippert. Felipe Santana stochert ihn über die Linie, aber allen kommt es so vor, als habe der Brasilianer dabei unsichtbare Hilfe in Anspruch genommen. Und nicht das Schiedsrichterteam ist gemeint, das bei diesem Treffer (wie auch bei Eliseus 1:2) klare Abseitspositionen übersieht. Es sind die Zuschauer, die den Ball ins Tor brüllen. "Mannschaft und Fans haben ihn gemeinsam über die Linie gedrückt", sagt Sven Bender.

Das Jammern der Spanier

Der Signal Iduna Park wird zum Tollhaus. Danny Fritz flippt aus, er muss sich in diesen Sekunden eine Stimmbandzerrung zugezogen haben: "Tor! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor! Tor!" Zehnmal schreit er das magische Wort in die Nacht. Auf den Rängen vollführen die Zuschauer Sprungspektakel wie unter einer Zirkuskuppel, die Emotionen explodieren. Dortmunds Spieler kugeln über den Rasen, begraben Santana in einer Jubeltraube unter sich, es herrscht die totale Ekstase. "Wir rasten alle aus", bölkt Danny Fritz. Klopp wähnt sich "kurz vor einem Herzinfarkt", Boss Hans-Joachim Watzke stammelt: "Ich bin fix und fertig." Die Spanier jammern nach ihrem 69-Sekunden-Tod über die "historische Grausamkeit" (Marca) und fordern später durch ihren Besitzer Abdullah Al Thani "internationale Ermittlungen" wegen angeblichen Betruges.

Die Kollegen auf der Pressetribüne haben ihre Nachrufe für den Mülleimer geschrieben. Eilig formulieren sie ihre Texte nach dieser Achterbahnfahrt um. Auf dem Platz naschen Dortmunds Spieler vom donnernden Applaus ihrer Fans. "Wir waren noch ewig auf dem Rasen", erinnert sich Bender, "so lange wie selten". Die Ränge leeren sich nur langsam. Die 65.829 Zuschauer - auch diejenigen, die Malaga die Daumen drückten - wissen, dass sie einem magischen Abend beiwohnten. Einem Spiel zwischen Himmel und Hölle. Für solche Dramen ist der Fußball erfunden worden.

Thomas Hennecke

13 verschiedene Klubs, zwei deutsche: Alle Champions-League-Sieger seit 1993