Nationalelf

Löws ziemlich gewagte England-Prognose

Warum das Achtelfinale vielleicht gar nicht "völlig anders" wird

Löws ziemlich gewagte England-Prognose

Joachim Löw und Gareth Southgate trafen mit ihren Teams im November 2017 bereits in Wembley aufeinander - 0:0 endete das Testspiel.

Joachim Löw und Gareth Southgate trafen mit ihren Teams im November 2017 bereits in Wembley aufeinander - 0:0 endete das Testspiel. imago images

Joachim Löw sagte es in weniger als einer Minute gleich dreimal. Gegen England werde es "ein völlig anderes", ja "ein ganz anderes", um nicht zu sagen, "ein anderes Spiel", erklärte der Bundestrainer am Mittwochabend in München.

Erst diese tiefstehenden Franzosen, nun diese zähen Ungarn - so hatte sich die deutsche Nationalelf ihre sogenannte Hammergruppe eigentlich nicht vorgestellt. Nur Spanien (68,7 Prozent im Schnitt) hat die Vorrunde mit noch mehr Ballbesitz abgeschlossen als Löws Team (61,3).

Und so war die Vorfreude aufs EM-Achtelfinale gegen England nach diesem schlottrigen 2:2 riesig: schon auch ein bisschen wegen der Geschichte und wegen Wembley, vor allem aber, weil England nicht Ungarn ist.

Kimmich frohlockt, Neuer spricht das Offensichtliche aus

"Es gibt ein offenes Spiel", ist sich Löw sicher. Während Ungarn "mit zehn Mann um den Sechzehner herumgestanden" und "erst mal alles zugemacht" habe, müssten "die Engländer zuhause sicherlich nach vorne spielen", was seiner Mannschaft entgegenkomme.

"Der Gegner wird in einer anderen Ausrichtung spielen", frohlockte auch Joshua Kimmich und freute sich "ehrlicherweise drauf", während Manuel Neuer den offensichtlichsten Unterschied zwischen dem sonnendurchfluteten 4:2 gegen Portugal und dem verregneten 2:2 gegen Ungarn aussprach: "Uns liegen spielstärkere Mannschaften mehr."

Doch genauso, wie sich der "Guardian" am Donnerstag wunderte, dass diese "wahnsinnig unberechenbare, unterhaltsame, wechselhafte" deutsche Mannschaft immer noch als "eine Art erbarmungslose Siegmaschine" dargestellt werde, überraschen die eindeutigen England-Urteile auf deutscher Seite.

England schafft EM-Novum - und Pickford hat bis jetzt kaum Arbeit

Während Deutschland in allen drei Spielen in Rückstand geriet, genügten dem Team von Gareth Southgate zwei Treffer von Raheem Sterling, um die Gruppe D zu gewinnen, das hatte es in der EM-Geschichte noch nie gegeben. Nur Finnland, Schottland und die Türkei verzeichneten bei dieser EURO noch weniger Tore, nur Ungarn und Finnland noch weniger Abschlüsse. Und Torwart Jordan Pickford musste in drei Spielen nur vier Bälle parieren. Wer ist hier spielstark? Wer rücksichtslos?

In der Anti-Hammergruppe um Kroatien, Schottland und Tschechien musste sich Southgate immer wieder für die minimalistischen, uninspirierten Auftritte seiner Elf rechtfertigen, teilweise herrschte in Wembley Testspielatmosphäre. "Gegen schwächere Mannschaften defensiv zu spielen", schrieb der "Guardian" spöttisch, "ist vielleicht eine gute Übung, um gegen stärkere Mannschaften defensiv zu spielen."

England bei dieser EM - mehr Frankreich und Ungarn als Portugal

Englands Fußball in der Vorrunde passte nicht zu der Offensivqualität, für die Harry Kane, Phil Foden und viele andere in ihren Klubs stehen. Er war dem von Frankreich und Ungarn näher als dem von Portugal. Und weil die drei deutschen Spiele nicht unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen wurden, wäre es eine Überraschung, wenn sich dieses Bild just im Achtelfinale, bei Englands erstem "sehr harten Test" (Jordan Henderson) dieser EM, plötzlich ändern sollte.

Im Gegenteil: Mit José Mourinho und Gary Neville empfahlen bereits zwei TV-Experten Southgate, am Dienstag (18 Uhr, LIVE! bei kicker) zur 2020 oft favorisierten Dreierkette zurückzukehren, um der DFB-Elf bloß keine Räume auf den Flügeln zu bieten. Dazu passt, dass sich dieses englische Team, das in den jüngsten neun Länderspielen achtmal ohne Gegentor geblieben ist, grundsätzlich dann am wohlsten fühlt, wenn es aus seiner sicheren Defensive heraus schnell umschalten darf; auf Ballbesitz setzt es mangels Kreativität im Mittelfeld nur, wenn es der Gegner gar nicht anders zulässt.

Löws Prognose vom völlig anderen, offenen Spiel ist also schon ziemlich gewagt. Gut möglich, dass die englische Auswahl die Vorfreude der deutschen sogar mit einem höflichen Gedanken vernommen hat: Die Freude ist ganz unsererseits.

Was für ein Spiel erwarten Sie am Dienstag? Diskutieren Sie mit!

Jörn Petersen