Int. Fußball

Gehirntraining: Liverpools "Mentalisten" betreten Neuland

Wie Gehirntraining Liverpools Standards auf ein höheres Niveau bringt

Klopps "Mentalisten": "Sind wir das Komischste, was du je gesehen hast?"

Niklas Häusler (li.)  und Patrick Häntschke haben Liverpool-Kapitän Jordan Henderson verkabelt.

Niklas Häusler (li.) und Patrick Häntschke haben Liverpool-Kapitän Jordan Henderson verkabelt. Andrew Powell/LFC

Was vor über vier Jahren mit einem langen Gespräch zweier Freunde aus Jugendzeiten am Kölner Hauptbahnhof begann, fand in der Saison 2021/22 seine vorläufigen Höhepunkte im Londoner Wembley Stadium. Zweimal bezwang dort der FC Liverpool den FC Chelsea in einem Elfmeterschießen. 11:10 im Ligapokalendspiel, 6:5 im FA-Cup-Finale. Gleich darauf machte Jürgen Klopp die Arbeit zweier Deutscher lobend publik ("Ihr Einfluss ist unglaublich"). Niklas Häusler, promovierter Neurowissenschaftler, und dessen Partner Patrick Häntschke, ein ehemaliger Regionalligaspieler, die beiden Köpfe des Potsdamer Start-ups "neuro11", hätten ihren Anteil gehabt an diesen Erfolgen.

Im Sommertrainingslager vor einem Jahr im französischen Evian-les-Bains begannen Häusler und Häntschke, regelmäßig mit Klopps Kader zu arbeiten. Ihre spezielle Methode ist das Training des Gehirns und der optimalen mentalen Zustände. Seither agieren Stars wie Mohamed Salah, Trent Alexander-Arnold oder Jordan Henderson in Liverpools Trainingszentrum in Kirkby oder in der Saisonvorbereitung in Österreich mitunter verkabelt - beim Trainieren von Eckstößen, Freistößen und eben Elfmetern.

"Genauso wie es die optimalen Laufwege gibt, gibt es auch die optimalen Abläufe im Gehirn"

Es geht darum, bestimmte Hirnzustände zu identifizieren für die optimale Mentalität und den richtigen Fokus auf bestimmte Abläufe. "Kontrolliere Dein Gehirn, wenn’s wirklich zählt", lautet ihr Leitspruch. Sie wollen die Profis in die "Zone" bringen, in der bei den persönlichen Abläufen in Standardsituationen rein gar nichts mehr stört und Bewegungen optimal ausgeführt werden. Zwei Jahre nach der Kontaktaufnahme mit Klopp 2019 wurden die ersten Liverpooler Profis mit Elektroden versehen, um ihre Gehirnströme bei den entsprechenden Übungen zu vermessen.

Häusler (33) erklärt das so: "Genauso wie es die optimalen Laufwege gibt und im Kraftraum die optimalen Trainingspläne, gibt es auch die optimalen mentalen Abläufe im Gehirn. Wenn ich mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn unterwegs bin, will ich dabei nicht nach rechts gucken und mich über meine Mitfahrer aufregen. Ich muss mich einzig auf diesen Moment am Steuer konzentrieren. Darum geht es im Prinzip auch bei der optimalen Ausführung von Standardsituationen."

Das Ziel sei, die Spieler in ihren jeweiligen "Flow" zu bekommen, "einen mentalen Zustand, in dem sie weder besonders erregt noch besonders entspannt sind". Mittels der Messungen und eigens entwickelten psychometrischen Tests werde für jeden Einzelnen ein individuelles Vorgehen erarbeitet, mit dem er jegliche Ablenkung in allen möglichen Situationen neutralisieren könne. Frei nach dem Motto: Was schert’s Alexander-Arnold, wenn ihn die Masse an der Eckfahne aus nächster Nähe niederzubrüllen versucht?

Ebenso könne mit dem neurowissenschaftlich-basierten Training die Genauigkeit optimiert werden, was individuelle Lösungen voraussetze. "Der eine möchte nur einen Fixpunkt anvisieren, wie den Ball oder eine Torecke beim Freistoß. Der andere muss zwischen verschiedenen Fixpunkten hin- und herschalten, um in seinen optimalen Moment für die Ausführung zu kommen." In der Zusammenarbeit entwickele sich eine besondere Dynamik, auch unter den Spielern, "die viel voneinander lernen".

"Jeder Spieler kann entscheiden, ob er das machen möchte"

Jetzt, im Trainingslager in Saalfelden, erkundigte sich Häusler beim Greenkeeper: "Sind wir das Komischste, was du je gesehen hast?" Die Antwort gefiel dem Doktor der Neurowissenschaften: "Seit 17 Jahren hat der Mann viele Trainer und Mannschaften erlebt. Das Erste, an das er sich erinnern kann, war der Sprinthügel. Danach sah er immer wieder andere Sachen. Er betrachtet das einfach als Evolution."

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So möchte Häusler die moderne Methode von "neuro11" verstanden wissen, auch von den Spielern. "Wir geben jedem Spieler seine Zeit und er kann entscheiden, ob er das machen möchte. Es ist für uns ein großes Lob, dass mittlerweile fast alle, die mit uns begonnen haben, mit einer monatlichen Regelmäßigkeit auch weitermachen." Neueinsteiger zu überzeugen und zu begeistern, falle nicht schwer. "Wer zum Beispiel Mo mit uns sieht und wie positiv er das Training annimmt und es in entscheidenden Momenten in der Saison anwendet, der will das auch machen."

Hinzu kommt die enge Zusammenarbeit nicht nur mit Klopp, sondern auch mit dessen Assistenten Peter Krawietz und Pep Lijnders. Gerade die Abstimmung mit Krawietz hat in der Bearbeitung von Eckbällen eine besondere Bedeutung. "Wir müssen flexibel sein und passen uns dem Fitnesszustand der Spieler sowie dem an, was die Trainer uns vorgeben für die weiten Freistöße, die Ecken oder die Elfmeter." Mehrfach hat Klopp in der vergangenen Saison die Wirksamkeit von Krawietz‘ Eckstoßvarianten hervorgehoben.

Die Verbesserung von Standardsituationen durch die zusätzliche Fokussierung der Spieler auf die speziellen Abläufe dank der Arbeit von "neuro11" werden auch von Daten belegt. Der Austausch mit Krawietz sei sehr eng. "Wir müssen ja auch Anweisungen bekommen, wohin die Flankengeber und -empfänger letztlich schießen sollen." Diese intensive und abgestimmte Kommunikation mit den Standardtrainern des Vereins trägt letztendlich maßgeblich zum Erfolg des Trainings bei.

Hochindividueller Ansatz ist der Schlüssel

"Natürlich liegt vor einem Pokalendspiel der Fokus auf den Elfmetern. Das Wichtige ist aber, dass man damit nicht in der Woche vor dem Finale beginnt, sondern über das ganze Jahr verteilt und regelmäßig daran arbeitet", so Häusler. "So erhält man die Zeit, sich auf jeden einzelnen Akteur einzustellen und ein individuell zugeschnittenes Trainingsprogramm durchzuführen. Dieser hochindividuelle Ansatz ist der Schlüssel. Jeder Spieler erhält genau das, was ihm für diese sehr intensiven Momente bestens vorbereitet."

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Dass sie beim Kontakt mit anderen Klubs oft nicht an die Spezialisten für Standardsituationen, sondern an die Sportpsychologen verwiesen wurden, haben die beiden Deutschen mehr als einmal erlebt, wie Häntschke (34) berichtet, der für Cottbus, Türkiyemspor und den Berliner AK spielte. "Wir müssen bei unserem Training ein Verständnis dafür schaffen, das es bei uns rein um 'mental performance' und nicht um 'mental health' geht. Das Training findet direkt auf dem Platz statt und unsere Arbeit wird direkt an dem Output in den Spielen gemessen. Deshalb sind die Chef- und Standardtrainer unsere besten Ansprechpartner."

"Wir sehen uns als Add-on, so dass der Klub sein Training nicht verändern muss"

Die praktische Anwendung der Neurowissenschaften in dieser Form sei im Profifußball Neuland. Nachdem Klopp ihnen sein Vertrauen schenkte und die Chance beim LFC gab, "kriegen wir von internationalen Vereinen und von Verbänden, jetzt natürlich auch im Vorfeld der WM, viele Anfragen", berichtet Häntschke. Auch Athleten und Akteure anderer Sportarten und Manager aus der Wirtschaft hätten sich gemeldet.

"Aber Fußball ist ein komplett anderes Business im Vergleich zur normalen Wirtschaft. Wir wollten immer ein Training entwickeln, das nicht im Labor oder am Computer, sondern auf dem Platz durchgeführt wird. Wir sehen uns als Add-on, so dass der Klub, in diesem Fall der FC Liverpool mit Jürgen und seinem Trainerteam, sein Training nicht verändern muss", sagt Häntschke.

Was Häusler so bekräftigt: "Du kannst eine neue Methode aus der Forschung nehmen und sie per Handy oder Laptop vermitteln. Aber ein Topspieler wie Salah will auf dem Platz trainieren. Das zählt, dort passiert der Transfer ins Stadion und zum Wettkampf." Was wörtlich zu nehmen ist. Häusler und Häntschke sind, wenn sie in Liverpool arbeiten, vormittags mit den Toptalenten in der LFC-Academy und nachmittags bei den Stars der ersten Mannschaft.

Was Jürgen Klopp über die Arbeit von "neuro11" sagt, lesen Sie im großen Interview - im aktuellen kicker vom Montag oder hier als eMagazine.

Jörg Jakob