Champions League

Klopps Erinnerungen an "das größte Spiel aller Zeiten"

Das deutsche Champions-League-Finale 2013

Klopps Erinnerungen an "das größte Spiel aller Zeiten"

An jedem Finaltag nur zweiter Sieger: Jürgen Klopp.

An jedem Finaltag nur zweiter Sieger: Jürgen Klopp. imago images/AFLOSPORT

Karl-Heinz Rummenigge stand auf dem Münchner Flughafen am Zugang zur Maschine, die die Mannschaft des FC Bayern nach London flog zu einem Fußballspiel, das zu Recht als historisch gerühmt werden darf. Diese Dienstreise führte den deutschen Rekordmeister zum Endspiel in der Champions League. Für diesen finalen Wettstreit um die begehrteste Trophäe in Europas Klubfußball hatten sich erstmals zwei deutsche Mannschaften qualifiziert. Diese Konstellation möge sich jeder Zeitgenosse auf Lebenszeit im Gedächtnis bewahren, riet vor dem Abflug der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern, Rummenigge; diese bisherige Einmaligkeit werde es "nie mehr geben". Seine Prophezeiung war zugleich eine Warnung, die sich in der folgenden Dekade bestätigen sollte.

Ein deutsches Champions-League-Finale, dazu in Wembley - mehr ging nicht.

Bundestrainer Hansi Flick

Doch zunächst dominierte die Glückseligkeit des Augenblicks. "Wochenlang" habe in Deutschland "eine besondere Stimmung" geherrscht, "viel Vorfreude", erinnert sich Hansi Flick (58) - heute der Bundestrainer, damals dessen Assistent - dieser Tage im Gespräch mit dem kicker an jene Sternstunde des deutschen Klubfußballs. "Ein deutsches Champions-League-Finale, dazu in Wembley - mehr ging nicht."

Am Finaltag selbst war die englische Hauptstadt fest in deutscher Hand, laut Behörden befanden sich weit mehr als 100.000 deutsche Fans in der Stadt, der "Independent" nannte es die  "größte deutsche Invasion seit dem fünften Jahrhundert". Das nasskalte Wetter der vergangenen Tage hatte sich verzogen, sogar die Sonne lugte bei annehmbaren 15 Grad immer wieder hinter den Wolken hervor. Am Piccadilly Circus tummelten sich schon morgens die Dortmunder Fans in Scharen, schwarz-gelbe Doppeldeckerbusse drehten immer wieder ihre Runden.

Klopp und der nötige Mut

Während die Anhänger der Borussia dem Abend entgegenfieberten, wuchs am frühen Nachmittag bei Jürgen Klopp die Nervosität: "Nach dem Mittagessen bist du drei, dreieinhalb Stunden allein auf dem Zimmer. Das ist der Höhepunkt der Anspannung, da ist richtig Druck auf dem Kessel", erzählt der Coach im Interview mit dem kicker. "Und wenn wir zehn Jahre später noch darüber reden, muss etwas Großartiges passiert sein."

Großartig aus Sicht des BVB war vor allem die erste halbe Stunde. Vor dem Finale hatte Klopp, der mit dem BVB 2012 das Double geholt hatte, gesagt, es hänge "alles davon ab, wie mutig wir auftreten. Wie frech, konsequent und diszipliniert wir unseren Plan umsetzen". Und die Borussia nahm die Bayern im traditionsreichen Wembley Stadium anfangs so richtig in den Schwitzkasten, attackierte aggressiv, betrieb hohen Aufwand und hatte Chancen zur Führung.

Nicht auszudenken, wenn wir wieder nicht gewonnen hätten. Wir hatten eindeutig mehr zu verlieren als Dortmund.

Bastian Schweinsteiger

Den Münchnern indes war nach dem verlorenen Champions-League-Finale 2010 gegen Inter Mailand (0:2) und der bitteren Niederlage 2012 gegen den FC Chelsea im "Finale dahoam" (3:4 i. E.) die Anspannung deutlich anzumerken. "Gegen Dortmund spürte ich in den ersten 25 Minuten den berühmten Rucksack, einige Mitspieler ebenso", erinnert sich Bastian Schweinsteiger auch zehn Jahre danach noch bestens an die Drucksituation. "Nicht auszudenken, wenn wir wieder nicht gewonnen hätten. Wir hatten eindeutig mehr zu verlieren als Dortmund."

Doch spätestens nach der Pause änderte sich auf dem Rasen das Bild, nach einer Stunde traf Mario Mandzukic für die Münchner zum 1:0. Und selbst Ilkay Gündogans Strafstoß zum 1:1 (68.) hatte bei Schweinsteiger die Zuversicht nicht erschüttert. "Ich war immer vom Sieg überzeugt und spürte, dass es unser Tag sein würde", erzählt der achtmalige deutsche Meister. "Der Blick in alle Gesichter unserer Mannschaft und aller im Staff bestätigte mich. Und beim Elfer schaute ich auf die Stadionuhr und dachte, 25 Minuten bleiben noch. Gegen Chelsea hatten wir 2012 nicht mehr so viel Zeit gehabt."

Champions-League-Finale 2013

Bastian Schweinsteiger bekam es im Mittelfeld mit Ilkay Gündogan und Sven Bender zu tun. Getty Images

Und Schweinsteiger sollte recht behalten, in der 89. Minute glückte ebenjenem Arjen Robben das 2:1, der ein Jahr zuvor im Champions-League-Finale in der fünften Minute der Verlängerung einen Strafstoß vergeben hatte. "Ich glaube, dass sich der Fußball für den entscheidet, der es auch verdient hat", betont der 38-Jährige. Arjen hatte in der Liga in Dortmund 2012 am 30. Spieltag kurz vor Schluss schon einen Elfmeter verschossen, wir verloren 0:1, der BVB wurde Meister. Und nun traf er. Was für eine Fügung! Sein Torjubel sprach Bände."

Und wenn wir schon verlieren sollten, wollten wir das mit unserer Art Fußball tun.

Jürgen Klopp

Die Körner, noch einmal zurückzukommen, hatten die Dortmunder nicht mehr. "Dass wir zu viel gewollt haben, glaube ich nicht", entgegnet Klopp auf die Frage, ob der BVB zu früh zu viel gewollt und überdreht habe. "Dass wir Körner gelassen haben, ist logisch. Wir wollten als Mannschaft, die einen hochintensiven Stil pflegte, einfach unseren Fußball spielen. Mit etwas anderem hatten wir keine Erfahrung", erklärt der heutige Coach des FC Liverpool, der zu den größten seiner Branche zählt, auch wenn er drei seiner vier Champions-League-Finals verloren hat. "Für alle von uns war es das größte Spiel aller Zeiten. Und wenn wir schon verlieren sollten, wollten wir das mit unserer Art Fußball tun."

Das Finale von Wembley

Zwei Wochen vor dem historischen Finale hatte BVB-Boss Hans-Joachim Watzke noch gesagt, dass "es nicht das Entscheidende ist, ob wir am Ende gewinnen oder verlieren. Wir müssen nur nach dem Finale sagen: Wir als Borussia Dortmund haben alles aus uns herausgepresst." Mit dem Wissen um die Ereignisse im Jahrzehnt nach Wembley würde Watzke diese Aussage mittlerweile nicht mehr treffen. "Vielleicht", betont er heute, "vielleicht hätten wir noch deutlicher den Anspruch erheben müssen, das Spiel unbedingt zu gewinnen." Das, meint Watzke, wäre "die ultimative Möglichkeit gewesen, die Kräfteverhältnisse im deutschen Fußball in eine andere Richtung zu schieben. Das haben wir damals nicht in dieser Schärfe erkannt." Aber niemand habe 2013 vor einer Hegemonie in Deutschland gewarnt, "für den Fall, dass wir verlieren".

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Während Klopp und Watzke nach dem Schlusspfiff viel trösten mussten, jubelte auf der anderen Seite ein Mann, der sich nach einer titellosen Saison 2011/12 und einer deftigen 2:5-Packung gegen die Borussia im DFB-Pokal-Finale 2012 Fragen gefallen lassen musste, ob die Bayern-Mannschaft überhaupt noch an den Trainer glaube: Jupp Heynckes. "Bei uns in München forderte und förderte die Verletzung, die wir im Endspiel 2012 gegen Chelsea erlitten hatten, die entsprechende Reaktion", erzählt Heynckes in seiner kicker-Kolumne zum zehnten Jahrestag des deutschen Finales. "Vom ersten Trainingstag an war zu spüren, dass jeder Einzelne - Mannschaft, Staff, Trainercrew, der gesamte Verein - diese schmerzliche Niederlage korrigieren wollte. Nie in meinem langen Trainerleben habe ich ein Team erlebt, das so professionell, konsequent und ambitioniert auf ein Ziel hingearbeitet hat. Alle sagten: Jetzt erst recht!"

Aus der größten Enttäuschung meines Lebens habe ich die größte Motivation und Kraft gefiltert.

Jupp Heynckes

Heynckes hatte 1998 mit Real Madrid die Champions League bereits gewonnen, nach dem 3:2-Finalsieg im DFB-Pokal über den VfB Stuttgart eine Woche nach dem Coup von Wembley krönte er seine Trainerlaufbahn mit dem Triple, dem ersten für den FC Bayern. "Mein seinerzeit proklamiertes Karriereende nach knapp 50 Jahren im Profifußball hatte die optimale Abrundung erfahren", bilanziert der 78-Jährige. "Wie so oft in meinem Leben hatte ich aus der größten Enttäuschung meines Lebens, dem Finale dahoam, die größte Motivation und Kraft gefiltert."

Jupp Heynckes

Ab auf die Tanzfläche: Jupp Heynckes. AFP via Getty Images

Und nicht nur Heynckes konnte mit diesem Triumph etwas geraderücken. Auch Schweinsteiger und Bayerns Kapitän Philipp Lahm, die als die Gesichter der "Loser-Generation" galten, weil sie das Finale der Europameisterschaft 2008 sowie besagtes Endspiel 2012 in München verloren hatten, konnten ihr Negativimage korrigieren. Es war ihr erster Schritt in die sportliche Unsterblichkeit, ein Jahr später machten sie sich mit dem WM-Gewinn definitiv zu Legenden, genauso Manuel Neuer, Jerome Boateng, Thomas Müller, Mats Hummels, Toni Kroos und alle anderen Weltmeister. Was 2013 dank der Bayern und der Dortmunder über dem europäischen Klub-Fußball leuchtete, erstrahlte 2014 global: "Fußball made in Germany" war der Qualitätsbegriff schlechthin.

Wir haben das andere glorifiziert und waren so falsch verliebt in diese Ansichten, dass wir die eigene Identität und wesentliche Grundlagen vergessen haben.

Matthias Sammer

Warum Deutschlands Fußball jedoch, anders als prophezeit, keine Ära in Europa prägte, hat viele Gründe. Einige nennt Matthias Sammer, von 2012 bis 2016 Sportvorstand beim FC Bayern und aktuell Berater bei Borussia Dortmund. Hierzulande sei es "überhaupt nicht gelungen, aus der vorhandenen Qualität das Optimum herauszuholen", analysiert Sammer. Beim Auftrag, aus dem individuellen Spieler das Beste herauszuholen und daraus eine Mannschaft zu bilden, "haben wir gnadenlos versagt". Der Blick über die Grenzen habe laut Sammer dazu geführt, "dass wir das andere glorifiziert haben, wir waren so falsch verliebt in diese Ansichten, dass wir die eigene Identität und wesentliche Grundlagen vergessen haben".

Auf 17 Seiten lässt der kicker in der Montagsausgabe und im eMagazine das historische Finale von 2013 wieder aufleben durch aktuelle Interviews mit Jürgen Klopp und Bastian Schweinsteiger, eine Kolumne von Jupp Heynckes, eine Aufarbeitung von BVB-Boss Hans-Joachim Watzke. Einordnungen von Hansi Flick, Matthias Sammer, Ralf Rangnick, Felix Magath und dem italienischen Weltmeister Giuseppe Bergomi, warum der deutsche Fußball keine Ära prägen konnte, runden die große Strecke ab.

Karlheinz Wild, Thomas Hennecke

13 verschiedene Klubs, zwei deutsche: Alle Champions-League-Sieger seit 1993