Junioren

Oliver Kirch im Interview über die deutsche Jugendarbeit

Hamburgs U-19-Trainer Oliver Kirch im Interview zum Kinder- und Jugendfußball

"Kinder sollten unterschiedlichste Bewegungserfahrungen machen können"

Oliver Kirch an der Seitenlinie der U 19 des HSV. 

Oliver Kirch an der Seitenlinie der U 19 des HSV.  IMAGO/Patrick Ahlborn

Im kicker hat eine Gruppe um U-20-Nationaltrainer Hannes Wolf kürzlich konkrete Ideen zur Verbesserung des Kinder- und Jugendfußballtrainings in Deutschland vorgestellt. Oliver Kirch, Ex-Profi und heute U-19-Trainer des Hamburger SV, hat das Interview mit Interesse gelesen - und sich seinerseits Gedanken darüber gemacht, wie die Übergänge zwischen den jüngeren und älteren U-Jahrgängen sowie dem Profi-Bereich reibungsloser gestaltet werden können. Im kicker stellt der 40-Jährige, der unter anderem mit Borussia Dortmund in der Champions League spielte, sie vor.

Herr Kirch, U-20-Nationaltrainer Hannes Wolf und andere haben jüngst im kicker eine Reform des Kinder- und Jugendtrainings in Deutschland gefordert - und praktische Anleitungen dazu gleich mitgeliefert. Sie haben sich in den vergangenen Jahren im Rahmen Ihrer Trainer-Ausbildung im Ausland umgeschaut. Wie stehen Sie zu der Idee, wieder stärker das Dribbling in den Fokus des Trainings zu rücken?

Ich kann sie nur begrüßen, denn ich halte es für wichtig, dass wir in den ersten Jahren der Ausbildung wegkommen von taktischen Inhalten und die Kinder stattdessen dazu bringen, in kleinen Spielformen viele Entscheidungen treffen zu müssen. In Belgien beispielsweise wird in der U 6 nur im Zwei-gegen-Zwei gespielt, Drei-gegen-Drei in der U 7 und Fünf-gegen-Fünf in der U 8. Dadurch hat jeder einzelne Spieler viel mehr Aktionen mit dem Ball.

Sie haben beim FC Liverpool hospitiert und sich die Nachwuchsakademie dort angeschaut. Wie läuft es dort?

Auch in England steht im Kindesalter das Dribbling vor dem Pass. So wird in Liverpool in den ersten Jahrgängen nur gedribbelt. Später wird der Blick erweitert: Ach, da sind ja auch noch Mitspieler, zu denen ich passen kann. Dann geht es um das richtige Timing und die richtige Entscheidungsfindung. Denn du kannst das Spiel mit dem Ball auf jedem Niveau auf drei Bereiche herunterbrechen: Aufs Dribbeln, Passen und Schießen. Dazu musst du das Spielgerät beherrschen - und dich deshalb früh mit dem Ball vertraut machen. Ein anderer Aspekt aber darf gerade im jungen Alter meiner Meinung nach nicht vernachlässigt werden.

Deshalb findet er immer Lösungen.

Oliver Kirch über Mario Götze

Welcher?

Man sollte das Bewegungstalent schulen und Kinder deshalb in unterschiedliche Sportarten hereinschnuppern lassen, damit sie in dynamischen Situationen mit den Bewegungsabläufen vertraut werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich habe im Urlaub auf Mallorca mit Mario Götze Padel gespielt und hatte dabei nicht den Hauch einer Chance. Weil Mario über ein enormes Bewegungstalent verfügt. Das war bereits zu erkennen, als ich damals in Dortmund mit ihm zusammengespielt habe. Er findet sich in jeder Sportart zurecht, weil er über ein unglaublich ausgeprägtes Körpergefühl verfügt. Seine Bewegungen gehorchen ihm und seinem Instinkt. Deshalb findet er immer Lösungen. Das eint ihn mit anderen Topspielers wie Kai Havertz, Jamal Musiala oder Florian Wirtz.

Das Problem ist: Dieses Talent muss früh gefördert werden. Von älteren Jahrgängen kann man nicht mehr verlangen, etwaige Defizite in diesem Bereich aufzuholen. Das Lösen von komplexen Spielsituationen, in denen ich gleichzeitig Räume, Mitspieler, Gegenspieler, Bewegungen, Tempo wahrnehmen und bewerten muss, während ich neben meinen eigenen Bewegungen auch noch den Ball kontrollieren muss - das wird dann auf hohem Level unmöglich.

Ist da nicht auch der Schulsport gefordert?

Natürlich spielt das Angebot eine Rolle. In der Schule. Oder auch schon früher in der Kita. Kinder sollten generell häufiger unterschiedlichste Bewegungserfahrungen machen können. Für die älteren Jahrgänge ist dann entscheidend, dass sich Schule und Sport kombinieren lassen. Der Faktor Zeit ist elementar. Das sehe ich in der täglichen Arbeit mit den Talenten beim HSV.

Da gibt es in Deutschland an vielen Standorten in meinen Augen noch Nachholbedarf.

Oliver Kirch über Kooperationen mit Schulen

Wie läuft es in der U 19 bei Ihnen?

In der Regel kommen die Spieler zwischen 17.15 Uhr am Campus an und verlassen ihn gegen 20 Uhr. In dieser Zeit müssen wir innerhalb des Trainerteams individuell, athletisch und mannschaftstaktisch mit ihnen arbeiten. Doch wir müssen auch eine persönliche Beziehung mit ihnen aufbauen. Das sind viele Inhalte für eine begrenzte Zeit. Wenn es dann, wie in anderen Vereinen, Kooperationen mit den zuständigen Schulen gibt, die drei bis fünf zusätzliche Trainingsstunden am Vormittag möglich machen, hilft das sehr. Da gibt es in Deutschland an vielen Standorten in meinen Augen noch Nachholbedarf.

Diskutiert wird in Deutschland auch immer wieder über den falschen Fokus auf Ergebnisse. Haben Sie auch in Bezug darauf Erfahrungen im Ausland gemacht?

Ja, wir testen mit dem HSV beispielsweise häufiger gegen dänische Teams. Immer wieder hören wir dann: "Bei euch ist das Resultat ja ganz schön wichtig …" Wenn ich auf unsere Staffel schaue: Da spielen 17 Mannschaften, von denen sechs absteigen. Allein daran erkennt man, welchen Stellenwert das Ergebnis hat. Gleichzeitig wird von uns aber auch erwartet, dass wir Talente für den Profibetrieb ausbilden. Unserer Überzeugung nach bedeutet das, möglichst früh talentierte Jungs in den nächsthöheren Mannschaften einzusetzen. Dass die individuellen und mannschaftlichen Ziele so manchmal schwer zu vereinen sind, versteht sich von selbst.

Kirch sieht dänisches Modell als Vorbild 

Wie ist das in Dänemark geregelt?

Dort gibt es eine Liga für die Nachwuchsleistungszentren, aus der niemand absteigt. Es wird nur ein Meister ausgespielt. Die Vereine beschäftigen außerdem durchgehend Trainer für den Übergang vom Jugend- in den Profibereich - wie es beispielsweise auch Dortmund mit Otto Addo macht. Auch in Freiburg funktioniert das sehr gut. Nico Schlotterbeck etwa wurde dort von Julian Schuster, dem Koordinator für Talentförderung des SC, auch dann noch individuell betreut, als er bereits Nationalspieler war. Wenn du das innerhalb eines Klubs zu deiner Kultur machst und es aktiv vorlebst, wird das kein Spieler der Welt ablehnen. Doch noch etwas anderes gefällt mir am dänischen Modell.

Und das wäre?

Es gibt in den Klubs auch jemanden, der die Entwicklung der Trainer im Blick hat und als eine Art Mentor fungiert.

Wie konkret?

Indem er den Trainern dabei hilft, die Philosophie des Klubs mit ihrem individuellen Ansatz in Einklang zu bringen und sich inhaltlich, aber auch mit Blick auf die Sozialkompetenzen weiterzuentwickeln. Die Entwicklung hört schließlich nicht mit der letzten Trainerprüfung auf. Die beste Möglichkeit, um zu wachsen, liegt am Arbeitsplatz, in der täglichen Praxis. Auch beim DFB hat man dieses Thema inzwischen erkannt und angegangen. Davon habe ich im Rahmen meiner Pro-Lizenz-Ausbildung selbst profitiert. Ich finde, dieser Weg könnte auch für die Klubs interessant sein. Moderne Unternehmen handeln schließlich ähnlich: Auch sie bilden ihre Talente weiter, damit aus ihnen Top-Führungskräfte werden.

Bei uns steht die Weiterentwicklung der Spieler im Vordergrund.

Oliver Kirch

Sie haben ihre Pro-Lizenz-Ausbildung bereits angesprochen. Sie stecken gerade mittendrin und arbeiten gleichzeitig als Trainer der U 19 des HSV. Wie gut lässt sich dieser Spagat bewältigen?

Das funktioniert gut. Die Präsenzphasen wurden im Vergleich zu den Lehrgängen vor einigen Jahren deutlich reduziert. Wir treffen uns in der Regel einmal im Monat für drei bis vier Tage, in denen wir sehr intensiv in verschiedene Themen eintauchen. Dazwischen haben wir Aufgaben, die wir zu Hause oder mit der eigenen Mannschaft durchführen. Die Inhalte, die wir dort vermittelt bekommen, sind super wertvoll. Der Austausch mit unseren Ausbildern, den Trainerkollegen und den Experten, die regelmäßig zu unseren Lehrgängen stoßen, ist sehr bereichernd. Gleichzeitig war die Aufgabe mit dem HSV sehr anspruchsvoll, aber ich denke, wir haben da gute Arbeit abgeliefert.

Ihre U 19 landete am Ende der Saison auf Rang drei und qualifizierte sich damit direkt für den DFB-Pokal der Junioren.

Das stimmt. Das war ein toller Erfolg, aber bei uns steht die Weiterentwicklung der Spieler im Vordergrund. Unsere aktuellen U-19-Spieler kommen bislang auf rund 70 Einsätze bei der U 21 in der Regionalliga-Nord, es sind regelmäßig Jungs im Training der Profis dabei, unser Stürmer Tom Sanne hat bereits sein erstes Tor in der zweiten Bundesliga geschossen. Solche Geschichten freuen uns natürlich besonders.

Kirch sieht seine Zukunft im Profifußball

Im Sommer endet ihr Vertrag. Wie geht es weiter mit Ihnen?

Ich bin darüber im Austausch mit unserem Sportvorstand Jonas Boldt und Horst Hrubesch, dem Leiter des NLZ. In unseren Gesprächen werden wir feststellen, welche Perspektiven beide Seiten auf die Zukunft haben. Was ich für mich sagen kann: Der Schritt, zum HSV zu gehen, war genau der Richtige für meine Weiterentwicklung. Die Arbeit mit den Jungs und meinem Trainerteam macht extrem viel Spaß. Dazu habe ich einen guten Austausch mit dem Trainerteam der Profis um Tim Walter, mit denen ich einmal pro Woche auf dem Platz stehe. Für mich steht aber auch fest, dass ich im Profi-Fußball arbeiten und mittelfristig den nächsten Schritt in diese Richtung gehen möchte. Wenn ich im Dezember die Pro-Lizenz abschließe, ist der letzte Grundstein dafür gelegt.

Lesen Sie dazu auch das Interview von Hanno Balitsch, Herrmann Gerland und Hannes Wolf

Interview: Matthias Dersch