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Michael Höller sammelt "Lost Grounds" des Fußballs

Interview

Jäger des verlorenen Platzes: Michael Höllers "Lost Grounds" des Fußballs

Michael Höllers Lieblings-Ground: Der Sportpleinstraat in Tongeren, Belgien.

Michael Höllers Lieblings-Ground: Der Sportpleinstraat in Tongeren, Belgien. Höller

Flüge und Bahnverkehr eingestellt, Grenzen dicht, der Ball im Amateurbereich ruht - nicht die beste Zeit für Groundhopper, oder Herr Höller?

Michael Höller: Andererseits haben jetzt eben "Lost Grounds" Konjunktur. Weil keine Spiele mehr besucht werden können, besucht man halt öfter leere oder verlassene Stadien oder kramt mal in den hintersten Ecken seines Fotoarchives. Auch in meiner Facebook-Gruppe kann ich einen wahren Boom bei den Mitgliederzahlen erkennen.

Wie fing Ihre Begeisterung für verfallene Orte an?

Höller: Das erste entsprechende Foto, an das ich mich erinnern kann, begegnete mir Anfang der 90er Jahre im Buch "The Football Grounds of Europe" von Simon Inglis. Mit der Überschrift "Broken glass and fading dreams at the Klokke, old home of Club" war dort ein Schwarz-Weiß-Bild der alten Tribüne des Albert-Dyserynck-Stadions in Brügge abgebildet: Ein scheinbar aus der Zeit gefallener Bau mit ausladendem Dach, fast komplett fehlenden Glasscheiben und mit schon teilweise heruntergefallenen Fassadenblechen, an denen sich noch die Buchstaben RFCB befanden. Das Foto fand ich total faszinierend. Schon damals hab ich sehr bedauert, dass es die "Klokke", wie das Stadion im Volksmund hieß, nicht mehr gab.

Konnten Sie mit der Bezeichnung "Lost Grounds" damals überhaupt schon etwas anfangen?

Höller: Nein, erst vor rund zehn Jahren fiel mir auf, dass immer mehr Stadien, die ich selbst noch mit Spielen erlebt hatte, verschwanden. Es dauerte dann einige Zeit, bis ich auf den passenden Begriff kam. Ich begann, auf meiner Website eine eigene Rubrik einzurichten und die mit Fotos zu füttern. Die ersten Bilder waren Scans von Papierfotos, die ich früher an der Maine Road, im Ali Sami Yen oder im Züricher Hardturm gemacht hatte...

"Diese Bilder haben meines Erachtens eine tragische Dimension"

Doch verschwundene Orte sind das eine, verschwindende Orte das andere…

Höller: Ja, denn weitaus interessanter als diese damals noch intakten Stadien fand ich meine Aufnahmen von Grounds, bei denen ich rein zufällig vor Ort war, als dort die Bagger die Tribünen einrissen: 1988 am Olympiastadion Rom oder 2003 am Estadio de Alvalade. Diese Bilder haben meines Erachtens eine tragische Dimension. Orte, wo sich einst tausende Menschen ihren Emotionen hingaben, die teilweise ihr Leben prägten, wurden rückstandslos platt gemacht und ausgelöscht. Diese Endgültigkeit fand ich sehr brutal.

In den Jahren haben Sie - ganz "hoppertypisch" - sogar eine bestimmte Systematik entwickelt...

Höller: Ich habe für mich fünf Kategorien ausgemacht. Zu der ersten gehören die Stadien, von denen nichts mehr übrig geblieben ist und an deren Stelle heute Wohnhäuser oder Supermärkte stehen. Genau genommen sind nur solche Grounds tatsächlich "Lost Grounds" im Sinne von "für immer und ewig verloren". Aber ich finde, diese Auslegung ist zu streng. Zur zweiten Kategorie gehören Orte, an denen noch das ehemalige Gelände - Mauerreste, Torgestänge oder Kassenhäuschen - zu erkennen sind. Der dritten Kategorie gehören die Plätze oder Stadien an, die größtenteils erhalten geblieben sind, die aber aufgegeben und verlassen wurden und die jetzt von der Natur zurückerobert werden. So ein Zustand kann aber auch nur temporär sein. "The Valley" etwa, das Stadion von Charlton Athletic, stand zwischen 1985 und 1992 leer und vergammelte. Danach wurde es wiederbelebt, die Phase als "Lost Ground" war vorbei. Dann gibt es als viertes Grounds, die noch mehr oder weniger gut in Schuss sind, die aber keinen Spielbetrieb mehr haben. In der fünften Kategorie finden sich die Grounds, die abgerissen wurden und an deren gleicher Stelle ein Neubau entstand. Da wird es knifflig. Nach meiner Überzeugung ist die Spielfläche das entscheidende bei der Bewertung, ab wann ein Ground als "Lost" gilt oder eben nicht. Ist also die Positionierung der Spielfläche erhalten geblieben und haben sich nur die Tribünen drum herum verändert, dann ist der Ground nicht neu... Aber es gibt auch Spezialfälle, in denen ich mein Bauchgefühl entscheiden lassen muss.

Und welche Kategorie besuchen Sie am liebsten?

Höller: Ich denke, für alle am interessantesten und faszinierendsten sind die Objekte der dritten. Zwar nehme ich auf meinen Touren alles mit, doch den aufgegebenen, verlassenen Plätzen und Stadien mit vergammelten und überwucherten Tribünen, mit durch Vandalismus zerstörten Klubräumen, mit Unkraut oder gar Bäumen zugewachsenen Spielflächen und vergammelten Spielerbänken gehört meine ganze Leidenschaft. Dann erst geht mein Herzschlag nach oben, mein Körper schüttet beim Erforschen vor Ort kräftig Adrenalin aus. So scheinbar banale Dinge wie die alte Beschriftung einer Umkleide für den Schiedsrichter, aus der Zeit gefallene Werbetafeln, ein abblätterndes Vereinswappen auf einer Spielerbank oder eine besondere Fliese in der Bar eines Vereinsheimes können mich dabei fast in Ekstase versetzen.

Vergessen, verloren, verzaubert: Lost Grounds des Fußballs

Haben Sie auch diesen einen "eigenen" verlorenen Ort?

Höller: Mein Vater hat mir früher oft erzählt, wie er sich als Kind zu Fußballspielen in den Kradepohl geschmuggelt hatte. Das war ein unscheinbarer Ascheplatz in meiner Heimatstadt Bergisch Gladbach, an dem ich schon tausende Male mit der S-Bahn vorbeigefahren sein muss. Inzwischen parken dort Autos. Ich wusste natürlich schon, dass es dort früher hoch her gegangen sein muss, als der SV Bergisch Gladbach 1953 Deutscher Amateurmeister wurde und hier seine Heimspiele austrug. Es gibt Quellen, die von 16.000 Besuchern sprechen. Das fand ich total verrückt - und schade, dass die besondere Bedeutung dieses kümmerlichen Aschenplatzes nur noch älteren Gladbachern bekannt war. So kam ich auf die Idee, dass man doch an dieser Stelle eine Gedenktafel aufstellen könnte; Ende 2011 wurde sie dann enthüllt.

Springen wir nochmal in der Zeit zurück: Ab wann ging es für Sie nicht mehr nur um einzelne Erlebnisse? Wie wurde daraus eine strukturelle Herangehensweise?

Höller: Ab 2012 habe ich mir zur Angewohnheit gemacht, wenn ich zum Groundhopping fuhr, vorher herauszufinden, ob es vielleicht in der Stadt einen solchen "Lost Ground" geben könnte. Zumindest in den großen Städten war immer damit zu rechnen. Ich hab dann irgendwann angefangen, mir auf Google eine eigene Karte anzulegen und dort alle Grounds, von denen ich erfuhr, einzutragen. Wenn ich dann mal irgendwo zum Fußball unterwegs war, konnte ich zumeist vor dem Spiel noch ein, zwei in der Gegend abklappern...

Und dann programmieren Sie im Navi einfach einen Umweg ein?

Höller: Nein, meist bin ich allein mit Bahn und (Leih-)Fahrrad unterwegs. Ich hab nämlich kein Auto. Aber mir macht es besonders Spaß, wenn man sich so einen Ground mit Organisationstalent und Muskelkraft regelrecht erkämpfen muss. Besonders ist mir da der Platz an der Rue de la Scierie im belgischen Opont in Erinnerung geblieben. Ab dem Bahnhof Graide bin ich mit dem Fahrrad los, hab mich natürlich im Wald verirrt und war froh, wieder auf einer befestigten Straße zu sein. Aber ich war unzweifelhaft in den Ardennen gelandet und hatte einige für mein Alter und BMI brutal langanhaltende Steigungen zu bewältigen. Es war drückend heiß, ich hatte kein Trinkwasser mehr und war mit meiner Puste vollkommen am Ende. Umso wertvoller, dass ich es trotzdem bis Opont (und zurück zum Bahnhof Carlsbourg) geschafft hab, denn der Ground mit seiner einzigartigen Tribüne ist eine wahre Perle (Bild Nr. 27, d.Red.). Wasser musste ich mir unterwegs erbetteln...

"Mir macht es Spaß, wenn man sich so einen Ground regelrecht erkämpfen muss"

Sie schneiden es an: Neben Bildern sammeln Sie sicher ebenso viele besondere Geschichten?

Höller: Eines meiner intensivsten Erlebnisse hatte ich 2012 während der EURO in Posen. Nach dem Spiel Irland gegen Kroatien habe ich mit einem Kumpel das alte Stadion von Warta Poznan aufgesucht (Bild Nr. 11, d.Red.). Der Ground ist riesig und von einem großen Wall umgeben. Um ins Innere zu gelangen, mussten wir an ein paar Leuten und ihrem verkrüppelten Hund vorbei, die in einem Verschlag hausten. Eine Futterspende erleichterte den Leuten die Entscheidung, uns im Stadion umsehen zu lassen. Es war total geil! Die Tore hatten gepflegte Netze, und auf dem Rasen hätten robuste Hobbykicker noch eine Partie austragen können. Aber die Ränge waren unter einem grünen Gürtel vollständig verschwunden. Nur wenn man genau hinsah, konnte man die steinernen Fundamente und Halterungen der Holzbänke erkennen. Das Teil steht übrigens noch heute da.

Und was haben Sie so in Deutschland erlebt?

Höller: 2018 war ich in Leipzig auf dem Gelände des Sportplatzes des ehemaligen jüdischen Vereins SK Bar Kochba, der 1939 durch die Nazis zwangsaufgelöst wurde. Bis 1990 hatte den Platz die unterklassige BSG Aktivist Nord genutzt. Jetzt war die Fläche brachliegendes Bauland. Ich lief also dort herum und fand plötzlich einen merkwürdigen Gegenstand. Es war ein Tintenfass aus Keramik, das in einem Lehmklumpen steckte. Ich stelle mir vor, dass das schöne Teil tatsächlich seit 1939 hier im Erdreich verborgen geblieben sein könnte...

Haben Sie auch unangenehme Erfahrungen gemacht?

Höller: Richtig gefährlich wurde es 2014 auf den Azoren. In Ponta Delgada habe ich mit meinem dreijährigen Sohn Martin einen kurzen Spaziergang unternommen, mir war ein "Lost Ground" aufgefallen, der direkt an einer neuen Umgehungsstraße lag (Bild Nr. 35, d.Red.). Wir brauchten nur über ein Mäuerchen zu klettern. Die netzlosen Tore standen noch da, und der ganze Platz war hüfthoch mit Gras bewachsen. Ich machte eine Fotoserie, wobei ich mir das Highlight, zwei vor einem Tor weidende Kühe, bis zum Schluss aufbewahren wollte. Wir wollten gerade zu den Kühen gehen, als ich weitere schwarz-weiße Tiere bemerkt habe, die aber wesentlich kleiner waren. Es waren Bullterrier, Wachhunde. Ich ging mit meinem Sohn möglichst langsam zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren, als ich begriffen habe, dass die Hunde auf uns zuliefen. Panisch hab' ich mir Martin unter den Arm geklemmt und bin losgerannt. Gerade als ich ihn über das Mäuerchen geworfen hatte und selbst drüber gehechtet bin, waren die Köter bei uns - echte Killermaschinen! Ich danke allen Mächten des Universums, dass es diese Kreaturen nicht über das Mäuerchen geschafft haben. Zum Glück hat Martin von der Gefahr gar nichts mitbekommen...

Michael Höllers erste Groundhopping-Tour - "obwohl man bis dahin noch nie von Groundhopping gehört hatte" - ging 1989 nach Barcelona. Der heute 50-Jährige ist Bayern-Mitglied und Vater von vier Kindern, "Hobby und Familienleben zu verbinden, ist stets eine schmale Gratwanderung", sagt er, "doch ich habe eine sehr verständnisvolle Frau, die mir den Rücken für meine Touren freihält. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit, eine Balance zu halten ist sehr wichtig." privat

Interessierten empfiehlt Michael Höller - neben dem Besuch seiner Website - auch die Lektüre der Bücher "Rasen der Leidenschaften - Die Fussballplätze von Berlin" von Christian Wolters sowie "Es war einmal ein Stadion..." von Werner Skentry.

Jan Mauer