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Jupp Heynckes im Interview über DFB-Team, Italien und Löw

Ehemaliger Trainer zieht EM-Bilanz

Heynckes im Interview: "Ich bekomme Zustände, wenn ich das sehe"

Liefen sich öfter über den Weg: Joachim Löw und Jupp Heynckes.

Liefen sich öfter über den Weg: Joachim Löw und Jupp Heynckes. picture alliance / dpa

Herr Heynckes, war das Endspiel England gegen Italien ein würdiger Abschluss dieser Europameisterschaft?

Das Spiel war taktisch geprägt und spannend bis zum Abpfiff. Das 1:1-Unentschieden war gerecht. Und Elfmeterschießen ist immer auch Glückssache, eine Lotterie. Aber Italien war ohnehin die Mannschaft des Turniers. Diese Mannschaft hat sich Respekt und Sympathien erworben.

Wie gefiel Ihnen diese EM insgesamt?

Die elf Spielorte bedeuteten, gerade unter Corona-Bedingungen, enorme Reisestrapazen. Die Belastung war ungleich verteilt. Sehr kritisch bewerte ich, dass die UEFA und einzelne Länder in dieser Pandemie so viele Zuschauer zuließen, vor allem in London und Budapest. Über 60.000 Menschen im Stadion sind inakzeptabel. Aber da schlägt eben die Geldgier der UEFA durch. Unverständlich ist zudem, dass in Ländern gespielt wird, in denen Menschenrechte verletzt werden.

Welche sportlichen Erkenntnisse brachte dieses Turnier?

Äußerst positiv empfand ich, dass einzelne Nationen ihre Leidenschaft und ihren Zusammenhalt mit selbstloser Hingabe auf dem Platz auslebten. Außenseiter wie Dänemark, die Schweiz, Österreich, Tschechien oder Ungarn präsentierten sich fantastisch. Sie bewiesen, dass sich der Fußball nicht nur über System, Taktik, Organisation und Passspiel definiert, sondern dass die Emotion eine ganz wesentliche Komponente darstellt. Und ganz wichtig ist der Teamgeist: Es müssen alle 26 Spieler - auch wenn diese Zahl zu hoch ist und 22 Mann reichen würden - einbezogen werden. Italien lieferte dafür das Vorbild. In Dänemark wuchs nach dem Drama um Christian Eriksen, das uns alle erschüttert hat, eine ganze Nation zusammen. Diese Solidarität der Dänen gibt einem fast schon den Glauben an die Menschen zurück, dass sie in Extremsituationen doch zusammenstehen.

Da schlägt eben die Geldgier der UEFA durch.

Heynckes über Viele Zuschauer in London und Budapest

Was hat Italien so gut gemacht?

Diese große Fußballnation erlebte eine Renaissance. Roberto Mancini hat seit 2018 die Squadra Azzurra wiederbelebt, zahlreiche Spieler getestet und in seinem Kader Harmonie auf dem Platz und außerhalb geschaffen. Da greift alles ineinander. Diese Mannschaft ist eine Einheit. Es war immer mein Credo, dass Erfolg nur möglich ist, wenn alle alles dafür tun. Wenn ich sehe, wie die italienischen Spieler die Hymne singen, nein: schmettern, spüre ich diese Begeisterung und Spielfreude. Ich fühlte mich an das WM-Endspiel 1982 erinnert, als in Madrid Staatspräsident Alessandro Pertini vor dem Finale bei der Hymne immer wieder eingeblendet wurde: Da war es genauso. Aber entscheidend ist der Architekt, der Trainer.

Wie hat Italiens Coach Mancini die Squadra Azzura, die bei der WM 2018 nicht qualifiziert war, in drei Jahren geformt?

Er hat die Mannschaft über drei Jahre geformt und komplettiert, fußballspezifisch wie charakterlich. Jeder Spieler hatte seine Bestimmung im ganzen System. Mit Gianluca Vialli spielte er bei Sampdoria Genua und wurde 1991 Meister, im Jahr danach kamen sie bis ins Europacup-Finale, das sie gegen Barcelona in der Verlängerung 0:1 verloren. Ich saß damals mit dem Präsidenten von Athletic Bilbao im Wembley-Stadion. Mancini und Vialli harmonierten auf dem Feld bestens. 30 Jahre später holte Mancini seinen kranken Ex-Kollegen zurück als Delegationschef. Was für eine großartige Geste! Sie war eine Inspiration für alle. Vialli hören die jungen Spieler voller Ehrfurcht zu. Mancini erkannte: Fußball funktioniert nicht nur über Ballbesitz und Taktik, sondern es braucht das Menschliche, die Kommunikation. Symptomatisch ist für die Squadra Azzurra, dass sie auf dem Flug zurück vom Viertelfinale gegen Belgien in München den dort schwerverletzten Spinazzola hochleben ließ und Mancini sagte: Er war er beste Spieler der EM, er wird es bleiben.

Was macht das Spiel der Italiener aus?

Wie Arrigo Sacchi bei Milan den Fußball in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre revolutioniert hat, so tat es nun Mancini. Er war als Spieler ein Feingeist, ein Aristokrat am Ball und hat nun auf der Basis einer stabilen Defensive eine offensive, vertikale Spielweise, die mit Elan und Tempo interpretiert wird, implementiert. Der Ball wird, wann immer möglich, schnell in den freien Raum gespielt. Mancini ist da genauso stilbildend wie es einst Sacchi, Johan Cruyff, Sir Alex Ferguson, Ernst Happel, Louis van Gaal, José Mourinho, Ottmar Hitzfeld oder Pep Guardiola waren.

Was zeichnet Englands Fußball aus?

England hat ein enormes Reservoir an jungen Spielern, das längst nicht ausgeschöpft ist, von der robusten, stabilen Abwehr angefangen bis hin zu den wendigen, sehr schnellen, dribbelstarken Stürmern. Die Premier League hat die Wettkampfstärke dieser Spieler enorm gestärkt. Auch Gareth Southgate brauchte Zeit für die Abläufe. Vorteilhaft waren zudem die vielen Spiele vor eigenem Publikum in London.

Waren die Topfavoriten aus Frankreich zu überheblich?

Nein. Frankreich hatte, vor allem nach der 3:1-Führung gegen die Schweiz, nicht mehr die Aufmerksamkeit zur Defensive, nicht diese Mentalität von 2018, nicht wie jetzt Italien, England, Spanien. Die Franzosen waren sich zu sicher, dass ihre Fülle an Topspielern reichen werde.

Welt-Fußballer Robert Lewandowski musste sich nach den Gruppenspielen verabschieden, Kylian Mbappé und Cristiano Ronaldo im Achtelfinale. Ist die Zeit der Superstars vorbei und Teamwork das neue Erfolgsmittel?

Nein. Ronaldo zeigte wieder seine Klasse. Lewandowski riss im letzten Gruppenspiel Polen mit, hat da aber nicht die Mitspieler wie in München.

Welche Spieler fielen Ihnen besonders auf?

Spaniens Pedri ist ein Ausnahmetalent, schon mit 18 Jahren superklasse. Italiens Lorenzo Insigne zeigte sich wie ausgewechselt. Giorgio Chiellini und Leonardo Bonucci verkörpern alles, was den italienischen Fußball ausmacht. Auch die Spanier, die mehr Talent haben als Italien, überzeugten mit ihrer erneuerten Truppe, der die Zukunft gehört.

Ich hätte auch Jerome Boateng, den besten Innenverteidiger der vorigen Saison, geholt.

Heynckes

Fehlten der deutschen Mannschaft alle diese Elemente?

Diesen außergewöhnlichen Mannschaftsgeist, der 2014 in Brasilien herrschte, habe ich vermisst, diesen Zusammenhalt, diese gegenseitige Unterstützung, dass alle mitfieberten: So kann man keinen Erfolg haben. Alle Teams litten unter Corona, aber Mancini, Gareth Southgate, Luis Enrique, der Däne Kasper Hjulmand - um nur einige zu nennen - haben vorbildlich ein Team vorbereitet: Das habe ich bei der deutschen Mannschaft vermisst. Deswegen ist sie zu Recht ausgeschieden. Außer gegen Portugal kam von der Mannschaft keine Leidenschaft, Besessenheit und Emotion rüber. So kannst du in einem Turnier nicht erfolgreich sein.

War es richtig, Mats Hummels und Thomas Müller zu reaktivieren?

Wenn man sie reaktiviert, hätte man mehrere Vorbereitungsspiele zur optimalen Integration gebraucht, also schon die März-Partien. Und ich hätte auch Jerome Boateng, den besten Innenverteidiger der vorigen Saison, geholt.

Sie waren ein großer Förderer von Toni Kroos. Wie bewerten Sie seinen Rücktritt?

Diesen Schritt muss man respektieren. Toni hat eine phänomenale Karriere mit den größten Titeln hingelegt und sich als Spieler und Mensch entwickelt. Er tritt auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft ab, auch wenn die EM nicht optimal lief.

Was lässt sich für den deutschen Fußball von diesem Turnier ableiten?

Die Dreierabwehr kann so gut sein wie die Viererkette, aber jedes System muss perfekt einstudiert sein. Und die großen Trainer haben nicht von einem Spiel zum anderen das System gewechselt oder sogar dreimal während einer Partie. Ich bekomme Zustände, wenn ich das sehe. Ich habe als Trainer die Viererkette favorisiert, weil ich damit einen kreativen Spieler mehr im Mittelfeld hatte und die Elf auf dem ganzen Spielfeld besser postiert war. Im deutschen Fußball ist es ein eklatantes Problem, dass wir keine Außenverteidiger mehr ausbilden – wie einst Breitner, Brehme oder Lahm, auch Vogts und Kaltz. Zudem haben wir keine Innenverteidiger mit Weltklasseformat und keinen Mittelstürmer mit internationaler Klasse, immerhin aber hochtalentierte Außenspieler, Serge Gnabry, Leroy Sané und Timo Werner, die aber mehr anbieten müssen. Kai Havertz ist ein vorderer Mittelfeldspieler mit der Perspektive für eine Weltkarriere.

War die EM - siehe Spanien, Deutschland hier und Polen mit Lewandowski, Tschechien mit Patrik Schick und Kasper Dollberg mit Dänemark dort - ein Plädoyer für den echten Mittelstürmer?

Große Mannschaften brauchen einen Zielspieler, einen ballsicheren Mittelstürmer, der Bälle verarbeitet und so in den Kombinationsfußball einbezogen wird, sodass er dann seine Torjägerqualitäten optimal ausleben kann. Robert Lewandowski ist aktuell der Prototyp, auch Karim Benzema. In Spanien wird Luis Enrique vorgeworfen, dass er Alvaro Morata gegen Italien zu spät einsetzte. Luis Enrique bevorzugt - er selbst spielte auch so - schnelles, kreatives, angriffslustiges Spiel.

Sie lieben Spanien, waren dort lange Trainer . Wie hat Ihnen das neue Spanien gefallen?

Die Spanier praktizieren jetzt Kombinationsfußball - nicht Ballbesitzfußball, kein Ballgeschiebe. Das heißt, sie spielen vertikal, zielorientiert nach vorne oder pflegen das Dribbling über die Flügel, wie es Franck Ribery und Arjen Robben einst taten.

Florian Wirtz

U-21-Europameister und bald ganz oben? Florian Wirtz. picture alliance / SvenSimon

Was kann der neue Bundestrainer Hansi Flick in den anderthalb Jahren bis zur WM 2022 bewegen?

Hansi muss die Kommunikation und die menschliche Komponente fördern - wie er es beim FC Bayern praktizierte. Er muss und wird seinen Charakter einbringen. Die deutsche Nationalmannschaft braucht eine Erneuerung. Sie braucht junge, hochtalentierte Spieler, die sich noch entwickeln können. Sie muss den Weg der Italiener gehen. Man muss den jungen Spielern vertrauen und vor allem mit ihnen arbeiten. Ein spezieller Fall ist Niklas Süle. Wenn er absolut professionell arbeitet und seine Lebensführung seinem Beruf anpasst, wird er ein Innenverteidiger von internationalem Top-Format. Er kann sich jeden Tag beim FC Bayern ein Beispiel an Lewandowski oder Kimmich nehmen. Als Bundestrainer muss ich in die Klubs gehen, mit den Trainern und Spielern Kontakt pflegen. Ein Bundestrainer muss inspirierend für die ganze Bundesliga sein und ein Beispiel geben. Hansi Flick wird das machen.

Welche junge Spieler sehen Sie?

Havertz sowieso, Florian Wirtz, Jamal Musiala, Ridle Baku. In der U 21, die Anfang Juni Europameister wurde, bieten sich einige interessante Jungs an.

Ist die WM 2022 das nächste große Ziel oder erst die Heim-EM 2024?

Katar sollte ein Zwischenziel sein, mehr nicht. Wichtiger ist, dass die Mannschaft erneuert wird. Deshalb muss der Kader 2022 nicht nur auf diese WM ausgerichtet werden, der Erneuerungsprozess einer jungen Mannschaft muss im Vordergrund stehen. Das kann Flick. Und eine WM in Katar ist ohnehin grenzwertig. Deshalb kann man es akzeptieren, wenn die DFB-Auswahl dort nicht unter die ersten vier kommt.

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