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Gilewicz im Interview: "Schon ein Wahnsinn, was Ralf Rangnick mit den Spielern gemacht hat"

Ex-Sportkoordinator Polens über das EM-Duell

Gilewicz im Interview: "Schon ein Wahnsinn, was Ralf Rangnick mit den Spielern gemacht hat"

Radoslaw Gilewicz war zweieinhalb Jahre für den polnischen Verband tätig.

Radoslaw Gilewicz war zweieinhalb Jahre für den polnischen Verband tätig. GEPA pictures

Von Jänner 1999 bis Sommer 2007 ging Radoslaw Gilewicz für den FC Tirol, die Wiener Austria und den FC Pasching in Österreich auf Torjagd und machte sich mit 98 Toren in 241 Bundesligaspielen einen Namen. Insgesamt vier Meistertitel sowie zwei Cupsiege durfte der österreichische Torschützenkönig der Saison 2000/01 bejubeln, ehe der zehnfache Nationalspieler Polens in seine Heimat zurückkehrte.

EM - Gruppenphase - 2. Spieltag

Nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn arbeitete der heute 51-Jährige als Co-Trainer diverser Nachwuchsnationalmannschaften Polens und war von Juli 2018 bis Jänner 2021 als Sportkoordinator auch für das A-Nationalteam seines Heimatlandes mitverantwortlich. Dort erlebte er das letzte Aufeinandertreffen zwischen Polen und Österreich in der EM-Qualifikation vor knapp fünf Jahren hautnah mit und freut sich nun über das Wiedersehen bei der EM. Mit dem kicker hat er über das anstehende Duell, die Ausgangslage und die verteilten Rollen gesprochen.

Nach dem 6:1-Sieg gegen die Türkei haben Sie gemeint, dass Polen aus aktueller Sicht gegen Österreich chancenlos ist. Warum würden sie das ÖFB-Team aktuell so klar über das polnische stellen?

Weil die aktuelle Form natürlich für Österreich spricht. Wir haben aber immer noch gute Spieler in unseren Reihen mit Robert Lewandowski, Piotr Zielinski, Wojciech Szczesny im Tor, der alleine Spiele gewinnen kann und auch Przemyslaw Frankowski, der mit Kevin Danso bei Lens spielt, hat sich sehr gut entwickelt. Wir haben viel Qualität und deswegen sind wir für alle gefährlich. Wir haben vier, fünf sehr guter Spieler mit internationaler Klasse. Wenn die anderen noch dazukommen und wir eine gute Organisation haben, aggressiv sind, wenig zulassen und vorne die Tore schießen, können wir für jeden gefährlich sein. Als Fan hätte ich gesagt, ´wow die drei Mannschaften in unserer Gruppe sind überragend und über uns zu stellen. Aber es ist immer noch Fußball. Da sind 90 Minuten zu absolvieren und wir können hier auch unangenehm für Österreich sein. Auch gegen die Niederlande haben wir uns in der Vergangenheit gut verkauft. Aus österreichischer Sicht darf man Polen nicht unterschätzen, denn wir können uns teuer verkaufen.

Eine ähnliche Euphorie gab es bereits vor der EM 2016 in Frankreich und das ging damals ja wenig gut aus.

Genau. Die einzige Gefahr sehe ich wegen der Statistik. Denn im Moment ist Österreich in der Komfortzone und da muss man natürlich aufpassen. Ich kenne das selbst als Fußballer. Die Euphorie schwappt in Österreich sehr schnell über nach einigen Erfolgen und das kann gefährlich werden. Der 6:1-Sieg gegen die Türkei war zwar ein gutes Spiel, aber kein überragendes und die Euphorie ist dennoch da und alle sagen, das war ein leichtes Spiel. Ralf Rangnick weiß aber ganz genau, wie er mit der Mannschaft jetzt umgehen muss. Das heißt, vorsichtig und demütig bleiben, aber dennoch eine Lockerheit und viel Selbstvertrauen bewahren. Die Konzentration muss hochgehalten werden und man darf sich nicht auf den vergangenen Leistungen ausruhen. Da besteht eine kleine Gefahr, aber Ralf Rangnick ist erfahren genug, um das gut zu managen. Dann sollte nicht so etwas wie 2016 passieren, wo das Team ja ähnlich stark vor der EM performt hat.

Was imponiert Ihnen besonders am Spielstil der Österreicher?

Das Gegenpressing ist überragend und einfach perfekt. Das hat sich Österreich vorher nicht zugetraut und die Mannschaft hat gezeigt, dass sie intensiv über 90 Minuten spielen kann. Jeder weiß, was er machen muss und ist von der ersten Minute - bei Österreich muss man ja sogar sagen von der ersten Sekunde an - für dieses Spiel bereit. Man hat es beim Testspiel gegen die Slowakei gesehen: Da hat es sieben Sekunden gedauert bis man ein Tor erzielt hat. Ab der ersten Sekunde sind alle dabei und halten das bis zum Schluss durch. Auch der breite Kader ist ein großer Vorteil. Da gibt es viele interessante Spieler wie z.B. Romano Schmid. Das sind alles gute Spieler, die auf hohem Niveau spielen können. Überragend ist auch die Geschichte mit Maximilian Entrup. Das ist das beste Beispiel, dass man aus unbekannten Spielern plötzlich internationale Spieler machen kann. Das zeigt auch, dass er keine Spieler unterschätzt, egal wo sie spielen. Er beobachtet nicht nur die ausländischen Ligen, sondern sieht sich auch in Österreich um. Das kann Ralf Rangnick, das ist seine Qualität und zeigt seine perfekte Einschätzung zum Spiel. Als Spieler arbeitest du entweder für ihn und passt zu diesem Konzept oder du bist nicht dabei.

Wie bewerten Sie die Entwicklung der Spieler seit dem Amtsantritt von Ralf Rangnick?

Die Spieler, die er jetzt betreut, haben großes Vertrauen in ihn und sein System. Auch wenn David Alaba nicht dabei ist, springt Maximilian Wöber oder Philipp Lienhart - wenn er topfit ist - ein. Kevin Danso ist nun der Abwehrchef und es ist nur die Frage, wer neben ihm spielt. Das Paar Danso/Alaba war schon überragend. Doch obwohl der Mannschaft der absolute Topspieler fehlt, funktioniert sie trotzdem sehr gut. Denn meiner Meinung nach ist das Team der Star der Mannschaft. Man hat nicht nur ein, zwei Topspieler, sondern eine Menge. Da gibt es auch Christoph Baumgartner oder Michael Gregoritsch, das ist schon ein Wahnsinn, was Ralf Rangnick mit diesen Spielern gemacht hat. Auch Philipp Mwene ist für die linke Seite eine gute Option, nachdem man dort große Probleme hatte und auch Alaba manchmal ungewollt dort einspringen musste. Doch auch hier hat man nun eine sehr gute Lösung gefunden.

Beide Nationen leben von vielen Legionären in ihrem Kader. Welche Mannschaft würden Sie im direkten Spielervergleich stärker sehen?

Puh, das ist schwer einzuschätzen, weil sich im Fußball so viel innerhalb weniger Monate ändert. Das beste Beispiel ist Marcel Sabitzer. Er war vor einigen Monaten nicht so gut und jetzt ist er überragend. Da sieht man, dass er seine alte Form wieder findet und seine Qualität beweist. Wir haben aber auch sehr starke Profis. Robert Lewandowski erlebt zwar zurzeit eine schwierige Phase, aber er ist ein Mentalitätsmonster und ist immer noch ein sehr guter Spieler. Das darf man nicht vergessen. Es ist vielleicht auch sein letztes großes Turnier, wo er sich nochmal zeigen kann. Ich glaube nicht, dass er bei der WM 2026 - sollten wir die Qualifikation schaffen - noch dabei ist. Bei Szczesny ist es dasselbe. Wir haben auf jeden Fall im Tor im Vergleich zu Österreich einen Riesenvorteil. Ich habe großen Respekt vor Alexander Schlager und auch Patrick Pentz, aber die haben nicht dieselbe Qualität wie ein Wojciech Szczesny, der bei Juventus überragend ist und uns schon viele Spiele gewonnen hat. Der wird sich auch nochmal zum Abschied beweisen wollen und gemeinsam mit Kapitän Lewandowski die Mannschaft heiß machen.

Abgesehen von Kapitän Robert Lewandowski hat das polnische Team noch einige weitere starke Profis aufzubieten. Auf welche Spieler muss das österreichische Nationalteam besonders aufpassen? Wer könnte bei der EM hervorstechen?

Da fällt mir sofort Jakub Piotrowski ein, der als Sechser und Achter agiert. Er ist 26 Jahre und hat auch schon in Deutschland bei Fortuna Düsseldorf gespielt. Jetzt ist er bei Ludogorets in Bulgarien und hat schon elf Tore in dieser Saison geschossen. Aber das ist nicht entscheidend, sondern wie er in der Nationalmannschaft spielt. Dort spielt er überragend, er hat einen Riesenschuss und wird wahrscheinlich für mehr als zehn Millionen Euro im Sommer den Verein wechseln. Er hat sich in dieser Saison unglaublich entwickelt und ich glaube, dass er mit seiner Größe und seinem Potential zu einem Verein gehen wird, wo er den nächsten Schritt machen kann. Mit Jakob Kiwior von Arsenal, Jan Bednarek oder Matty Cash gibt es weitere Spieler, die sehr gut performen zurzeit, aber ich denke Piotrowski wird ein wirklich gutes Turnier spielen. Er ist gut in Form, ist gesund und ich glaube schon, dass er in der Zentrale die Österreicher vor Probleme stellen wird. Er ist robust, aggressiv, mental sehr stark und ein interessanter Spieler.

Gibt es Ihrer Meinung dann überhaupt einen Favoriten bei dieser Begegnung?

Auf dem Papier ist Österreich der Favorit, weil sie in der Qualifikation wesentlich besser performt haben als Polen. Da hatten wir unsere Probleme. Wir waren in einer schwachen Gruppe und sind Dritter geworden. Wir waren hinter Albanien und Tschechien, haben gegen Moldawien verloren und deswegen sehe ich da Probleme. Die Mannschaft steht aber langsam auf, da baut sich etwas auf mit dem neuen Coach, der vorher bei der U 21 war und keine Angst davor hat, bestimmte Entscheidungen zu treffen und eine gute Bindung zu den Starspielern hat. Ich bin kein Fan davon, jemanden nur anhand der Ergebnisse in eine Favoritenrolle zu schieben, denn es ist immer noch Fußball und da ist alles möglich. Österreich hat momentan die Nase vorne, aber es sind noch 90 Minuten zu spielen.

Als sie noch bei der Wiener Austria gespielt haben, stellten die Veilchen noch einige Nationalspieler. Heute findet sich kein einziger dort. Stimmt Sie diese Entwicklung traurig? 

Die Zeiten haben sich schon verändert, das ist klar. Meine Zeiten waren ein bisschen anders. Damals gab es nicht so viele Legionäre, die meisten Nationalspieler haben in heimischen Ligen gespielt und das ist der Unterschied. Wenn man sich anschaut, wie viele österreichische Spieler heute in Deutschland spielen, ist das ein Wahnsinn. Ich weiß über die finanziellen Probleme der Austria Bescheid und da gibt es momentan einfach nicht so die guten Spieler von internationaler Klasse. Wenn Ralf Rangnick aktuell kein Spieler von ihnen hineinpasst, dann glaube ich ihm das. Bei Rapid waren bis zu den Derby-Vorfällen auch immer wieder einige dabei. Das macht mich schon auch traurig, dass das bei der Austria nicht so ist. Aber ich vertraue Ralf Rangnick bei seiner Spielerauswahl, denn er weiß, was er macht.

Wie geht das Spiel zwischen den beiden Mannschaften aus?

Mein Herz ist gespalten. (lacht) Ich habe ja doch neun Jahre in Österreich gelebt. Kleiner Favorit in diesem Spiel ist Österreich, aber Polen hat - auch wenn sie nicht so gut gespielt haben - immer gute Ergebnisse gegen Österreich erzielt. Daher sage ich 1:1.

Im zweiten Teil des kicker-Interviews, welches in Kürze erscheint, spricht Radoslav Gilewicz über die Ausgangslage des polnischen Teams, das Missverständnis mit Fernando Santos und warum er seinem Heimatland beim Großturnier eine Überraschung zutraut.

Interview: Maximilian Augustin