Nationalelf

"Gefühl völlig egal": Müller rät zur Real-Madrid-Methode

Bei Flick überwiegt der Ärger

"Gefühl völlig egal": Müller rät zur Real-Madrid-Methode

Kam in Wembley als Joker zum Einsatz: Thomas Müller.

Kam in Wembley als Joker zum Einsatz: Thomas Müller. IMAGO/Pressefoto Baumann

Aus Wembley berichtet Karlheinz Wild

Hansi Flick war bedient. Der Bundestrainer, in seiner charakterlichen Grundstruktur eigentlich ein positiver Mensch, konnte nicht verbergen, dass er "natürlich enttäuscht" sei. Schon wenige Minuten später bewertete er das 3:3-Endergebnis als "sehr enttäuschend". Der für die Nationalmannschaften im DFB zuständige Direktor Oliver Bierhoff sagte: "Der Ärger überwiegt."

Der Auftritt in Wembley hätte ein zumindest für den Augenblick versöhnlicher Abschluss und mit Blick auf die WM ein psychologischer Steilpass werden können, nachdem die Engländer der deutschen Mannschaft das Geschenk einer 2:0-Führung gemacht hatten. Zweimal war Abwehrmann Harry Maguire in der Entstehung der Treffer durch Ilkay Gündogan (Strafstoß) und Kai Havertz (Kunstschuss) unfreiwillig hilfreich gewesen. Doch plötzlich kam ein laut Flick "kleiner Bruch", der ein großer war, weil die Briten zwischen der 72. und 83. Minute drei Tore erzielten. "Das darf uns nicht passieren", sagten nun der DFB-Chefcoach, Innenverteidiger Niklas Süle, Mittelfeldantreiber Joshua Kimmich oder der "Bambi" gerufene Jamal Musiala. Er war der beste deutsche Feldspieler und fasste das in dieser hektischen Phase Erlebte treffend so zusammen: "Es war dann wild, da müssen wir das Spiel zu Ende bringen."

So aber ging die vorherige Spielkontrolle, die vor der Pause zwar viele Passsequenzen, aber keine Torchancen bedeutete, komplett verloren. Kimmich hatte schnell eine Mängelliste angefertigt, als er sagte: "Nach dem 2:0 waren wir viel zu passiv, schieben nicht mehr konsequent durch, verteidigen viel zu tief und haben nicht mehr den Mut, gegen den Ball zu spielen." Schon stand es 3:2 für die Engländer.

Das kollektive Fehlverhalten verschärften "individuelle Fehler", die sogar der sonst gnädige Bundestrainer direkt ansprach. Der krasseste begünstigte Harry Kanes wuchtiges Elfmetertor zum 3:2, als Nico Schlotterbeck tapsig den Dortmunder Teamkollegen Jude Bellingham im Sechzehner auf das Schienbein trat. Der Innenverteidiger hatte das Mandat des gesperrten Antonio Rüdiger bekommen und offenbarte, dass er für das internationale Topniveau noch dazulernen muss.

"Überzeugung" als zentraler Begriff

Die ebenfalls neu für die Startelf nominierten Musiala und Kai Havertz warben hingegen für sich, allerdings zeichnete Havertz vor allem der fette Ertrag seiner beiden Tore aus. Der Chelsea-Profi muss mit seinen außergewöhnlichen Talenten der Mannschaft noch mehr geben, mit seiner Körpersprache kann er größere Entschlossenheit ausstrahlen, wenn es etwa darum geht, die Bälle zu behaupten.

Flick spricht da permanent von der "Überzeugung", die für ihn ein zentraler Begriff ist. Als Kane und Kollegen ihren fulminanten Zwischenspurt hinlegten, war der deutsche Widerstand überrollt. Das Gefüge wackelte an allen Ecken und Enden. "Da waren die Engländer viel aggressiver", sagte Flick, "wir haben uns den Schneid abkaufen lassen." Jeder Spieler müsse mit dem größtmöglichen Glauben an die eigenen Qualitäten in die WM starten. Genauso verlangt der Bundestrainer noch in den Basisbereichen Fitness und Passspiel Verbesserungen. Es ist also nicht nur Kopfsache, wenn sich gewisse Defizite auftun.

Somit stellt sich die einfache, aber entscheidende Frage: Wie gut ist diese deutsche Nationalmannschaft sieben Wochen vor dem Weltturnier tatsächlich? Wo steht sie mit ihrer Leistung für sich und im globalen Ranking?

In der Nations League reichte es zu einem Sieg, dem 5:2 gegen damals schwache Italiener, die die Gruppe aber als Erster vollendeten. Die Partien gegen Ungarn (0:1) und England sollten als Generalprobe für die WM dienen. Was ist daraus geworden? "Wir hatten viel Zeit zusammen, haben viele Situationen im Training und Spiel, die wir für die Aufarbeitung verwenden können", antwortete Thomas Müller auf diese kicker-Frage und gab zu: "Wir wollten ins Final Four, das haben wir nicht geschafft. Der Rest wird in zwei Monaten entschieden."

Auswirkungen auf das Unternehmen WM mag Müller von der eher misslungenen Abschlusstour der vergangenen Tage nicht ableiten. "Die Gefühle, die wir heute haben, werden nicht entscheiden, wenn wir in das erste WM-Spiel gehen", betonte der weltmeisterliche Routinier. "Deswegen ist mir das Gefühl, das wir heute haben, völlig egal." Er orientiert sich an seinem früheren Trainer Carlo Ancelotti und dessen Mannschaft: "Bei Real Madrid läuft auch nicht alles brillant, aber sie behalten den Kopf oben und den Glauben an sich selbst." Dort immerhin funktioniert diese Methode. Ob sie der deutschen Delegation auch bei der WM hilft? Die Generalprobe hat keine definitiven Antworten geliefert.

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