kicker

Die Chronologie des Chaos: Wie das Meisterfinale 2001 getickert wurde

Als Schalke für vier Minuten im Himmel war

Die Chronologie des Chaos: Wie das Meisterfinale 2001 getickert wurde

Am Ende doch keine Meisterschale für Schalke und Trainer Huub Stevens (M.).

Am Ende doch keine Meisterschale für Schalke und Trainer Huub Stevens (M.). imago images

Ja, die Bundesliga kann spannend sein. So prickelnd und packend, dass einem vor Erregung fast das Hirn zerspringt beim Zuschauen. Gut, das Saisonergebnis war vor knapp 20 Jahren dasselbe wie in den vergangenen acht Jahren. Aber hallo?! 2001, Bayerns letzte Meter zur Meisterschaft, gehören zu Recht zu den emotionalen Ausnahmezuständen in diesem Land. Jeder Schalker, der damals schon oder noch klar denken konnte, weiß, wo er an jenem 19. Mai 2001 zwischen 17.18 Uhr und 17.22 Uhr war. Die Vier-Minuten Meisterschaft der Knappen, die "Meister der Herzen" - jeder erinnert sich.

Mitfiebern, ja auch mal ekstatisch jubeln - das waren die Gefühlswallungen, mit der die Redakteure der Online-Abteilung des kicker die Bundesligaspiele verfolgten. Ab 2000/01 war aber dann doch vieles anders. Denn in dieser Spielzeit führte der Bezahlsender "Premiere", der Vorgänger von "Sky", die Live-Übertragung der Bundesligaspiele ein - für den kicker war es der Anpfiff seines Live-Tickers.

Jetzt bestellen: Das Jubiläumsheft "100 Jahre kicker"

Quasi über Nacht veränderten sich die Anforderungen an die "Rund-um-Betreuung" eines einzelnen Spiels in der Online-Redaktion. Statt einer gemütlichen Zusammenfassung von zehn Zeilen nach dem Schlusspfiff galt es nun, Minute für Minute auf Ballhöhe zu sein, Chancen zu tickern, Gelbe Karte zu verteilen, Spieler einzuwechseln und vor allem Tore zu erzielen - mit Angabe von Körperteil und Vorlagengeber sowie einer möglichst anschaulichen Beschreibung. Und das alles mit einer äußerst rigiden Zeichenbegrenzung, weil sich die Programmierer offenbar nicht vorstellen konnten, dass man einen hanebüchenen Lapsus wie zum Beispiel Frank Mills Pfostenschuss von 1986 in mehr als 140 Zeichen beschreiben kann und das auch will.

Lähmendes Entsetzen im Parkstadion!

LIVE!-Ticker nach dem 0:1

Knapp sechs Jahre vor Twitter waren alle kicker-Tickerer bestens geübte Zwitscherer. Textlich auslassen durfte man sich beim zeitgleich zu verfassenden Spielbericht, der aber bitte schön kurz nach dem Abpfiff ebenso online gehen sollte. Denkt man heute an seine eigenen ersten Ticker-Einsätze, kommen automatisch die vor Aufregung feuchten Hände zurück.

Hochspannung bis in die letzte Sekunde

Klatschnass von oben bis unten waren die Tickerer in der Schlussphase jenes 34. Spieltags 2000/01. Und das, obwohl alles cool angefangen hatte. Schalke hatte den 33. Spieltag in den Sand gesetzt und drei Punkte weniger als der FC Bayern auf dem Konto. Nach drei Minuten liegt S04 zudem gegen Unterhaching 0:1 zurück ("Lähmendes Entsetzen im ausverkauften Parkstadion"), nach 26 Minuten mit 0:2 ("Was ist hier los!"). Der Drops schien gelutscht, in der Online-Redaktion sah man entspannt dem Ende der Saison entgegen. Doch dann wurde es rasant - Schalke glich aus ("Kaum zu glauben. Ein verrücktes Spiel"), fing sich das 2:3, ehe Jörg Böhme per Doppelpack die Knappen plötzlich in Führung schoss. "4:3! Dieses Spiel übertrifft alles, was in dieser Saison bisher ablief", schrieb der kicker-Kollege um 17.01 Uhr.

Dieses Spiel übertrifft alles in dieser Saison!

LIVE!-Ticker nach dem 4:3

Doch diese Rechnung hatte er ohne Sergej Barbarez und Patrik Andersson gemacht: Um 17.16 Uhr köpft der Hamburger gegen Bayern das 1:0 und macht die Schalker damit in der Live-Tabelle zum Meister. Um 17.18 Uhr wird auf Schalke abgepfiffen, auf den TV-Bildschirmen in der kickerRedaktion sieht man, wie Schalker Fans den Rasen des Parkstadions fluten, beseelt vom ersten Meistertitel seit 1958. Rudi Assauer außer sich vor Glück - und klar, mit Zigarre. Hektisch wird der Aufmacher-Text umgeschrieben. "Sensation" schießt einem als mutige Zeile durch den Kopf, die heute als lächerliche Untertreibung abgewatscht werden würde.

Parkstadion Gelsenkirchen

Aus der Meisterfeier wurde nichts - das volle Parkstadion in Gelsenkirchen. imago images

Doch plötzlich ruft der Kollege: "Freistoß im Strafraum der Hamburger!" Der Hinweis wirkt wie ein Magnet, alle springen von ihren Sitzen auf und rennen zum Arbeitsplatz des Ticker-Kollegen. Zehn elektrisierte Menschen schauen gespannt zu, wie sich die Münchner in aller Ruhe den Ball zurechtlegen, aber auch wie der offensive Oliver Kahn von HSV-Spielern hin- und hergeschubst wird. Stefan Effenberg tippt an, und Andersson prügelt die Kugel in die Maschen. 1:1, Geschrei in der Redaktion, der TV-Reporter krakeelt: "Was gibt es Geileres als Fußball!"

"Haching wieder zweitklassig"

Der kicker-Kollege tippt: "In der vierten Nachspielminute schießt Andersson auf Vorlage von Effenberg einen indirekten Freistoß aus 10 Metern in die Maschen." Nicht mehr, nicht weniger. Die Chronologie chaotischer Zustände. Der letzte Tickereintrag aus dem Parkstadion, wo Freudentränen zu Sturzbächen des Schmerzes anschwellen, lautet: "Haching wieder zweitklassig." Auch das ist korrekt, kickerkorrekt, könnte man sagen, denn vor rund 20 Jahren wurde eher das berichtet, was sich zwischen den vier Eckfahnen abspielte. Das galt auch für den LiveTicker in seinen Kinderschuhen. Seither haben wir dazugelernt. Pure Emotionen wie sachliche Beschreibungen sind das, was den Live-Ticker zum Herzstück unserer Berichterstattung gemacht hat. Mittlerweile sind wir alle abgebrühter geworden, und doch denkt man sich: Wie schön wäre wieder ein Saisonfinish wie 2001! Für den Fußball. Und fürs Tickern.

Bernd Staib