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"Derbys waren immer die schlimmste Zeit"

Mailänder Legenden vor dem Halbfinale der Champions League

Baresi und Bergomi im Interview: "Derbys waren immer die schlimmste Zeit"

Europapokalsieger mit ihren Vereinen: Milan-Ikone Franco Baresi und Inter-Legende Giuseppe Bergomi (re.).

Europapokalsieger mit ihren Vereinen: Milan-Ikone Franco Baresi und Inter-Legende Giuseppe Bergomi (re.). imago images (2)

Beide trugen nie ein anderes Trikot als das ihres jeweiligen Mailänder Klubs. Giuseppe Bergomi 20 Jahre das schwarz-blaue der Internazionale, sieben davon als Kapitän. Franco Baresi 20 Jahre das rot-schwarze der AC Milan, 15 Saisons lang Capitano. Gemeinsam wurden sie 1982 Weltmeister. Bergomi ist heute einer der beliebtesten TV-Analysten und Trainer in Inters Jugend-Akademie, Baresi fungiert als Milans Ehren-Vizepräsident. Der kicker traf die beiden Klublegenden vor dem Derby im Halbfinale der Champions League zu zwei Einzelterminen in Mailand und stellte ihnen Großteils gleichlautende Fragen.

Wie erlebt die Stadt die Tage vor dem Duell der Rivalen?

Franco Baresi: Das ist schwierig in Worte zu fassen, weil Spieler und Tifosi tagelang sehr heftige Emotionen durchleben. An jeder Ecke wird gefrotzelt, aber es ist eine gesunde Rivalität mit dem nötigen Respekt. Durch die enorme Bedeutung des Champions-League-Halbfinals ist die Spannung gerade freilich noch einmal potenziert.

Giuseppe Bergomi: Die Temperatur besitzt alarmierende Fieberwerte. Auch weil es in den letzten Jahren wieder um eine Menge geht. Vor zwei Jahren holte Inter die Meisterschaft, im letzten Jahr Milan, jetzt dieses Halbfinale. In der Seele spielen sich unterschiedliche Szenarien ab: Der Interista leidet, hat im Kopf aber stets Juventus. Die Spieler der großen Inter-Elf sagten mir regelmäßig: Unser Hauptrivale ist Juve, dann kommt Milan! Deshalb sitzt der Inter-Fan immer zwischen zwei Feuern. Momentan ist die Atemluft wegen der Anspannung sehr knapp.

Früher war das Derby di Milano auch Klassenkampf …

Bergomi: Es besaß mal soziale Bedeutung. Der Inter-Tifoso wurde im Dialekt "bauscià" genannt, Schaumschläger. Die betuchteren, distinguierten Leute waren Nerazzurri, während Milan eher als Arbeiterklub galt, und die Fans deshalb "Casciavit", Schraubenzieher, hießen. Aber solch soziale Differenzen sind längst Vergangenheit. Die Verteilung in der Stadt ist recht ausgeglichen, beide Vereine führen die Serie A im Zuschauerschnitt ja mit über 70 000 an.

Wie erlebten Sie denn als Jungs solche Spiele?

Baresi: Ich kannte die Namen früher bloß vom Radio. Alle Spiele fanden damals sonntags zur gleichen Uhrzeit statt, und unsere Ohren klebten am Transistor. Das erste Spiel, das ich live sah, war erst mit zehn Jahren. Italien gegen Deutschland, WM-Halbfinale in Mexiko.

Jeden Sonntag war ich im Stadion, egal ob Milan oder Inter, ich liebte es.

Giuseppe Bergomi

Gleich das Jahrhundertspiel, ein ziemlich guter Start.

Baresi (lacht): Exakt. Und zwei Milanisti avancierten zu Protagonisten: Karl-Heinz Schnellinger machte den späten Ausgleich für Deutschland, und mein Idol Gianni Rivera in der Verlängerung das entscheidende 4:3. Dann kam ich mit 14 selbst zu Milans Jugend, und die ersten Male im Stadion und die ersten Derbys erlebte ich als Balljunge. Mittendrin im elektrisierenden San Siro, es kam dir vor, als würden dir die Tifosi gleich auf den Kopf fallen. Plötzlich kickte da vor mir Rivera in all seiner Eleganz. Solche Momente bleiben unvergesslich.

Bergomi: Meine Eltern hatten mit Fußball wenig am Hut. Mein Vater hatte eine Tankstelle und besaß deshalb eher eine Passion für Radrennen und Motorsport. Als ich in der Inter-Jugend anfing, fragte er mich: Welche Rolle spielst du? Ich sagte Verteidiger, und er: Du musst Stürmer spielen, die verdienen mehr! (lacht) Mit dem Inter-Ausweis bekam ich gratis Eintritt ins San Siro, und jeden Sonntag war ich im Stadion, egal ob Milan oder Inter, ich liebte es.

Und dann standen Sie beide plötzlich selbst dort auf dem Rasen.

Baresi: Ich debütierte 1978 mit 17 in einem 2:1 bei Hellas. Das verlief ganz ordentlich. Der damalige Technische Direktor Nereo Rocco nahm die Spannung raus und flachste anschließend in der Kabine: Wie, du hast auch gespielt? Ich hätte nie gedacht, dass 20 Jahre Milan folgen würden.

Und was blieb vom ersten Derby?

Baresi: Meine ersten übertrafen gleich alle Emotionen. Wir gewannen 1978 1:0 durch ein Tor von Aldo Maldera, im Rückspiel lagen wir 0:2 hinten und glichen in den letzten zehn Minuten durch einen Doppelpack von Walter De Vecchi aus - unglaublich. Am Saisonende holten wir Milans zehnte Meisterschaft, die uns den Stern aufs Trikot brachte. Es war meine erste Saison als Stammspieler, und prompt ging es gegen meinen Bruder, Beppe, der zwei Jahre vor mir nach Mailand zu Inter gegangen war. Vier Jahre lang waren wir sogar die Kapitäne beider Klubs. Unsere Eltern verloren wir leider sehr früh, mit 17 waren wir Waisen. Es macht mich heute immer noch traurig, dass sie unsere Karrieren nicht erleben durften.

Auf Giuseppe Baresi folgten Sie als Kapitän bei Inter, Signor Bergomi.

Bergomi: Genau, mit Francos Bruder holte ich gleich zu meinem Anfang auch den Pokal. Dort erlebte ich außerdem mein erstes Derby: 6. September 1981. Ich erinnere mich so genau, weil ich getroffen habe, ich war schließlich keine Tormaschine.

Sie trafen nie in einem Derby, Signor Baresi. Immerhin halten Sie mit acht Missgeschicken insgesamt den Eigentorrekord der Serie-A-Geschichte gemeinsam mit Inters Riccardo Ferri.

Baresi: Eines auch in einem Derby 1987 - wir gewannen trotzdem 2:1, halb so schlimm also. Das waren ohnehin alles abgefälschte Schüsse, die würden heute niemals als Eigentore gewertet. Aber na ja, immerhin Rekordhalter (lacht).

Signor Bergomi, wie erlebten Sie die Derbystimmung in der Stadt?

Bergomi: Für mich war das Derby immer die schlimmste Zeit der Saison, denn die Woche bis zum Anpfiff wollte nie rumgehen. Aber wenn ich die Treppen zum Platz hochstieg, begann jedes Mal die genialste Partie des Jahres für mich, die 90 Minuten, die mir am meisten Freude bereiteten. Normalerweise geht das Leben in Mailand dann nach ein, zwei Tagen weiter, es gibt anderes zu erledigen. Dieses Mal wird das Spiel sieben Tage mit langen Nachwehen andauern. Momente, in denen Legenden geboren werden können.

Marco war nicht von dieser Welt.

Franco Baresi über Marco van Basten

Welche waren denn die tückischsten Gegner in den Derbys für Sie?

Baresi: In den 1980ern und 90ern spielte eine ganze Menge herausragender Offensiver in Italien - Batistuta, Baggio, Maradona, Careca, Völler … jeden Sonntag stand der Abwehr ein Gewitter bevor. Im Derby wirbelten dann Altobelli, Sosa oder Klinsmann gegen uns. Die Partien mit unseren drei Niederländern Rijkaard, Gullit, van Basten gegen die Inter-Deutschen Brehme, Matthäus, Klinsmann waren immer beinharte Schlachten.

Bergomi: Heutzutage wird das Wort Ausnahmespieler oder Champion viel zu inflationär verwendet. Marco van Basten hingegen war tatsächlich einer - unmöglich, ihn komplett auszuschalten. Schnell, technisch, kopfballstark und, meist im Rahmen des Erlaubten, ein Sauhund (schmunzelt). Ging es gegen Milan, deckte ihn bei Ecken meist Aldo Serena. Einmal streute ihm van Basten Erde ins Gesicht, um ein paar Schritte Vorsprung zu haben. Heute kann ich darüber lachen. Er und seine beiden Landsleute waren unglaubliche Schränke.

Van Basten hat sogar Sie einmal geschlagen, Signor Baresi: Er gewann 1989 vor Ihnen den Ballon d Or.

Baresi: Marco war nicht von dieser Welt, also habe ich den Goldenen Ball eigentlich gewonnen (grinst).

Italien gegen Argentinien 1990

Seite an Seite spielten Baresi (li.) und Bergomi bei der Heim-WM 1990 in Italien - unterlagen im Halbfinale aber Argentinien um Diego Maradona (re.). imago images

Das Milan der "Unbesiegbaren" startete mit der Übernahme durch Silvio Berlusconi 1986. Unter anderem gewannen Sie drei Landesmeisterpokale, 1989, 1990 und 1994.

Baresi: Ich habe einige Generationen miterlebt und viele Veränderungen. Vom Libero und einem sehr defensiven Spiel zur organisierten Raumdeckung und dem Offensivgedanken von Arrigo Sacchi. Berlusconis Mentalität und Vision, das Credo Gewinnen und den Fans Freude bereiten, war in Italien zu jener Zeit revolutionär und für den Fußball insgesamt der Start in eine neue Ära.

Bergomi: Als Berlusconi kam, verschob sich die Balance in Mailand, bis Massimo Moratti 1995 Inter übernahm. Wir waren immer noch ein starkes Team, gewannen mit den Deutschen 1989 einen Scudetto, danach zweimal den UEFA-Cup, doch Milan arbeitete in anderen Sphären. Wie mir Zvonimir Boban sagte: Wenn ihr einen Taler verdient habt, bekamen wir vier, auch die, die nie spielten.

Signor Baresi, Sie wurden ganz früher "Piscinin", dann Kaiser Franz gerufen …

Baresi: Piscinin, der Pimpf, wurde mir damals von unserem Masseur verpasst, weil ich der Jüngste in der Truppe war. Kaiser Franz sagten die Leute wegen Beckenbauer, da wir beide Libero spielten. Es war eine Ehre, mit dem auf dieser Position größten Fußballer überhaupt verglichen zu werden. Leider haben wir nie gegeneinander gespielt.

Und wenn Libero Baresi den Arm hob, war der Abseitspfiff garantiert.

Baresi: Ich wollte dem Referee bloß helfen, falls er das Abseits nicht gesehen hatte (lacht).

Baresi gewissermaßen der erste VAR.

Baresi: Ganz genau.

Bei Milan war das Kapitänsamt lange Ehrensache - Gianni Rivera, Baresi, Paolo Maldini, ebenso bei Inter, Sandro Mazzola, Bergomi, Javier Zanetti. Warum gibt es so etwas heute nicht mehr?

Baresi: Milan ist wohl einer der wenigen Klubs überhaupt, die eine solche Geschichte vorweisen. In der neuen Welt des Fußballs scheint eine Wiederholung unmöglich - es gibt zu viele Versuchungen, zu viele persönliche Interessen. Gut für die finanziellen Möglichkeiten der Profis, doch es bleibt gleichzeitig der Sinn für Zugehörigkeit und Leidenschaft auf der Strecke. Die Beziehung zu den Tifosi empfand ich damals auch als humaner, Fußball war ein Hauch von Romantik und Poesie, wenn man so möchte. Vielleicht will man gerade alles zu schnell, ohne zu wissen, wo es genau hingeht.

Bergomi: Auch heute spüren die Profis die Anspannung des Derbys, aber natürlich auf andere Art und Weise als wir damals. Wir kamen aus Mailand oder waren, wie Franco, als Jugendlicher hierhin gekommen. Dann ist das Trikot deine zweite Haut und wiegt doppelt so viel. Franco gegen seinen Bruder, ich gegen Paolo Maldini, etliche andere, die sich schon alle aus den Jugend-Derbys kannten oder gemeinsam in der Nationalelf spielten. Ich behaupte nicht, dass es besser war, aber doch irgendwie romantischer. Nostalgie ist allerdings oft ein schlechter Ratgeber, der Fußball hat sich eben anders entwickelt, ich schaue immer nach vorne.

Zwei verschiedene Philosophien, zwei unterschiedliche Spiel-Systeme - das sind spannende Voraussetzungen.

Giuseppe Bergomi über die derzeitigen Unterschiede zwischen Milan und Inter

Blicken wir also ein paar Tage nach vorne - wie unterscheiden sich beide Vereine vor dem Europa-Derby?

Baresi: Beide Klubs setzen auf eine unterschiedliche Philosophie. Wir haben vor einigen Jahren mit einem Jugendprojekt begonnen, mittlerweile aber ausreichend Erfahrung gesammelt, in einem Halbfinale der Champions League bestehen zu können. Die Leute wollen eine offensive Mannschaft sehen, ein Team, das verblüfft und etwas riskiert. Letztlich war das immer auch ein Milan-Markenzeichen.

Bergomi: Inter machte aus der Not eine Tugend. Wenn du regelmäßig verkaufst und überschaubare finanzielle Möglichkeiten zum Investieren besitzt, bietet der Markt primär erfahrene Spieler wie Edin Dzeko, Francesco Acerbi oder Henrikh Mkhitaryan. Milan entschied sich für einen Generationswechsel und feierte überraschend schnell Erfolge. Zwei verschiedene Philosophien, zwei unterschiedliche Spiel-Systeme - das sind spannende Voraussetzungen.

San Siro ist das schönste Stadion, weil …

Baresi: ... es wie mein zweites Zuhause ist. Ein Stadion für den Fußball gebaut.

Bergomi: ... man von jedem Platz aus fantastisch sieht, selbst im dritten Ring. Da saß ich früher auch immer. Eine Stadion-Ikone weltweit.

Das Mailänder Derby ist das mitreißendste, weil…

Baresi: Ich kenne ja kein anderes (lacht). Aber es gibt wenige Städte, in denen zwei so große Teams in puncto Titel und Tradition aufeinandertreffen.

Bergomi: Wegen der nie ausfallenden Rivalität zwischen zwei immensen Klubs, die außerdem im selben Stadion spielen. Natürlich muss ich eins hinzufügen: Will der Calcio weiterwachsen und wettbewerbsfähig bleiben, brauchen wir schnellstens neue, moderne Arenen.

Die "Madonnina" auf dem Dom ist Mailands Wahrzeichen. Was geht ihr wohl beim Derby so durch den Kopf?

Baresi: Sie ist über der Stadt und kontrolliert, dass am Ende Respekt, Fairness und der Sport gewinnen.

Bergomi: Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Madonnina momentan über andere Dinge grübelt als Fußball.

Halten Sie ein Derby in besonderer Erinnerung?

Baresi: Alle, die wir gewonnen haben (lächelt). Vielleicht der 2:1-Sieg 1984, als Mark Hately Inters Fulvio Collovati quasi überflogen hat und einköpfte. Der erste Erfolg seit meinem Derbydebüt sechs Jahre zuvor. Nach einer schwierigen Phase war es wie ein Aufbruch und wir sahen das Licht am Ende des Tunnels.

Bergomi: Das Derby Ende 1988. Wir hatten im UEFA-Pokal das Hinspiel bei den Bayern 2:0 gewonnen, sind dann nach einem 1:3 zu Hause aber doch noch ausgeschieden. Vier Tage später versenkte Aldo Serena meine Flanke zum 1:0-Sieg gegen Milan, das vertrieb den Frust und gab uns den Schub, am Ende Meister zu werden. An das bitterste erinnere ich mich aber auch.

Und das war?

Bergomi: 1985. Kalle Rummenigge hatte per Traumtor ausgeglichen, Altobelli uns 2:1 in Führung gebracht. Es war nicht mehr lange zu spielen. Langer Ball und ich spiele die Kugel locker zurück zu Walter Zenga. Leider hatte ich Vinicio Verza übersehen, Lupfer, 2:2. Und das im Derby - ich wollte am liebsten gleich vom Platz gehen, besser noch, im Boden versinken und sterben (lacht).

Warum kommt Milan ins Finale?

Baresi: So etwas vorher zu denken bringt Unglück! Es werden zwei intensive, enge Duelle, und wer nach Istanbul fährt, wird es am Ende auch verdient haben.

Warum fährt Inter zum Endspiel?

Bergomi: Weil das Team zur rechten Zeit Moral und Kondition wiedergefunden hat. Außerdem gewann Inter die letzten beiden Derbys, das könnte ein psychologischer Vorteil sein. In Italien ist "Niederlage" leider ein Tabuwort. Wenn man alles gegeben hat und am nächsten Tag mit reinem Gewissen in den Spiegel schauen kann, dann wird die Hand geschüttelt und dem verdienten Gewinner gratuliert. Auch Enttäuschungen gehören zum Sport dazu. Mailand kann jetzt schon stolz auf beide Truppen sein.

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