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Der neue Kinderfußball: Eine Diskussion fernab der Realität

kicker-Serie über Nachwuchsfußball

Der neue Kinderfußball: Eine Diskussion fernab der Realität

Neue Wege: Im Kinderfußball sind neue Spielformen willkommen.

Neue Wege: Im Kinderfußball sind neue Spielformen willkommen. IMAGO/Hanno Bode

Diese Geschichte, das mag Ralf Rangnick und Hans-Joachim Watzke überraschen, beginnt in ferner Vergangenheit, 2005. Ralf Klohr, Jugendleiter beim SuS Herzogenrath nördlich von Aachen, schaut in seine Zeitung und entdeckt im Sportteil einen Bericht über ein abgebrochenes F-Jugend-Spiel. Zuschauer hatten den Schiedsrichter beschimpft und waren ihn angegangen. Blut war geflossen, vor den Augen der Kinder! "Als ich davon erfahren habe, gab es für mich nur zwei Möglichkeiten, denn unter solchen Bedingungen konnte ich nicht weitermachen", erzählt Klohr. Diese Möglichkeiten waren: "Ich gebe alle Ämter ab - oder ich gebe den Anstoß, etwas zu ändern."

Zum Thema

Der Klimatechniker macht sich gleich an die Arbeit. Je länger er nachdenkt, umso mehr Themen fallen ihm ein und auf, die im Nachwuchsfußball nicht okay sind. Nach zwei Jahren Tüfteln ist er 2007 fertig: Er hat die Fair-Play-Liga erfunden.

Drei wesentliche Merkmale zeichnen sie aus.

ERSTENS: Alle Zuschauer haben bei G- und F-Jugend-Spielen mindestens 15 Meter vom Feld wegzubleiben. Eine hervorragende Idee! Die oft überehrgeizigen Eltern können nun nicht mehr vom Spielfeldrand aus lautstark Einfluss nehmen auf ihre Kinder und die Trainer - für alle auf dem Feld ist das ein Segen und sollte am besten noch heute für sämtliche Spiele in allen Jahrgängen gelten.

ZWEITENS: Die Schiedsrichter fallen in den jüngsten Altersstufen weg. Das ist zeitgemäß, weil es immer weniger von ihnen gibt und die Verbände sowieso nicht mehr alle Spiele besetzen können. Klohr denkt darüber hinaus an eine erzieherische Maßnahme. Er glaubt und hofft, dass die Kinder so fair und ehrlich sind, zuzugeben, wenn sie als Letzte am Ball waren. Ein Irrtum, leider. In der Praxis schnappt sich der selbstbewusste Schulhofprügler einfach die Kugel, und der schüchterne Fairness-Freund traut sich nicht zu protestieren. Zu viele Trainer nehmen den unberechtigten Einwurf gerne mit und pfeifen auf die Moral. Daher klappt das nur bedingt.

DRITTENS: Die beiden Trainer stehen in einer gemeinsamen Coaching- Zone und helfen den Kindern bei Unstimmigkeiten. Viele halten sich daran - nicht alle.

Die Verbände Mittelrhein und Niederrhein starten Pilotprojekte und erhalten überwiegend positives Feedback. Klohrs Visionen werden Schritt für Schritt Realität. Der DFB belohnt ihn 2010 mit der Fair-ist-mehr-Auszeichnung. Der Verband Mittelrhein aber hat noch eine weitere Idee, die er dem Modell hinzufügt, und die ist der eigentliche Hammer.

VIERTENS: In der G- und F-Jugend werden keine Ergebnisse mehr veröffentlicht und die Tabellen abgeschafft!

Viele Trainer erstellen Tabellen für sich

"Nicht meine Idee", sagt Klohr, "ausgegangen ist das vom Verband". 2013 wird im Rahmen des Masterplans Amateurfußball festgelegt, dass die vier revolutionären Regeln bis 2016/17 deutschlandweit umgesetzt werden. An der Basis wird natürlich diskutiert, ob das alles richtig ist. Gerade das mit den Tabellen, die wegfallen, regt viele auf. Kinder wollen sich messen, Kinder lieben Wettkämpfe, Kinder kommen auch mit dem Verlieren klar. Ihre Eltern oftmals nicht. Die Basis gewöhnt sich dennoch an das neue System. Die meisten Trainer sammeln heimlich die Ergebnisse und führen sie zu einem Ranking zusammen. Ein Aufschrei ist nicht zu vernehmen. Auch von der Spitze des deutschen Fußballs, von Größen wie Rangnick und Watzke, sind keine Beschwerden zu hören, obwohl schon hier die Tabellen und Torjägerlisten gestrichen werden! Das verwundert aber nicht: Deutschland ist ja Weltmeister.

Matthias Lochmann wiederum ist schon zu dieser Zeit unzufrieden. Er lehrt als Professor in der Sportwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg und war befreundet mit dem früheren Hockey-Nationalspieler Horst Wein, der viele Bücher geschrieben hat zum Thema Training und Spielformen - auch über den Fußball. Lochmann sieht im Nachwuchsbereich noch mal ganz andere Probleme als Klohr und erschafft mit seinem Team ein neues Wettkampf-Modell. Es basiert auf der "Funino"-Idee von Wein und kommt ebenfalls einer Revolution gleich.

Mehrere Spielfelder auf einem Platz: So sehen die möglichen Spielfelder in der F-Jugend aus.

Mehrere Spielfelder auf einem Platz: So sehen die möglichen Spielfelder in der F-Jugend aus. kicker

In diesem Konzept spielen die Kids nicht mehr sieben gegen sieben auf zwei Tore, wo viele Partien 10:0 oder höher ausgehen, weil die Spielstärken der Teams in 50 Prozent der Fälle zu unterschiedlich sind und die zwei Top-Spieler fast alles allein machen, während die weniger Begabten mehr oder weniger nur rumstehen. Lochmann erprobt Kinder-Festivals. In der G-Jugend (U 6/U 7) wird auf vier Mini-Tore gespielt, in der F-Jugend (U 8/U 9) ebenfalls oder auf zwei Kleinfeldtore, in der E-Jugend (U 10/U 11) auf zwei Kleinfeldtore, alles auf verkürzten Feldern.

Eine Mannschaft besteht aus höchstens drei (G), fünf (F) oder sieben (E) Spielern. Statt einer Liga gibt es an den Wochenenden Turniere, wo es auf mehreren Feldern zeitgleich abgeht. Ein kleiner Verein kann ein Team stellen, ein großer mit mehreren kommen. So ist Platz für alle. Gewechselt wird reihum - alle 90 oder 120 Sekunden, damit jedes Kind die gleiche Spielzeit erhält. Nach etwa acht Minuten endet eine Partie, kurze Pause, und weiter geht’s mit der nächsten.

Verzögerung wegen COVID-Krise

Wenn du im Turnier ein Match gewinnst, rückst du ein Feld nach oben, der Verlierer geht eins runter. So treffen sich ziemlich schnell leistungsgleiche Teams, und kaum noch Spiele enden zweistellig. Oben auf Platz 1 geht es am Ende wie bei einer WM im Finale um alles und den Pokal, aber auch unten auf Platz 8 wird um den vorletzten Platz gefightet. Jedes Wochenende Action ist das Motto. Auf dem kleineren Feld haben die Kids deutlich mehr Ballaktionen. Das soll alle motivieren. Auch im Training: In einer 32-minütigen Einheit hat ein Kind laut DFB im Sieben-gegen-sieben 50 Ballaktionen, im Drei-gegen-drei sind es 200! Es hat im neuen Modell 100 Zweikämpfe statt 30 und 25 Torschüsse statt 5.

"Die Spaß-Vision" nennt der kicker seine Story über die Neuerungen am 15. April 2019. Seit 2015 sind sie in Bayern getestet worden, die Zahl der Befürworter stieg schnell. Fürs Training sind diese Spielformen ideal. Ob es im Wettkampf lieber klassisch oder modern zugehen soll, daran entzündet sich die Diskussion. Im Juni 2019 jedenfalls wird ein nochmals verfeinertes Konzept vom DFB-Präsidium abgesegnet. Es soll deutschlandweit kommen. 2020 wirft dann die COVID-Krise alles über den Haufen, die Kids müssen zu Hause bleiben und verlieren mindestens ein ganzes Jahr in ihrer Entwicklung. Erst 2023 kommt wieder Fahrt rein, mit der Ernennung von Hannes Wolf zum DFB-Direktor für Nachwuchs, Training und Entwicklung. Mit dieser Regelung: 2-2 oder 3-3 in der G-Jugend (auf vier Tore), 3-3, 4-4 oder 5-5 (auf zwei oder auf vier Tore) in der F-Jugend, 5-5 oder 7-7 (letzteres auf zwei) in der E-Jugend. Und mit der Kritik von Rangnick und Watzke.

Kritik fernab jeder Realität

Jetzt, so viele Jahre nach dem Wegfall der Tabellen bei den Kleinsten, regen sich die Fußball-Größen darüber auf, als sei dies etwas Neues. Jetzt, wo Deutschland nach zwei Vorrunden-Debakeln bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 die Muffe geht, abgehängt zu werden, nein, abgehängt worden zu sein, kümmern und sorgen sich die Größen plötzlich um den Nachwuchs. Rangnick, Nationaltrainer in Österreich, sagt im Juli: "Wenn bei uns, beim ÖFB, man auf die Idee kommen würde, mir zu erklären, dass es bei den Sechs- bis Zwölfjährigen keine Tabellen mehr gibt, keine Ergebnisse zum Schluss und auch nicht aufgelistet wird, wer die Tore geschossen hat, dann kriegt derjenige mit mir ein Problem. Da dreht man am völlig falschen Rad."

Fussball, Nationalmannschaft Saison 2023 2024 Freundschafts Länderspiel Deutschland - Frankreich 12.09.2023, SIGNAL-IDUNA-PARK Dortmund Hannes Wolf (Co Trainer, interimsweise Deutschland) Dortmund Signal-Iduna-Park Nordrhein-Westfahlen Deutschland *** Sports, football, national team season 2023 2024 friendly international match Germany France 12 09 2023, SIGNAL IDUNA PARK Dortmund Hannes Wolf Co coach, interim Germany Dortmund Signal Iduna Park Nordrhein Westfahlen Germany

"Presseabteilung hat ganz schön rotiert": Wolf zu Watzke-Aussagen

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Watzke, Boss beim BVB und beim DFB im Präsidium, nennt die Reform "unfassbar und für mich nicht nachvollziehbar" und fordert eine Überarbeitung. Er ätzt: "Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball. Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft." Auch Kölns Trainer Steffen Baumgart ledert im WDR-Podcast "Einfach Fußball": "Wir sind eine Generation, die nur noch den weichen und seichten Weg geht. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Es ist doch nicht schlimm, wenn ein Kind verliert. Es muss doch lernen, mit Niederlagen umzugehen. Ich muss doch lernen, Spaß an dem Sport zu haben, nicht nur wenn ich zehn Tore schieße."

Kopfschütteln über Watzke & Co.

Nicht einer Meinung bezüglich Kinderfußball: Hannes Wolf und Hans-Joachim Watzke.

Nicht einer Meinung bezüglich Kinderfußball: Hannes Wolf und Hans-Joachim Watzke.

Jetzt plötzlich ist eine Diskussion im Gange, fernab der Realität, in der die Wettkämpfe nicht abgeschafft, sondern neu gestaltet worden sind, anders als gewohnt, intensiver sogar. Wer sich im Nachwuchsfußball auskennt und hier arbeitet, schüttelt den Kopf über so viel Unwissen. Hannes Wolf hält seit Wochen dagegen. Er hat auf Watzke clever reagiert, indem er ihn nicht beschimpfte, sondern ihm dankte, dass durch seine Aussagen eine wertvolle Diskussion entstanden sei. "Die neuen Spielformen verändern alles", sagt er, "sie sind so gut! Sie machen jeden besser. Und natürlich beinhalten sie Wettkämpfe." Sandro Wagner, sein Kumpel beim DFB, ergänzt: "Mit den Spielformen, mit dieser Lust zu zocken, mit diesen kreativen Elementen - die Ballaktionen, das ist absolut irre!" Irre … im positiven Sinne.

Ralf Klohr ist mit dem kicker zu einem Video-Telefonat verabredet. Er sieht fit aus, nächstes Jahr wartet die passive Altersteilzeit auf ihn, im Jugendfußball bleibt er aktiv. Er berät jetzt die SG Mußbach. Seine neueste Idee wird im Westen schon wieder getestet: Im Modell "Miteinander" geht es um D-Jugend-Spiele, in denen ein Schiri pfeift, aber nur über Fouls, Abseits, Rückpass und Tor entscheidet, nicht über Einwurf, Abstoß oder Ecke - das machen weiter die Kids. Im "Betrügersport Fußball", wie Klohr ihn nennt, "weil er die Kinder zum Unfairsein erzieht", hofft er immer noch, dass sich Fair Play durchsetzen kann, wenn man es einfordert.

Viele vor Wolf sind an der Inkompetenz in den mächtigen Gremien des DFB und seiner Landesverbände gescheitert.

Ralf Klohr über Kinderfußball

Was Wolf beim DFB umsetzt, verfolgt der 61-Jährige genau. "In meinen Augen ist Hannes Wolf nach 50 Jahren Kinderfußball der erste kompetente Entscheidungsträger, der gegen die Beharrungsgesetze des DFB antritt und eine Chance hat, sich durchzusetzen", sagt er, "viele vor ihm sind an der Inkompetenz in Sachen Kinderfußball in den mächtigen Gremien des DFB und seiner Landesverbände gescheitert." Die neuen Spielformen findet er interessant und sinnvoll, gerade fürs Training, "und wenn Sandro Wagner sie gut findet, hören die Leute an der Basis auch zu". Er versteht aber auch die Traditionalisten, die vier Mini-Tore für fernab der Realität halten und wollen, dass die Kids auf zwei spielen, wie es ihre Idole in der Bundesliga tun. Daher schlägt er vor: "Wenn eine Halbserie zehn Spieltage hat, wieso macht man nicht vier Festivals zum Beispiel und sechs Spieltage? Ist doch kein Problem!"

Lochmann sieht Österreich bei 10- bis 13-Jährigen vorne

Matthias Lochmann empfängt den kicker an der Uni in Erlangen. Ist Klohr der nette Nachbar von nebenan, kommt Lochmann oft wie der ehrgeizige Macher rüber, der jeden feiert, der ihm folgt, und jeden mit Daten kontert, der die neuen Ideen mangels Hintergrundwissen kritisiert. Seinen Unmut über Watzke hat er anfangs kundgetan, etwas zu emotional, wie er mittlerweile zugibt. Heute redet er 90 Minuten lang ruhig und zielgerichtet und gut überlegt. Er will auf die A-Prominenz nicht schimpfen, "denn eigentlich brauchen wir ihren Zuspruch, damit die Akzeptanz für das neue System weiter wächst".

Die Reform nennt Lochmann moderat, weil in der F- und der E-Jugend immer noch eine Wahl besteht, ob mit drei oder fünf Kindern gespielt wird, und die D-Jugend nicht von neun auf sieben Spieler pro Team reduziert wird. "Deutschland hat einen flexibleren Weg gewählt, andere Länder sind da viel kompromissloser", erklärt der Professor. Viele Nationen hat er bereist, die USA, China und Kolumbien in der Ferne, Österreich und die Schweiz in der Nähe, "und gerade Österreich geht sehr konsequent vor und wird schon bald das beste Land sein für 10- bis 13-Jährige". Rangnicks Österreich, welch Ironie.

Auf Wolf wartet noch viel Arbeit

"Was wir machen, ist auch eine Förderung der Top-Talente", betont Lochmann. Sie haben natürlich auch im Drei-gegen-drei mehr Ballkontakte als die schwächeren, für alle wächst die Zahl der Aktionen. Der 52-Jährige blickt besonders auf die Elite: "Die Guten werden technisch noch besser, lernen viel früher, Räume zu deuten und zu scannen, immer mit dem Kopf oben - und das ist nicht nur ein Bauchgefühl, das ist wissenschaftlich belegt!" Mit Wolf hat er sich kürzlich intensiv ausgetauscht, wie die neuen Spielformen noch besser wahrgenommen werden können (das Zauberwort heißt hier Schulungen) und was noch alles an Daten über den Kinder- und Jugendfußball ermittelt werden kann. Lochmanns Laptop ist voll davon.

Wolf ist nicht in allen Bereichen allwissend, aber sehr neugierig. Es warten eine Menge weiterer Themen auf ihn als DFB-Boss für die Kinder: die Verzahnung von Verein und Schule, die Professionalisierung kleiner Klubs, das Geld, das die Politik immer weniger in den Sport schießt, der Bereich von der D- bis zur A-Jugend, in dem die Hälfte der Kinder aufhört, die Ligen-Struktur, die oft eindimensionale Förderung an den Stützpunkten. Viel Arbeit.

Nagelsmanns Worte hallen nach

2024/25 werden jetzt erst mal die neuen Spielformen im Kinderfußball verbindlich eingeführt. Julian Nagelsmann meint: "Ziel muss es sein, mehr Individualisten auszubilden, technisch starke Spieler. Weniger Konzeptspieler - mehr freche Straßenkicker. Dabei halte ich das Drei-gegen-drei auf Mini-Tore für alternativlos, um mehr Ballaktionen zu haben, Eins-gegen-eins-Situationen, Abschlüsse. Auch körperlich schwächere Spieler kommen so häufiger an den Ball. Bei den Kids in der TSG-Akademie ist es ein wichtiger Schwerpunkt. Dahin sollte generell der Weg gehen."

Ja, Nagelsmann, der Bundestrainer, spricht von der TSG-Akademie, denn als er dies zum kicker sagt, ist es April 2019 und er noch Trainer in Hoffenheim. Lange Jahre hat er im Nachwuchsbereich gearbeitet. Wahre Experten beschäftigen sich erst mit Themen, bevor sie sie bewerten. Oder zerlegen.

Den zweiten Teil der kicker-Serie über Nachwuchsfußball mit dem Titel "3 gegen 3 - die perfekte Basis fürs spätere Fußball-Leben?" lesen Sie in der kommenden Montagsausgabe des kicker

Bernd Salamon