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"Das war kein Treten, das war ein Stampfen": 20 Jahre nach dem Angriff auf Daniel Nivel

20 Jahre nach dem Angriff auf Daniel Nivel

"Das war kein Treten, das war ein Stampfen"

Der französische Polizist Daniel Nivel wird von deutschen Hooligans niedergeschlagen.

Der französische Polizist Daniel Nivel wird von deutschen Hooligans niedergeschlagen. picture alliance

Es liegt etwas in der Luft an diesem heißen Sommertag im französischen Städtchen Lens, etwas Bedrohliches. Im kleinsten Austragungsort der Weltmeisterschaft 1998 trifft Deutschland in seinem zweiten Gruppenspiel auf Jugoslawien. Durch die Lage im Norden und die Terminierung auf einen Sonntag haben sich viele Deutsche auf den Weg gemacht, obwohl die Aussicht auf Tickets utopisch ist. Die Stimmung ist aufgeheizt. Auf den Straßen, die in beiden Weltkriegen von deutschen Soldaten besetzt waren, skandieren rechte Hooligans "Wir sind wieder einmarschiert", es gibt erste Rangeleien, Stühle fliegen, Fensterscheiben zerbrechen. "Samstagnacht sind wir mit dem Bus losgefahren, wir haben die ganze Fahrt über getrunken. Geschlafen wurde nicht. Morgens sind wir gleich in die erste Kneipe. So ging es den ganzen Tag weiter", berichtet Markus W. später vor Gericht.

Die Eruption der Gewalt dauert zwei Minuten

Die Polizei reagiert passiv, vielleicht zu passiv. Den direkten Weg zum Stade Felix Bollaert versperren die Ordnungskräfte konsequent, ansonsten dürfen die deutschen Störer weitestgehend unbehelligt durch die Bistros und Gassen ziehen. Jugoslawische und englische Fans sollen in der Stadt sein, so das Gerücht in der Szene. Auf der Suche nach Gegnern für eine Schlägerei suchen die rund 200 Hooligans einen Umweg in Richtung des Stadions, in der Rue Romuald Pruvost scheint der Widerstand am geringsten. Hier, in der kleinen Nebenstraße nahe des Bahnhofs, stehen vor Backsteinhäusern und roten Hydranten drei Gendarmen Wache.

Daniel Nivel

Gendarm Daniel Nivel vor der Attacke. Getty Images

Einer hatte gerade noch mit einem kleinen Jungen Fußball gespielt, nun stürmt ein deutscher Mob auf die Straßensperre zu. Zwei der Polizisten bringen sich in Sicherheit, der dritte, Daniel Nivel, wird attackiert. Ein Hooligan bringt ihn mit einem hölzernen Reklameschild zu Fall, andere treten und schlagen auf ihn ein, mit Flaschen und einem Gewehraufsatz aus Stahl, den Nivel fallen gelassen hatte. Zwei Minuten dauert die Eruption der Gewalt - zwei Minuten, in denen nicht nur das Leben des Familienvaters zerstört wird.

Nivel bleibt lebensgefährlich verletzt liegen

"So etwas Schreckliches habe ich noch nie gesehen. Das war kein Treten, das war ein Stampfen", wird Walter E. später sagen, er schoss als Fotograf der Szene das weltberühmte Bild. Der damals 43-jährige Nivel bleibt lebensgefährlich verletzt in einer Lache Blut liegen. Sein Schädel ist an mehreren Stellen zertrümmert, ebenso das Schläfenbein und eine Augenhöhle. Ein Halswirbel ist angebrochen, die linke Hirnhälfte hat schweren Schaden genommen.

Die Öffentlichkeit ist fassungslos, ebenso die deutsche Delegation. Bundeskanzler Helmut Kohl spricht von "einer Schande für unser Land", Formel-1-Idol Michael Schumacher geht noch einen Schritt weiter: "Bei einem Tier geht man hin und schläfert es ein. Vielleicht sollte man das Gleiche da auch tun." Sinnbildlich für das Entsetzen beim DFB steht Präsident Egidius Braun , der sich tief getroffen mit UEFA-Präsident Lennart Johansson bespricht und die deutsche Mannschaft zunächst sogar vom Turnier zurückziehen will.

Nivel und seine Familie leben zurückgezogen

Sechs Wochen lang liegt Nivel im Krankenhaus von Lille im Koma. Als er wieder zu Bewusstsein kommt, wird das Ausmaß der bleibenden Schäden klar: Der zweifache Vater ist bis heute halbseitig gelähmt, kann kaum sehen, reden und riechen. Er wird sein Leben lang ein schwer behinderter Pflegefall bleiben.

20 Jahre nach der Attacke fällt die Spurensuche in Frankreich schwer. Nivel und seine Familie leben zurückgezogen in der Nähe von Lens. Das Haus mit der Nummer 74 in der Rue Romuald Pruvost steht nicht mehr, auch der Bürgersteig davor wurde abgerissen. Über den Tatort ist nicht nur sprichwörtlich Gras gewachsen.

Gerichtsverhandlung nach dem Angriff auf Daniel Nivel

"Alle Beteiligten wussten, wer die Täter waren": Gerichtsverhandlung nach dem Angriff auf Daniel Nivel. picture alliance

Als Nivel aus dem Koma erwacht, sind bereits einige der mutmaßlichen Täter festgenommen worden, Markus W. in Frankreich, die anderen in Deutschland. Nicht mal ein Jahr später, am 30. April 1999, startet vor dem Landgericht Essen der Prozess gegen vier der Hooligans. In Saal 101 wird im zweiten Stock unter hellbrauner Holzvertäfelung verhandelt, unzählige Zeugen werden gehört, viele Fotos der Tat und des Tages ausgewertet. Doch ein Problem bleibt. "Alle Beteiligten wussten, wer die Täter waren. Es ihnen aber vor Gericht nachzuweisen, war schwer", erinnert sich Nivels deutscher Anwalt Harald Wostry heute bei einem Gespräch in seiner Essener Kanzlei, unweit des Landgerichts.

Richter Rudolf Esders geht auf Zeugen-Suche

Vor allem der Hauptverdächtige André Z. fühlt sich sicher. Auf dem entscheidenden Foto ist der Gelsenkirchener nur von hinten zu sehen, der Vorwurf des versuchten Mordes ist so nicht zu halten. Nur die offene Aussage eines zunächst verdeckten Zeugen könnte helfen. Richter Rudolf Esders selbst geht trotz des Widerstands von Polizei und Staatsanwaltschaft auf die Suche und enttarnt Burkhard Mathiak , einen der drei Sozialarbeiter beim Schalker Fanprojekt. "Dass er dann ausgesagt hat, war sicherlich die Wende im Prozess", sagt Wostry. Mathiak kann Z. anhand von Kleidung, Frisur und Figur zu "98,5 Prozent" identifizieren und stellt damit sein eigenes Leben auf den Kopf. In seinen Job kann er nicht zurückkehren, lange steht er noch unter Personenschutz. "Das war nicht schön und lässt einen nicht kalt", erinnert er sich im Gespräch in einem Café im Bergischen Land.

Die Angeklagten sind keine Monster, sondern Menschen. Auch wenn sie sich an jenem unseligen Tag wie Monster verhalten haben.

Richter Esders in seiner Urteilsbegründung

Im November 1999 wird Z. vor den Augen Nivels wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu zehn Jahren Haft verurteilt, Tobias R., Frank R. und Christopher R. erhalten wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung Haftstrafen zwischen dreieinhalb und sechs Jahren. "Die Angeklagten sind keine Monster, sondern Menschen. Auch wenn sie sich an jenem unseligen Tag wie Monster verhalten haben", sagt Richter Esders in seiner Urteilsbegründung. Für Nivel und seine Ehefrau kein Trost. "Das ändert nichts an unserem heutigen Leben. Wir sind nur etwas beruhigt. Auch ein paar Haftjahre mehr hätten an der Sache nichts geändert. An jenem 21. Juni ist unser Leben zerstört worden", sagt Lorette Nivel unmittelbar nach der Urteilsverkündung.

20 Jahre später sitzen die Täter erneut im Gefängnis oder wollen sich nicht mehr äußern. Die Attacke liegt lange zurück, und doch wirkt der heiße Sommertag 1998 bis heute nach.

Patrick Kleinmann

Über das Opfer: Daniel Nivels deutscher Anwalt

Wostry: "Die Familie Nivel bekam lebenslang"

Über die Täter: Der Fan-Experte

Gabriel: "Auf die Szene wirkte es abschreckend"

Der Richter über den Nivel-Prozess

Esders: "Ich musste mit dem Urteil leben können"

Über den Nivel-Prozess: Der entscheidende Zeuge

Mathiak: "Rudi Assauer war damals eine echte Stütze"

Der damalige DFB-Präsident im Rückblick

Braun: "Bei Rückzug hätten die Gewalttäter obsiegt"