Der Zeitplan vor einem Europapokalspiel ist auf die Minute genau festgelegt, doch just beim wichtigsten Ereignis im Vereinsfußball geriet er völlig aus den Fugen: Weil vor dem Stade de France chaotische Zustände herrschten, ging das Champions-League-Finale 2022 schon in die Geschichtsbücher ein, bevor der Ball rollte - als spätestes der Historie.
Zunächst war das für 21 Uhr datierte Duell zwischen Liverpool und Real Madrid um 15 Minuten, dann um eine weitere Viertelstunde und schließlich bis 21.36 Uhr verschoben worden, ehe um 21.37 Uhr tatsächlich der Anstoß erfolgte. Doch auch da waren bei weitem noch nicht alle Fans, die ein Ticket für die Partie hatten, auf ihren Plätzen angekommen.
"Tränengas in Bereichen mit Kindern"
Die UEFA sprach erst von Sicherheitsgründen, dann von "verspätetem Eintreffen von Fans". Augenzeugen berichteten stattdessen von langen Schlangen und Durcheinander beim Einlass trotz frühzeitigen Eintreffens, teils seien Stadiontore ohne Begründung wieder geschlossen worden. Videos zeigen, wie Polizisten Pfefferspray einsetzen. BBC-Journalist Nick Parrott sagte, er sei beim Warten auf Einlass erstmals in seinem Leben mit Pfefferspray besprüht worden.
"Die Organisation um und im Stadion ist nicht nur eines Champions-Leagues-Finales unwürdig", sagte Marvin Matip, Bruder von Liverpool-Profi Joel Matip, zu "Sky": "Tränengas in Bereichen mit Kindern und unbeteiligten Fans einzusetzen, ist gemeingefährlich."
Mitte der zweiten Hälfte reagierte der FC Liverpool mit einem ersten Statement. "Wir sind sehr enttäuscht über die Probleme beim Einlass ins Stadion und den Zusammenbruch der Sicherheitsvorkehrungen, denen die Liverpooler Fans heute Abend im Stade de France ausgesetzt waren. Dies ist das größte Spiel im europäischen Fußball, und die Fans sollten die Szenen, die wir heute Abend erlebt haben, nicht erleben müssen. Wir haben offiziell eine formelle Untersuchung der Ursachen für diese inakzeptablen Probleme beantragt", heißt es auf der Website der Reds.
Ich bin mir nicht sicher, ob man eine Veranstaltung schlechter organisieren kann, wenn man es versucht.
Gary Lineker
Die UEFA begründete das Chaos damit, dass "auf der Liverpooler Seite" Tausende Fans mit gefälschten Eintrittskarten die Drehkreuze blockiert hätten (hier geht es zum ausführlichen UEFA-Statement).
"Die Fans tragen keine Verantwortung für dieses Fiasko", twitterte hingegen die europäische Fan-Organisation "Football Supporters Europe" nach dem tatsächlichen Anpfiff. "Wir fordern die zuständigen Behörden auf, die Sicherheit aller Fans zu gewährleisten."
Fans überwinden meterhohen Zaun
Die Pariser Polizei hatte zuvor dagegen auf Französisch, Englisch und Spanisch getwittert, dass Fans nicht versuchen sollten, sich den Zugang zu erzwingen. Videos in den sozialen Netzwerken zeigen, wie einzelne Anhänger - mutmaßlich ohne Ticket - über den meterhohen Stadionzaun klettern und Richtung Tribüne rennen.
"Ich bin mir nicht sicher, ob man eine Veranstaltung schlechter organisieren kann, wenn man es versucht", twitterte der englische TV-Experte Gary Lineker, der selbst Probleme hatte, ins Stadion zu gelangen. "Absolut chaotisch und gefährlich." Die Begründung der UEFA, wonach Fans verspätet eingetroffen seien, sei "Bullshit".
Als um 21.23 Uhr die Eröffnungsshow auf dem Rasen begann, ertönten lautstarke Pfiffe, ebenso später beim Abspielen der Champions-League-Hymne. Die UEFA, die das Finale im Februar St. Petersburg entzogen und nach Paris vergeben hatte, wird sich noch einige kritische Fragen gefallen lassen müssen.
