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Bierhoff über Löw: "Er saß nicht in der Kabine und hat geheult"

Die große Analyse des DFB-Direktors

Bierhoff über Löw: "Er saß nicht in der Kabine und hat geheult"

Die aktuelle DFB-Elf sei "keine junge Mannschaft - da habe ich einen Fehler gemacht -, sondern eine unerfahrene", so Oliver Bierhoff.

Die aktuelle DFB-Elf sei "keine junge Mannschaft - da habe ich einen Fehler gemacht -, sondern eine unerfahrene", so Oliver Bierhoff. Getty Images

Oliver Bierhoff (52) hatte die Ärmel seines Hemdes bis zur Armbeuge nach hinten gekrempelt - packen wir es also an! Zweieinhalb Wochen nach dem komplett missratenen Jahresabschluss, den die Nationalmannschaft der Fußballnation in Form eines 0:6-Debakels gegen Spanien zugemutet hatte, trug der zuständige DFB-Direktor seine Analyse zur Gesamtsituation der DFB-Auswahl vor.

Es war ein sachlicher, auch von Daten gestützter, über knapp 35 Minuten ruhig und sehr konzentriert vorgetragener Monolog, in dem Bierhoff den im November 2018 eingeleiteten und im März 2019 dann konkretisierten Umbruch samt seinen Ausläufern bis Ende 2020 thematisierte. Die Bestandsaufnahme fiel in Teilen selbstkritisch, in der Summe aber - wie sollte es anders sein? - positiv aus.

"2019 fand eine Entwicklung statt, 2020 war sie nicht möglich"

So wurden die für 2019 vom DFB ausgegebenen Ziele allesamt erreicht, führte Bierhoff aus: Qualifikation für die nun für 2021 angesetzte Europameisterschaft, sogar als Gruppenerster vor den Niederlanden; Verbleib im A-Level der Nations League, dazu die Ambition, einer von zehn Gruppenköpfen für die WM-Qualifikation zu sein. Verfehlt wurde hingegen die Zulassung zum Endturnier der Nations League, weil der Versuch, in Spanien ein Unentschieden zu holen, krass danebenging.

Als eine Erklärung dafür führte der 70-malige Ex-Nationalstürmer die fehlende Frische der Akteure an. Gerade der neue Stil - schnelles, vertikales Spiel hinter die Abwehrkette statt des zuvor langsamen Ballbesitzfußballs - verlange eine Top-Physis, außerdem brauche eine neue taktische Ausrichtung mit neuem Personal Automatismen, die nur im Training verinnerlicht werden könnten. Doch die besonderen Corona-Umstände erlaubten lediglich eine einzige taktische Einheit in diesem Herbst. "2019 fand eine Entwicklung statt", sagte Bierhoff, "2020 war sie nicht möglich." Zahlreiche Verletzungen hätten sich zudem hinderlich ausgewirkt. Bierhoffs Bitte um Milde wird also durchaus von den Fakten unterfüttert.

Die Mannschaft sei absolut kein "Sauhaufen", betont Bierhoff

Dennoch bleiben nach der spanischen Klatsche drängende Fragen. Bierhoff warf sie selbst auf, um sie sogleich selbst zu beantworten. Hören die Spieler noch auf diesen Bundestrainer? "Die Zeichen und Trends sind klar, die Spieler folgen ihm", machte Bierhoff deutlich, verwies auf die Laufdaten 2019 als Beleg und leitete sodann auf das nächste Thema über: "Ist die Ansprache des Trainers vielleicht verkehrt?" Als Augen- und Ohrenzeuge in Sevilla hörte Bierhoff, wie Löw von "Mut" und "Aggressivität" sprach.

Ist Löw womöglich hilflos? Reagiert er nicht? "Er saß nicht in der Kabine und hat geheult", so Bierhoff, "sondern er hat umgestellt, auf Manndeckung." Diese Taktik habe nun auswärts nicht mehr gegriffen, allerdings sehr wohl im September gegen eben diesen Gegner - und das über 90 Minuten, nachdem die Spieler gewiss nicht topfit aus dem Urlaub angereist waren. "Wenn mir da der Trainer auf den Keks geht", so Bierhoff, "dann mache ich das nicht. Aber die Spieler haben es gemacht."

Und - O-Ton Bierhoff - "ein Sauhaufen" sei diese Gruppe absolut nicht, sondern es handle sich um "tolle Jungs, die alle stolz sind, Nationalspieler zu sein". Allerdings sei diese aktuelle Auswahl "keine junge Mannschaft - da habe ich einen Fehler gemacht -, sondern eine unerfahrene", sagte Bierhoff und nannte Zahlen: Die 2014er Weltmeistermannschaft hatte 145 Prozent mehr Länderspielerfahrung, die 2010er Südafrika-Delegation 50 Prozent mehr.

"Warum Länderspiele?" - "Warum eine langweilige Vorrunde in der Champions League?"

Da bei der nächsten Zusammenkunft im März 2021 die gleiche Terminenge herrsche - drei Begegnungen in zehn Tagen -, müsse die unmittelbare EM-Vorbereitung den taktischen und spielerischen Findungsprozess entscheidend befördern. Und weil er gerade den Jahreskalender behandelte, äußerte sich der Nationalmannschaftsbeauftragte des Verbandes zur Debatte, in Corona-Zeiten hätten die herbstlichen Länderspiele gestrichen werden müssen. "Warum Länderspiele?" Sein Konter: "Warum eine langweilige Vorrunde in der Champions League?" Seine Erklärung: "Damit weiter die hohen Spielergehälter bezahlt werden können." Da hat der DFB-Mann sicher nicht unrecht.

Allerdings weiß auch dieser kämpferische Bierhoff, dass seine Verbaloffensive nichts hilft, wenn sie nicht vom Tun auf dem Platz bestätigt wird. "Der Funke an die Fans muss über die Mannschaft durch gute Auftritte und Ergebnisse rüberkommen", sagt Bierhoff, spricht vom "nächsten Kapitel", das 2021 beginne, und übergibt die Zuständigkeit an den Bundestrainer: "Es darf nicht so bleiben, wie es ist." Und: "Es ist Sache der Trainer, wie sie die nächsten Spiele und dieses Turnier angehen."

Boateng, Hummels, Müller? "Trainerstab und Jogi sind nicht verbohrt"

Also mit welchen Spielern? Konkret: Mit den im März 2019 aussortierten Weltmeistern Jerome Boateng, Mats Hummels und Thomas Müller? "Die Trainer und Jogi Löw werden machen, was das Beste für die Mannschaft ist", entgegnet Bierhoff. Bisher meinte der DFB-Chefcoach, ein Ensemble ohne dieses Routinetrio sei das Beste, "jetzt müssen sie eine Antwort finden, was Richtung Turnier das Beste ist". Was ist am besten? Nun wand sich Bierhoff um eine Festlegung und rettete sich in diese Zusammenfassung: "Der Trainerstab und Jogi sind nicht verbohrt, es gibt keine zwischenmenschlichen Probleme, sie haben jetzt alle Optionen zu überlegen: Wie wollen wir diese neue Mannschaft jetzt aufbauen?" Nix Genaues weiß man also noch nicht. Doch auch Löw schloss bislang nie die Chance auf ein Comeback der drei Weltmeister aus.

Eindeutig fiel Bierhoffs Bekenntnis zum Bundestrainer aus. Zwar habe er sich in den vergangenen 14 Tagen Gedanken über die Besetzung des Bundestrainerpostens gemacht und sich zudem extern beraten. Löw selbst habe für den Fall, dass der Verband mit ihm weitermachen wollte, das absolute Vertrauen eingefordert. Gegenüber Bierhoff hat er sich "nachdenklich" geäußert, "die Kritik tut natürlich weh, haut ihn aber nicht um", so der DFB-Direktor. Nun sei Löw bereit, das Ganze anzugehen. Mit Blick auf den Auftrag EM hat Bierhoff "das Gefühl, dass Jogi Löw dafür der richtige Trainer ist".

Hinterher wird abgerechnet.

Karlheinz Wild

Löws Höhen und Tiefen: Stationen einer Ära