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"Theater des Absurden": Die blutige Vergangenheit von Chiles Nationalstadion

Ein Länderspiel ohne Gegner mit nur einem Tor endet 2:0

"Theater des Absurden": Die blutige Vergangenheit von Chiles Nationalstadion

Das Nationalstadion in Santiago de Chile. 2015 gewann Chile hier die Copa America.

Das Nationalstadion in Santiago de Chile. 2015 gewann Chile hier die Copa America. Getty Images

1971 noch hatte Kubas Diktator Fidel Castro im Nationalstadion die sozialistischen Massen begeistert, 1972 war der Sozialist und Nationalpoet Pablo Neruda, eben erst mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet, geehrt worden. 1973 war dann alles anders.

General Augusto Pinochet putschte gegen den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Der überlebte jenen 11. September nicht. Allende richtete sich, vom putschenden Militär in eine aussichtslose Situation manövriert, im Präsidentenpalast selbst.

Linksaußen Eduardo Herrera vom Klub Wanderers aus Valparaiso war damals Nationalspieler Chiles und als solcher gerade in der Hauptstadt Santiago und im Hotel Carrera abgestiegen, 100 Meter vom Präsidentenpalast entfernt.

Ein Schreiben rettet die Nationalspieler

"Als ich zum Trainingsgelände kam, sagte uns Trainer Luis Alamos, wir sollten wieder zurück nach Hause gehen. Ich musste also zurück ins Hotel, und auf dem Weg dahin stoppten mich die Militärs bestimmt zehnmal. Ich kam nur durch, weil ich ein Schreiben bei mir hatte auf dem stand: 'Fußball-Nationalmannschaft Chiles'".

Rot bedeutet im Fußball nicht den Tod. Allenfalls ein paar Spiele Sperre. Unter Diktator Pinochet bedeutete Rot aber damals in Chile oft genug den Tod. Für Tausende, die politisch rot waren oder auch nur für Sozialisten oder Kommunisten gehalten wurden. Damals, nach dem Militärputsch vom 11. September 1973.

Das Nationalstadion wird zum Folterzentrum

Nach dem Putsch funktionierte Pinochet das Nationalstadion in Santiago um zu einem Folterzentrum, Zehntausende wurden darin festgesetzt, Unzählige gefoltert, Dutzende überlebten die Misshandlungen nicht, darunter die US-Amerikaner Charles Horman und Frank Teruggi. Ihr Schicksal wird später in dem Oscar-prämierten Film "Missing" von 1982 mit Jack Lemmon verfilmt.

Carlos Caszely war wie Herrera Nationalspieler. Caszely überlebte. Obwohl er ein Kritiker der Diktatur war. Caszely überlebte zwar, am 5. Juli wird er 70 Jahre. Der Jubilar sagt: "In der Seele habe ich noch heute Schmerzen". Denn Caszelys Mutter wurde damals gefoltert. In den Monaten vor der WM 1974 in Deutschland war das.

Carlos Caszely (#7) wirft sich nach seinem Revanche-Foul gegen Berti Vogts ebenfalls hin, wird aber trotzdem als erster Spieler der WM-Historie des Feldes verwiesen.

Carlos Caszely (#7) wirft sich nach seinem Revanche-Foul gegen Berti Vogts ebenfalls hin, wird aber trotzdem als erster Spieler der WM-Historie des Feldes verwiesen. imago images

Bei dem Turnier sah ihr Sohn dann die erste Rote Karte der WM-Geschichte: gleich beim 0:1 im Auftaktspiel in Berlin gegen Gastgeber Deutschland, nach einem Revanche-Foul an Berti Vogts. Caszely: "Ich traf ihn wirklich heftig. Aber Vogts hatte mich wirklich sehr getreten und dafür nicht mal Gelb gesehen. Diese Karte ist Teil meines Lebens, ich will sie gar nicht auslöschen. Sie gehört zu meiner Vita."

Wichtiger ist Caszely sowieso ganz anderes: Übelgenommen hätten ihm den Platzverweis und damit das Schwächen der Mannschaft "die von Pinochet instrumentalisierten Medien. Wir spielten in einem freien Deutschland, aber wir kamen aus einem unfreien Land".

Caszely verweigert Pinochet den Handschlag

Vor dem Abflug aus Chile zur WM hatte der Angreifer Pinochet wegen der Inhaftierung seiner Mutter den Handschlag deshalb verweigert. "Meine Mutter foltern. Was für eine größere Strafe kann es für einen Sohn geben?" Mit dem verweigerten Handschlag habe er, erinnerte sich Caszely einmal gegenüber dem kicker, "das Gefühl von 90 Prozent der demokratischen Chilenen" zum Ausdruck gebracht. "Ich war mit der Aktion die Stimme all derer, die keine hatten. Ich konnte Pinochet nicht die Hand geben."

Und Caszely erläuterte: "Ich war Fußballer, aber ich lebte nicht in einer Blase. Ich hatte studiert und wusste, wie die Menschen leben, dass sie kein Geld hatten, Brot zu kaufen, sich aber nicht trauten, den Mund aufzumachen."

Wir wollten den Leuten ein wenig Freunde bereiten. Zu Hause wurden unsere Brüder und Schwestern umgebracht.

Carlos Caszely, WM-Teilnehmer 1974

Bei der WM folgte dem 0:1 gegen die DFB-Elf für die Roja ein 1:1 gegen die DDR, zum Abschluss gab es ein 0:0 gegen Australien. "Wir wollten den Leuten mit Fußball ein wenig Freude bereiten, auch wenn damit nichts im Land besser würde", so Caszely. "Zu Hause schossen Chilenen auf Chilenen, unsere Brüder und Schwestern wurden von Landsleuten gefoltert und umgebracht. 20 Prozent unseres Geistes und Herzens waren immer bei den Menschen in Chile."

"Die Ermordeten wurden an verschiedenen Stellen der Stadt entsorgt", sagt Wally Kunstmann, die deutschstämmige Gründerin und Präsidentin von 'Estadio Nacional-Memoria Nacional'. So der Name der Gedenkstätte, die mittlerweile auf dem Stadiongelände funktioniert. Kunstmann wurde unter Pinochet selbst verfolgt und erreichte mit ihrem Einsatz, dass die Arena 2003 zu einem "historischen Monument" erklärt - und nicht, wie geplant, abgerissen wurde.

Die UdSSR weigert sich, anzutreten

Monatelang war das Stadion nach dem Putsch als Folterzentrum missbraucht worden, im November 1973 aber wird es kurzzeitig geräumt. Für das, was Carlos Caszely das "Theater des Absurden" nennt: WM-Qualifikation, Play-off-Rückspiel gegen die UdSSR. Es geht um das Ticket nach Deutschland.

Zuvor hatte es in Moskau ein 0:0 gegeben. Beim Rückspiel in Chile weigerte sich die UdSSR, der kommunistische Verbündete des gestürzten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende, im Nationalstadion anzutreten.

Also stehen beim Anstoß elf Chilenen allein auf dem blutgetränkten Rasen. "Ich wollte den Ball nicht berühren", sagte Stürmer Caszely einmal dem kicker. "Ich schaute nur auf die Tribünen." Was er sieht: "Überall schwer bewaffnete Militärs." Die wenigen Zuschauer: "Vermutlich Angehörige von Soldaten."

Chile schießt ein Tor - Endstand: 2:0

Chile spielt sich ein paarmal den Ball zu, Francisco Valdes Munoz macht das 1:0, dann bricht der 2016 verstorbene Österreicher Erich Linemayr das Spiel ohne Gegner ab. Caszely: "Ein Zirkus." Das Match wird 2:0 gewertet. Chiles WM-Qualifikation ist perfekt.

14 hölzerne Bankreihen als Mahnmal. Darüber steht geschrieben: "Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft."

14 hölzerne Bankreihen als Mahnmal. Darüber steht geschrieben: "Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft." imago images

2015 wird Chile in diesem Stadion erstmals Südamerika-Meister. Doch weder beim Eröffnungsspiel jener Copa America noch rund um das Finale wird an das Grauen von 1973 erinnert. "Eine Schande", meint Caszely. Viele hätten eben "Angst vor der Aufarbeitung". Kunstmann bedauert: "Der chilenische Verband hat uns vom Museum nicht einmal eingeladen während Copa."

Immerhin: Trotz des Titelgewinns bleibt es nach dem Final-Sieg über Lionel Messi und Argentinien in einem Teil des Stadions totenstill. Auf einer Holztribüne hinter dem Tor: 14 Bankreihen, auf denen einst Gefangene saßen. Sie sind Teil der Gedenkstätte. Darüber eine Mahnung: "Ein Volk ohne Erinnerung ist ein Volk ohne Zukunft".

Jörg Wolfrum