EM

Italiens Schattenmann Jorginho - und die Geschichte 20 Euro

Chelsea-Profi ist das lenkende Herz im italienischen Team

Schattenmann Jorginho - und die Geschichte mit den 20 Euro Taschengeld

Stets ans Team denkender Strahlemann: Jorginho.

Stets ans Team denkender Strahlemann: Jorginho. imago images

Kapitän Giorgio Chiellini, Abwehrstratege Leonardo Bonucci, der leider schwer verletzte Leonardo Spinazzola, der rechtzeitig fit gewordene Ballverteiler Marco Verratti, der auf dem Transfermarkt begehrte Manuel Locatelli, Antreiber Federico Chiesa oder auch Dribbelkünstler Lorenzo Insigne: Die Liste auffälliger italienischer Nationalspieler ist lang bei dieser EM - und kann durchaus noch erweitert werden. Doch schon diese paar Namen verraten dem Fußball-Fan dieser Tage eines: Die Squadra Azzurra ist zurück an der europäischen Spitze - und steht in vielerlei Augen verdientermaßen im EM-Endspiel gegen England, das am Sonntag (21 Uhr) über die Bühne geht.

Im Allgemeinen wird im Sport und insbesondere im Fußball aber auch stets nach dem einen Schlüssel gesucht, dem wichtigsten Anker eines Teams. Also nach dem Mann, der einen Laden komplett zusammenhält. Die logische Schlussfolgerung im Falle Italiens wäre sicherlich Chiellini oder Bonucci, doch ein etwas genauerer Blick bringt den Namen Jorginho ins Spiel. Also den Profi des FC Chelsea, der ausgerechnet unter Nationaltrainer Roberto Mancini die Schaltzentrale geworden ist - und während der 90 oder manchmal 120 Minuten für den auf Stars getrimmten Fan gern auch mal für lange Zeit abtaucht und gefühlt gar nicht stattfindet. Doch gerade das macht den in Brasilien geborenen Denker und Lenker so wichtig.

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Jorginho nämlich ist beileibe keine wild gestikulierende Posaune. Der 29-Jährige verkörperte früher in Neapel (2014-2018) und seit 2018 für Chelsea vielmehr eine Art Dirigent, der wie beim Halbfinale gegen Spanien erst am Ende des Konzerts im Rampenlicht steht, wenn kurz der große Applaus aufkommt. Und dann aber - in diesem Fall nach seinem lässig verwandelten Elfmeter zum 4:2-Endstand - auch schnell wieder bescheiden hinter dem Vorhang verschwindet und sich bei der Arbeit sowie dem Einsatz seiner "Musiker" bedankt. "Wir haben gegen einen mächtigen Gegner gespielt. Wir haben gelitten. Doch wir spielen und leiden stets zusammen - und das ist das Besondere an diesem Team", so Jorginho nach dem Finaleinzug in Wembley.

Ein Machtwort der Mama hält Jorginho in Italien

Doch ob er will oder nicht, ein Blick auf seinen Werdegang muss sein. Dieser Blick verrät schließlich noch mehr Details, die den technisch starken Mittelfeldakteur in seinem Charakter beschreiben und auszeichnen.

Am 20. Dezember 1991 im brasilianischen Imbituba als Teil einer italienischstämmigen Familie geboren, macht sich der mit bürgerlichem Namen heißende Jorge Luiz Frello Filho im Alter von nur 15 Jahren gen Italien auf. Allein! Mauro Gibellini, der frühere Sportdirektor bei Hellas Verona, hat einige hundert Kilometer von Jorginhos Heimatstadt Imbituba eine Fußballschule, auf die auch der junge Zauberfuß gegangen ist. Nach ein paar Jahren dort holt Gibellini ihn eben trotz des jungen Alters nach Verona. So ein Schritt kann durchaus an den Nerven eines pubertierenden Jungens zehren - und hat es auch in diesem Fall: Bereits nach zwei Jahren auf dem Stiefel übermannt Jorginho, wie er selbst einmal gesagt hat, das Heimweh. Ein verzweifelter, hochemotionaler Anruf bei seiner Mutter ist die Folge.

Ich wollte aufgeben, war am Boden zerstört. Ich habe geweint, wollte zu meiner Mutter zurück und nie wieder Fußball spielen.

Jorginho

Der Traum vom Profifußball, dem der gebürtige Brasilianer völlig alleine in Italien nachjagt zu diesem Zeitpunkt, er scheint in diesem Moment geplatzt und gar in einen Alptraum mutiert zu sein. Der Jugendliche will sofort nach Hause. "Ich wollte aufgeben, war am Boden zerstört. Ich habe geweint, wollte zu meiner Mutter zurück und nie wieder Fußball spielen", erinnert sich Jorginho. Seiner Mutter Maria Tereza blutet dabei das Herz, doch sie zeigt Härte - und weiß offenbar, dass so etwas Heranwachsende formen kann. "Komm' nicht zurück. Es mag sich schlimm anfühlen, aber du bist so kurz davor, deinen Traum zu realisieren - und das wird bald passieren", habe seine Mama ihm klipp und klar gesagt, bestätigt Jorginho selbst. Und siehe da: Jorginho ist geblieben, hat die Jugendausbildung bei Hellas Verona durchlaufen, ist 2011 fester Bestandteil der Veronesen geworden, zum Profi und mit dem Team sogar in die Serie A aufgestiegen.

"Sechs von uns in einem kleinen Raum für eineinhalb Jahre"

Alles gut also nach dem einen Telefonat mit der Mutter? Nicht ganz, weitere Hürden haben sich vor dem 1,80 Meter großen Spieler aufgetan. Denn auch wenn Jorginhos Qualitäten früh erkennbar sind, tut er sich in der Nachwuchsakademie von Hellas lange vor seinem später erreichten Durchbruch schwer, sehr schwer sogar. Deswegen blickt er heutzutage mit gemischten Gefühlen auf die Zeit in dem dortigen alten Kloster zurück: "Es gab einen Ort für die Mönche dort und einen für die Schüler der Akademie. Es waren sechs von uns in einem kleinen Raum für eineinhalb Jahre - und wir bekamen 20 Euro pro Woche." Nicht viel, um Dingen zu frönen, die Jugendliche in diesem Altersbereiche gerne nachgehen wollen.

Irgendwann trifft er in dieser Zeit auf den brasilianischen Torwart Rafael Pinheiro, der für Verona gespielt und dem er seine Geschichte ausführlich erzählt hat. Durch Pinheiro wird Jorginho bewusst, dass etwas falsch laufen muss. "Er ist ausgerastet, weil er meinte, es sei nicht richtig, dass ich ohne meine Familie und von nur 20 Euro in der Woche lebe", so das heutige Azzurri-Ass. Eben jenes Telefonat mit der Mutter Maria Tereza Freitas ist die Folge, was aus dem wankenden Willen Jorginhos einen eisernen Willen formt.

"Il Professore" und "Radio Jorginho"

Jorginho küsst den Henkelpott.

Könnte nach dem Champions-League-Sieg mit Chelsea direkt noch den EM-Pott hochhalten: Jorginho. Getty Images

"Er hat eine starke Persönlichkeit, in einem Team ist er der Kommandant", beschreibt Gibellini seinen ehemaligen Schützling im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Und hat damit recht. Jorginho nämlich reift gerade ab 2014 und Lehrmeister Maurizio Sarri zum gestandenen Serie-A-Profi, technisch versiert, stets das ganze Feld und die etwaigen Aufbaumöglichkeiten im Blick. All das auf der Sechserposition, obwohl er eigentlich Ronaldo, Ronaldinho und Kaka als Vorbilder seiner Kindheit nennt. Längst orientiert sich der aus dem südbrasilianischen Bundesstaat Santa Caterina stammende Jorginho aber an ehemaligen Größen wie Andrea Pirlo und Xavi. "Diese Rolle hat mir gefallen", sagt er selbst.

Sein langjähriger Napoli-Coach Sarri ist es dann auch, der ihn 2018 mit nach London nimmt. Dort tun sich zunächst zwar auch erst Gegenstimmen auf, die Jorginho die Premier-League-Tauglichkeit absprechen, doch allen voran der Europa-League-Erfolg 2019 und spätestens der diesjährige Champions-League-Triumph, wo er für Coach Thomas Tuchel absolut unverzichtbar gewesen ist, lassen die Kritiker mehr und mehr verstummen. Gerade seine Übersicht und seine steten Kommentare wie Hinweise für seine Mitspieler auf dem Feld haben ihn an der Stamford Bridge unverzichtbar gemacht, genauso in der italienischen Nationalmannschaft, wo Jorginho inzwischen "Il Professore" oder "Radio Jorginho" genannt wird.

Apropos Nationalmannschaft: Für die Azzurri läuft Jorginho - die Staatsbürgerschaft nimmt er 2012 an - erst seit 2016 auf. Sein Debüt: 24. März 2016 mit einer späten Einwechslung gegen Spanien. Sein jüngstes Spiel: 6. Juli 2021 beim EM-Halbfinale, wo er zum Held beim Elfmeterschießen wird. Gegner hier: Spanien. Es scheint ganz so, als wäre aus dem unsicheren 15-jährigen Jorge Luiz Frello Filho ein gestandener Mann entwachsen. "Ich habe Kritik immer als Motivation gesehen, es besser zu machen", sagt Jorginho nach seiner fast ganz allein durchlebten Metamorphose heute dazu. Oder in den Worten von Lehrmeister Sarri: "Wenn er die Europameisterschaft gewinnt, ist er ein Kandidat für den Ballon d'Or."

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Jorginho über harte Arbeit und einen weit entfernten "Kindheitstraum"

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