Int. Fußball

Das Leicester vom Polarkreis: Wie Bodö/Glimt Norwegen verzaubert

Selbst die "New York Times" schaut zum Fast-Meister

Das Leicester vom Polarkreis: Wie Bodö/Glimt Norwegen verzaubert

Hinhören und zusehen: Bodö/Glimt wird zum ersten Mal überhaupt norwegischer Meister.

Hinhören und zusehen: Bodö/Glimt wird zum ersten Mal überhaupt norwegischer Meister. imago images

Bis man hier oben ankommt, dauert es. Von Oslo ganze 16 Stunden mit dem Auto. Hier oben im Norden Norwegens geht die Sonne gerade erst um kurz nach 9 Uhr auf, fünf Stunden später ist sie schon wieder verschwunden. Sonderlich kalt, wie man das von einer Stadt nördlich des Polarkreises vermuten könnte, wird es nicht. Dafür sorgt der Golfstrom.

Hier oben, 45 Flugminuten zwischen Trondheim und Tromsö, liegt Bodö, eine kleine Stadt in den Fjorden. 50.000 Einwohner, die ihr Leben eher Fisch als Fußball widmen, durften hautnah miterleben, wie der FK Bodö/Glimt die norwegische Liga innerhalb von zwei Jahren auf links gedreht hat.

Am kommenden Wochenende, da ist sich Aasmund Björkan ganz sicher, wird Bodö/Glimt zum ersten Mal norwegischer Meister und anschließend sämtliche Rekorde brechen. Sechs Spieltage vor Schluss hat der kleine Klub mit einem Viertel des Budgets von Altmeister Rosenborg 18 Punkte Vorsprung auf Titelverteidiger Molde. Von 24 Spielen hat Bodö 21 gewonnen und dabei 83 Tore geschossen.

"Wir wurden letztes Jahr schon mit Leicester City verglichen", ordnet Sportdirektor Björkan im Gespräch mit dem kicker ein, spricht aber trotzdem von einer "Märchengeschichte".

Bodö

Idylle in Norwegen: Die Fjorde um Bodö. imago images

Björkan, in Bodö geboren, war selbst noch Trainer, als der Klub vor vier Jahren mal wieder in die zweite Liga abstieg. Auch Sascha Mockenhaupt erinnert sich. Der heutige Wiesbadener war im August 2016 spontan nach Norwegen gewechselt, weil er beim 1. FC Kaiserslautern nicht gespielt hätte - und Björkan in Bodö dringend einen Innenverteidiger brauchte.

"Einer seiner Jungs", erzählt Mockenhaupt dem kicker, "hatte Drüsenfieber, glaube ich." Wie es der Zufall so wollte, war sein Berater gerade sowieso zu Verhandlungen in Bodö, als Mockenhaupt ihm erklärte, dass er Kaiserslautern verlassen müsse. Wenige Minuten später erhielt der damals 25-Jährige zwei Flugtickets, hin und zurück. Er brauchte nur eins.

"Durch das Jahr in Lautern war mir der Fußball ein bisschen gegen den Strich gegangen, immer musste man sich erstmal beweisen und stand unter ständiger Beobachtung. Ich fand es einfach schön, dass mich jemand unbedingt haben wollte." Also blieb Mockenhaupt, obwohl er von Bodö/Glimt noch nie zuvor gehört hatte, gleich in Norwegen und bat seine Frau, die Klamotten zusammenzusuchen und nachzureisen. "Wir haben eine Wohnung am Hafen gemietet, es war traumhaft."

Mein Sohn schreibt morgen eine Deutsch-Arbeit, kannst du ihm vielleicht nochmal kurz helfen gleich?

Trainer Aasmund Björkan zu Sascha Mockenhaupt

Trainiert wurde im kleinen, rund 5000 Zuschauer fassenden Stadion, weil der dort liegende Kunstrasen "relativ belastbar" war. "Wenn zu viel Schnee lag", was im Winter durchaus mal vorkam, "konnten wir in die Halle." Als "professionell" würde Mockenhaupt die Bedingungen in Bodö nicht beschreiben, ohnehin war er einer der mit Abstand erfahrensten Spieler. "Die meisten Jungs waren damals 16 oder 17, sie kamen alle aus der eigenen Jugend."

Gleich beim ersten Training fiel Mockenhaupt ein großgewachsener Stürmer auf, der trotz seiner erst 16 Jahre "eine unglaubliche Qualität" hatte. Im September 2020, also vier Jahre später, wechselte dieser Stürmer, Jens Petter Hauge, für fünf Millionen Euro zu Milan und avancierte damit zum neuen Rekordverkauf von Bodö/Glimt.

Sascha Mockenhaupt

Im Pokalspiel gegen Rosenborg: Sascha Mockenhaupt mit Bodö. imago images

So jung und talentiert die Mannschaft von Aasmund Björkan auch daherkam, so unerprobt ging sie in den Abstiegskampf und zog den Kürzeren. "Da war aber niemand wirklich sauer", rekapituliert Mockenhaupt. "Fußball bedeutete nicht alles für die Menschen dort." Nach einer der insgesamt 16 Niederlagen ging Björkan direkt auf Mockenhaupt zu: "Kopf hoch", sagte der Trainer, hatte aber noch eine etwas spezielle Frage an seinen Neuzugang: "Mein Sohn schreibt morgen eine Deutsch-Arbeit, kannst du ihm vielleicht nochmal kurz helfen gleich?" Der Sohn war gleichzeitig Mockenhaupts Mitspieler, Frederik André Björkan. "Dieser ganze Verein ist eine riesengroße Familie."

Durch den Abstieg wurde Mockenhaupt zu teuer für Bodö/Glimt und ging mit seiner schwangeren Frau zurück nach Deutschland. "Es ließ sich jedoch durchaus erahnen, dass in dieser Mannschaft riesiges Potenzial steckte."

Bodö/Glimt schaffte 2017 den direkten Wiederaufstieg, danach wurde Björkan Sportdirektor und übergab den Trainerjob an Kjetil Knutsen, seinen bisherigen Assistenten. Zum einen, weil "Kjetil ein brillanter Trainer ist, den alle Spieler lieben". Zum anderen, weil die Sache mit Sohn Frederik André etwas komplizierter wurde. "Es war sehr schwierig, auf höchstem Level mehr Trainer als Vater zu sein".

Wir schauen Spiele im TV oder bekommen Tipps von Beratern.

Sportdirektor Björkan über die fehlende Scouting-Abteilung in Bodö

Mit der nach wie vor fast gleichen Mannschaft beendete Aufsteiger Bodö/Glimt die Saison auf Platz elf, ein Jahr später als Zweiter. Das, sagt Björkan, war für Fußballfans in Norwegen "schon wie Leicester Citys Meisterschaft 2016".

Trotz des so jungen Kaders hielt Knutsen an jenem Spielstil fest, der den Verein laut Björkan schon seit fast 50 Jahren prägt. Spätestens seit 1992 ist der Verein nicht mehr vom 4-3-3-System abgerückt, das Ikone Trond Sollied aus Trondheim mitbrachte. Bei Rosenborg hatte der heute 61-Jährige als Spieler von Nils Arne Eggen gelernt. Eggens Vorstellung des dominanten Pressingfußballs gefiel Sollied, und er nahm sie mit zu seiner ersten Trainerstation in Bodö.

Das beschauliche Station in Bodö

Spiel- und Trainingswiese: Das beschauliche Station in Bodö. imago images

Seitdem habe sich kaum etwas geändert, sagt Björkan, "wir haben den Ansatz lediglich weiterentwickelt und sind ein bisschen besser geworden". Die 83 Saisontore resultieren, wenig überraschend, aus einer sehr offensiven Grundordnung. Bodö/Glimt presst 90 Minuten lang, setzt den Gegner an dessen Sechzehner schon unter Druck. "Früher waren wir eine Kontermannschaft, das haben wir jetzt noch mit Ballbesitz und Dominanz kombiniert." Auch deshalb vergleicht Björkan Bodö/Glimt nicht ungerne mit Liverpool oder dem FC Bayern.

Der minimale Unterschied: Fast ein Drittel des Kaders von Bodö/Glimt ist in der Stadt geboren und hat die hauseigene Akademie durchlaufen. Jens Petter Hauge zum Beispiel, der in der Europa-League-Qualifikation so gut spielte, dass Milan ihn gleich da behielt. Oder Kapitän Patrick Berg, der gerade zum ersten Mal für die Nationalmannschaft berufen wurde. Er ist schon die dritte Generation der Familie Berg in Bodö, Vater Orjan leitet inzwischen die Akademie. Opa Harald gilt in Norwegen als einer der besten Fußballer aller Zeiten.

Der restliche Kader, der nicht in Bodö die Polarlichter der Welt erblickt hat, besteht aus Spielern, die sonst keiner mehr wollte. Besonders stolz ist Björkan mit seiner Ein-Mann-Scoutingabteilung ("Wir schauen Spiele im TV oder bekommen Tipps von Beratern") auf Marius Lode, einen Innenverteidiger, den er vor drei Jahren aus der 3. Liga geholt hat. "Auch er wurde gerade zum ersten Mal zur Nationalmannschaft eingeladen."

Angreifer Kasper Junker ist mit 600.000 Euro zwar Bodös Rekordtransfer, hatte in über 150 Profi-Spielen vor Bodö aber lediglich um die 20 Tore erzielt. In der laufenden Saison traf Junker in 19 Spielen 18-mal und bereitete dazu acht Tore vor. Philip Zinckernagel, ein 25-jähriger Außenstürmer, war 2018 bei SönderjyskE nicht mehr erwünscht. Nach 14 Toren und 19 Vorlagen in 22 Saisonspielen hat Zinckernagel gerade Pini Zahavi als Berater engagiert.

Aasmund Björkan

Hauptgestalter des Erfolgs: Aasmund Björkan wurde in Bodö geboren, war erst Trainer und jetzt Sportdirektor. imago images

Er wird Bodö mit ziemlicher Sicherheit im Sommer verlassen, aber darauf ist Björkan längst vorbereitet. "Von unserem Gesamtbudget", also sechs Millionen Euro, "fließt alleine eine Million in die Jugendabteilung, weil wir anders gar nicht bestehen können."

Dass sein Klub in der kommenden Saison vielleicht Champions League spielt, ändert nur wenig am Geschäftsmodell. "Wir können keine fertigen Spieler kaufen, das geht nicht. Wir kennen unseren Spielstil und wissen, wonach wir suchen müssen." Und zwar? "Nach Spielern mit dem X-Faktor, wir suchen nach Qualität und nicht nach Namen."

Was die Geschichte von Bodö/Glimt so besonders macht, sind die einzelnen Geschichten der Hauptakteure: "Jeder Spieler in unserem Team stand in seinem Leben schon vor schwierigen Herausforderungen. Jeder einzelne." Auch deshalb, erwähnt Björkan stolz, gebe es in Norwegen angeblich "nicht eine Person", die in den vergangenen zwei Jahren keine Sympathien für Bodö/Glimt entwickelt hat. "Wir spüren diese Wertschätzung im ganzen Land. Jeder mag uns, wirklich. Jeder mag den Fußball, den wir spielen."

Jens Petter Hauge

Von Bodö nach Mailand: Jens Petter Hauge. imago images (2)

Inzwischen berichtet sogar die "New York Times" über die Märchengeschichte aus Bodö, Björkan erhält Anrufe von Sportdirektoren aus Deutschland. Auch wenn er leider keine Namen nennen möchte. Ob der Titel im kommenden Jahr zu verteidigen ist, weiß er nicht. "Wir haben große Ambitionen für 2021, aber ganz ehrlich: das ist gar nicht so wichtig. Wir sind nicht auf Ergebnisse fokussiert. Bei uns stehen Entwicklung und Leistung im Vordergrund."

Dass die Fans den ersten Titelgewinn seit dem Pokalsieg 1975 wegen der Corona-Pandemie nicht mit dem Team feiern dürfen, "ist natürlich schade", wie Björkan sagt. Aber, und das ist der Unterschied zu Leicester, manche Märchen "können vielleicht auch einfach wiederholt werden".

Mario Krischel