WM

Der Journalist, der in Katar seine 16. WM erlebt

WM-Kolumne "Mein Tag in Katar"

"1970 war die schönste": Der Journalist, der in Katar seine 16. WM erlebt

Pure WM-Erfahrung: Hartmut Scherzer.

Pure WM-Erfahrung: Hartmut Scherzer. kicker

Aus der Schar der Journalisten im riesigen Medienzentrum in Doha ragt einer heraus. Auch wenn er nicht von großer Statur und obwohl er alles andere als ein Lautsprecher ist. Dort, wo vor allem südamerikanische Kollegen mit schnellen Wortfolgen ihre "Aufsager" mit dem Handy machen und wo viele internationale Kollegen, vor allem aus Europa, das kicker-WM-Sonderheft zur Hand haben, sitzt ein Veteran unseres Berufsstandes, Hartmut Scherzer. Der heute 84-Jährige, einst Sportchef der in Frankfurt erschienenen "Abendpost Nachtausgabe", arbeitet als freier Journalist. Neben dem Fußball waren und sind das Boxen und der Radsport sein Metier. Vor allem aber: Es ist seine 16. Fußball-Weltmeisterschaft. Seine sechzehnte!

Scherzer war also schon 1962 in Chile dabei. "Die schönste WM", so erzählt er, war die 1970 in Mexiko. "Das hatte mit dem Flair des Landes zu tun und damit, dass die Gruppenphase in einem Ort, in Leon, in der tiefsten Provinz, ausgetragen wurde. Leon galt als mexikanisches Pirmasens, weil dort Schuhe hergestellt wurden." Es müssen paradiesische Zustände geherrscht haben für Journalisten: "Wir hatten freien Zugang zum deutschen Mannschaftsquartier in Comanjilla. Dort gab es diese berühmte Szene, in der die Spieler Bundestrainer Helmut Schön in kompletter Kluft ins Schwimmbad geworfen haben."

Die WM in Spanien 1982 war für ihn "die schlechteste, weil sich dort die deutsche Mannschaft derart schändlich benommen hat". Scherzer meint das "Gemauschel" der Deutschen und Österreicher zulasten Algeriens.

Was ihm Beckenbauer 1966 in der Kabine sagte, weiß er noch genau

15 - in Worten: nur fünfzehn - deutsche Journalisten waren 1962 in Chile insgesamt dabei. Den Presseausweis für das Turnier damals - er arbeitete für die Weltnachrichtenagentur United Press International - führt Scherzer noch heute mit sich.

Hartmut Scherzers Presseausweis für die WM 1962.

Hartmut Scherzers Presseausweis für die WM 1962. kicker

Was ist ihm als besonders erfahrenem WM-Journalisten hier in Katar aufgefallen? "Dass alles top organisiert ist. Dann die Freundlichkeit der Menschen, denen man hier begegnet. Die meisten, mit denen man ins Gespräch kommt, stammen ja nicht aus Katar. Ich traf einen Mann aus dem Sudan, einen Volunteer, der mit seiner Familie seit mehr als 20 Jahren hier wohnt. Er sagte, er wolle dem Land etwas zurückgeben, weil er hier gut lebe, während in seiner Heimat ständig Terror und Bürgerkrieg herrschten."

Scherzer steht Franz Beckenbauer nah. Direkt nach dem 1966 verlorenen Endspiel gegen England in Wembley saß er erstmals neben dem jungen Beckenbauer - in der Kabine! Scherzer zitiert den späteren "Kaiser", als wäre es gestern gewesen: "Ich glaube, ich habe meine Aufgabe ganz gut gelöst, ich sollte Bobby Charlton beschatten. Ich glaube, das ist mir gelungen. Er ist ein ganz fairer Spieler.“

US-Verhältnisse sind für Scherzer "unvorstellbar"

Wird es im europäischen Fußball dazu kommen, dass Reporter, wie es in den US-amerikanischen Profiligen üblich ist, in den Spielerkabinen nach einer Begegnung Interviews führen? "Dafür", so Scherzer, "sind es heute zu viele Journalisten. Unvorstellbar, das Gedränge in den Mixed Zones ist jetzt schon zu groß."

Anekdoten mit Beckenbauer hat der Kollege auch bei diesem Thema parat: "Als er Trainer von Olympique Marseille war, kamen, wie es in der französischen Liga Gewohnheit war, Journalisten in die Kabine. Beckenbauer hat sie rausgeschmissen. Daraufhin haben die französischen Medien gegen ihn geschossen. In Auxerre verlor Marseille einmal deutlich. Dort hat Beckenbauer einen Mann in Anzug und mit Krawatte rausgeworfen. Ich erklärte Franz, dass er soeben den Bürgermeister vor die Tür gesetzt hatte …" An Beckenbauers Antwort erinnert sich der bewundernswert erfahrene Reporter auch noch: “Woher soll ich den kennen?"

Scherzer, eine Lichtgestalt des deutschen Sportjournalismus, ist auch für seine 16. WM bestens gerüstet. "Allerdings", so sagt er, hat er ein Handwerkszeug bei der Abreise vergessen, "den kicker-Almanach". Das Nachschlagewerk, das er über Jahrzehnte wie die Sonderhefte gesammelt hat, hätte er gerne auch in Katar dabei gehabt.

In unserer WM-Kolumne "Mein Tag in Katar" berichten unsere sieben Reporter vor Ort abwechselnd über ihre persönlichen WM-Erlebnisse abseits des Fußballplatzes - über Sportliches und Unsportliches, Kurioses und Kritisches.

Jörg Jakob

kicker-Chefredakteur Jörg Jakob.

kicker-Chefredakteur Jörg Jakob. kicker