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Auf links gedreht: Wie Tua Tagovailoa die NFL spaltet

Vor dem ersten NFL-Spiel in Frankfurt

Auf links gedreht: Wie Tua Tagovailoa die NFL spaltet

Einhorn in Aktion: Tua Tagovailoa ist der einzige Linkshänder unter den NFL-Quarterbacks.

Einhorn in Aktion: Tua Tagovailoa ist der einzige Linkshänder unter den NFL-Quarterbacks. Getty Images

Mittlerweile fürchten sich nicht nur die Kommentatoren vor ihm. Tuanigamanuolepola Tagovailoa lässt sich immerhin gut abkürzen, "Tua" sich dafür schwer verteidigen. Der 25 Jahre alte Hawaiianer ist einer der Stars der bisherigen NFL-Saison. Als Quarterback der Miami Dolphins führt er die spektakulärste Offensive der Liga an, die beim 70:20-Sieg über die Denver Broncos fast den knapp 60 Jahre alten Rekord für die meisten Punkte eines Teams in einem NFL-Spiel gebrochen hätte.

Einen Touchdown-Pass in diesem Spiel warf er sogar "No-Look", ohne hinzusehen, einige Medien nannten es "magisch". Am Sonntag trifft er im ersten von zwei Frankfurt-Spielen auf die Kansas City Chiefs und Patrick Mahomes - bei den Buchmachern liegen die beiden Spielmacher ganz vorne im Rennen um den MVP-Titel.

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Neu ist das für Tagovailoa nicht, schließlich ist er auch in die vergangene Saison hervorragend gestartet - bis dieser große Skandal begann. Zwei Gehirnerschütterungen erlitt er im Laufe der Saison, ausgegangen wird sogar noch von einer weiteren, die offiziell nie bestätigt wurde, aber den anderen beiden vorausgegangen war. Die Dolphins hatten seine Verletzung im Spiel gegen die Buffalo Bills als Rückenblessur deklariert und ihn nach kurzer Behandlung wieder aufs Feld geschickt. Die Spielergewerkschaft ermittelte daraufhin gegen die Dolphins und entließ in letzter Konsequenz den bei diesem Spiel zuständigen Neurotrauma-Experten.

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Das war allerdings erst passiert, nachdem die Dolphins Tagovailoa nur vier Tage nach dem Vorfall wieder aufs Feld schickten, wo er nach einem Tackle hart mit dem Hinterkopf auf dem Rasen aufschlug. "Ab diesem Punkt war ich bewusstlos", schilderte er einige Zeit später. "Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich abtransportiert wurde, nur an einige Dinge aus dem Krankenwagen und dem Krankenhaus."

Tua Tagovailoa

Schockmoment: Der bewusstlose Tua Tagovailoa wird nach seiner Verletzung 2022 behandelt. Getty Images

Die Bilder des krampfend am Boden liegenden jungen Mannes hatten wahren Horror-Charakter. Für ihn selbst, für die Zuschauer, für alle Eltern, deren Kinder Football spielen wollen - und auch für die NFL. Noch bis 2016 hat die größte Sportliga der Welt geleugnet, dass es einen Zusammenhang zwischen im Spiel erlittenen Gehirnerschütterungen mit dem Auftreten der Chronisch-traumatischen Enzephalopathie (CTE) bei Spielern gebe - einer degenerativen Erkrankung des Gehirns, die durch Kopfverletzungen ausgelöst wird und zu Demenz, Verhaltensstörungen und Wesensänderungen führen kann.

Erst Anfang des Jahres wies eine Studie der Universität Boston die Krankheit in den Gehirnen von 345 von 376 verstorbenen Ex-NFL-Profis nach. In einzelnen Fällen hatten sich die von der Krankheit zerfressenen Männer das Leben mit einem Schuss in die Brust genommen. Nicht in den Kopf, um keine Beweise zu vernichten.

Die Studie war nur kurz nach Tagovailoas bislang letzter Gehirnerschütterung, die seine Saison und damit auch die der ohne ihn chancenlosen Dolphins beendet hatte, erschienen und befeuerte die Diskussion über die Gefahr dieses Sports, die die NFL selbst gerne unter den Tisch kehrt.

Der Quarterback wurde zum Mittelpunkt der Debatte. Darf man die Gesundheit dieses hochtalentierten Sportlers derart aufs Spiel setzen?

Man darf ihn nie wieder auf ein Football-Feld stellen, sagten die einen. Muss er selbst entscheiden, sagten die anderen.

Tagovailoa entschied sich fürs Weitermachen. "Ich habe ein Karriereende erwogen", sagte er nach der Saison zwar, verwies aber auf seinen mittlerweile gut ein Jahr alten Sohn: "Ich träume davon, dass er mir beim Spielen zuschauen kann." Dafür geht er sogar das Risiko ein, ihn irgendwann nicht mehr zu erkennen.

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Um weiteren Verletzungen vorzubeugen - bereits im College stand nach einer schweren Hüft-Verletzung das Karriereende im Raum, in keiner seiner bislang drei NFL-Saisons machte er alle Spiele - praktiziert "Tua" mittlerweile Jiu-Jitsu, mental scheinen ihm die hitzig geführten Diskussionen um seine Person wenig auszumachen. Er ist sie aber auch gewohnt, sie haben seine Karriere bestimmt.

Denn Tagovailoa ist in einem entscheidenden Punkt anders als alle anderen aktuellen Quarterbacks in der NFL: Er wirft mit links.

Macht nichts, sagen die einen. Macht doch was, sagen die anderen.

Das ist, als würde man ihnen eine Rechtshänder-Schere in die Hand drücken.

David Carr über Linkshänder-Quarterbacks

In der NFL sind Linkshänder jedenfalls deutlich unterrepräsentiert, weil sie es deutlich schwerer haben. Die Schemata der Coaches, ihre am Reißbrett entworfenen Spielzüge, die ganze Ausrichtung einer Offense - alles ist auf Rechtshänder ausgelegt. "Das ist, als würde man ihnen eine Rechtshänder-Schere in die Hand drücken", verglich der ehemalige NFL-Quarterback David Carr einst. Wobei Tagovailoa damit wiederum keine Probleme hätte. Denn eigentlich macht er alles mit rechts: Schreiben, essen, schneiden. Aber nicht werfen.

Eigentlich ist Tua gar kein Linkshänder

Geboren wurde Tagovailoa 1998 als Rechtshänder. Das ist er außerhalb des Footballfelds bis heute. Zum Bedauern seines Vaters Galu, einem hawaiianischen Gewichtheber - und Linkshänder. "Ich war immer der einzige in der Familie, also dachte ich: Okay, ich mache meinen Sohn zum Linkshänder", gab Galu während Tuas College-Zeit zu. Als der Junge mit drei oder vier Jahren im Garten zum ersten Mal Bälle warf, drückte ihm der Vater den Ball in die linke Hand. Immer und immer wieder. "Die Bewegung wurde irgendwann flüssig und er ist hineingewachsen."

So gut, dass Tagovailoa junior die NFL in den vergangenen Wochen im wahrsten Sinne des Wortes auf links gedreht hat. Auch weil Tua mittlerweile einer der besten Quarterbacks der Liga ist, träumen die Dolphins vom ersten Super-Bowl-Sieg seit 50 Jahren. Traumwandlerisch sicher setzt er das System von Coach Mike McDaniel um.

Können nicht viele, sagen die einen. Liegt hauptsächlich am Coach, sagen die anderen.

Fakt ist: Kaum ein Quarterback in der NFL wird den Ball so schnell los, dass der gegnerische Pass Rush erst gar nicht zu ihm durchkommt - und Tua hat in Tyreek Hill und Jaylen Waddle auch noch das vielleicht beste Receiver-Duo der Liga zur Verfügung. Seine größte Stärke ist jedoch die millimetergenaue Präzision in seinen Pässen. Eine Qualität, die ihn von vielen anderen abhebt - die aber auch seinen Preis hatte.

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Denn der Einfluss seines Vaters hat auch eine dunkle Seite. Zu seinen High-School-Zeiten habe Tagovailoa senior ihn nach Spielen "mit dem Gürtel und anderen Dingen" geschlagen, wenn er eine Interception geworfen hatte, erzählte Tua 2019 gegenüber "ESPN". Was auf das Interview folgte: Die nächste Diskussion über einen, der selbst ja gar nichts dafür konnte.

Wie kann er nur, sagten die einen. Hat ihm doch nicht geschadet, sagten die anderen.

Diesmal allerdings waren die anderen sehr wenige. Einer von ihnen: Tua selbst. Sein Vater habe ihn "motiviert und inspiriert" mit seinen altertümlichen Maßnahmen, sagte der Quarterback damals - und erntete kollektives Kopfschütteln. Was ihm aber wahrscheinlich egal war.

Die vielen Kontroversen, die er anzieht wie ein Magnet, obwohl er selbst nie große Töne spuckt und auf und neben dem Platz äußerst bescheiden wirkt, scheinen an ihm abzuprallen. "Ich liebe Football", lautet seine einfache Begründung, aus der sich aber viel erklären lässt. "Wenn ich das nicht tun würde, hätte ich schon vor langer Zeit aufgehört."

Michael Bächle

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