Champions League

Wie Robin Gosens und Atalanta Bergamo zum CL-Überraschungsteam wurde

Stürzt der kleine Klub aus Norditalien auch PSG?

Von Zügen und Zahnärzten: Wie Atalanta Bergamo zum Überraschungsteam wurde

Die Puzzleteile der Erfolgsgeschichte Atalanta Bergamo: Gian Piero Gasperini, Duvan Zapata und Robin Gosens.

Die Puzzleteile der Erfolgsgeschichte Atalanta Bergamo: Gian Piero Gasperini, Duvan Zapata und Robin Gosens. imago images (3)

An den meisten Tagen geht Robin Gosens nicht gerne zum Training. "Es ist einfach sehr heftig", schnauft der Deutsche im Gespräch mit dem kicker. Heftig ist zum einen die Intensität, heftig ist aber auch die Spontanität von Trainer Gian Piero Gasperini. Manchmal fällt dem "Mister" kurz vor Mitternacht ein, dass er am nächsten Tag doch lieber um 11 Uhr und nicht um 16 Uhr trainieren will.

Was beim Training folgt, spiegelt sich am Spieltag auf dem Platz wider: Vollgas. "Er scheucht uns zwei oder zweieinhalb Stunden über den Platz."

Unter Gasperini ist Atalanta in den vergangenen vier Jahren zur Top-Mannschaft in Italien aufgestiegen. Der kleine Klub aus der Lombardei, der sich als Ausbildungsklub versteht und über eine der besten Akademien des Landes verfügt, hat die Serie A im Schatten von Serienmeister Juventus aufgemischt und sich gerade zum zweiten Mal in Folge für die Champions League qualifiziert.

"Von außen betrachtet", sagt Gosens, "würde man vielleicht denken, dass wir ein zusammengewürfelter Haufen sind." Spieler aus 15 verschiedenen Nationen versammeln sich im Aufgebot des Tabellendritten. "Aber das passt einfach alles. Und so blöd es sich anhört: Wir sind wie eine kleine Familie. Jeder weiß, was er vom anderen erwarten kann."

Als linker Flügelverteidiger hat sich Gosens auf den Transfermarkt gespielt

In Gasperinis 3-5-2-System nimmt Gosens die Rolle auf der linken Seite ein und hat die beste Saison seiner Karriere hinter sich. Neun Tore und acht Vorlagen gehören europaweit zur Spitze, das ist auch Inter Mailand, Juventus oder dem FC Chelsea nicht entgangen.

Gosens kommt der intensive und offensive Spielstil zugute. Was Gasperini im Training von seiner Mannschaft verlangt, überträgt sie aufs Spielfeld. Das extrem hohe Angriffspressing fordert viel Kraft, doch darauf ist Atalanta eingestellt. Dass der Champions-League-Viertelfinalist nach der Corona-Pause trotz eines wahnsinnigen Kalenders nur das finale Ligaspiel (0:2 gegen Inter) verloren hat, ist kein Zufall.

Die Rollen sind klar verteilt - und doch variabel. Wenn Spielmacher Papu Gomez - in der Regel hinter der Doppelspitze Duvan Zapata/Josip Ilicic aufgeboten - sich fallen lässt, "wissen ich, der Innenverteidiger oder der Mittelfeldspieler, wie wir Papus Position zu ersetzen haben", erklärt Gosens. "Das bedeutet also, dass jeder die Freiheit hat, sich da zu bewegen, wo er will, der andere weiß dann aber auch, wie er die Lücke, die ich hinterlassen habe, zu füllen hat."

Papu Gomez und Duvan Zapata

Kongeniales Duo: Papu Gomez und Duvan Zapata. imago images

Die Folge ist ein kollektives Verschieben und Rotieren. In Gasperinis System, das vor allem über die Halbräume aufgebaut ist, bleibt Gomez zwischen Mittelfeld und Angriff der einzige "Freigeist". Gomez selbst hat mal gesagt, dass er sich oft am Schiedsrichter orientiert. "Wer hat die beste Position auf dem Feld? Der Schiedsrichter, er ist immer allein."

Selbst den Innenverteidigern ist es frei, nach Balleroberung mit nach vorne zu laufen. Warum wohl hat Rafael Toloi genauso viele Vorlagen (sieben) gesammelt wie Stoßstürmer Duvan Zapata?

Warum wohl hat Pep Guardiola ein Spiel gegen Atalanta mit dem Besuch beim Zahnarzt verglichen? Kein Gegner kann sich darauf einstellen, wer kommt und wann. Gosens kann genauso gut im Sturmzentrum auftauchen wie Sechser Marten de Roon oder eben Zapata, der laut Gomez selbst im Training wie "ein Zug auf dich zugelaufen kommt".

Atalanta hat in drei Jahren rund 200 Millionen Euro eingenommen - und wurde besser

Dass Atalanta alleine in den vergangenen drei Jahren rund 200 Millionen Euro durch Spielerverkäufe generiert und sich trotzdem jede Saison verbessert hat, ist zum einen der herausragenden Jugendarbeit, zum anderen aber auch dem Scouting geschuldet. Gosens kam für nicht mal eine Million Euro aus Almelo und darf im Sommer für 30 gehen, Ilicic war nicht mehr gut genug für Florenz und ist heute unter den Top-Torjägern der Champions League.

Hinzu kommen Glücksgriffe wie Luis Muriel, der mit seinen zehn Joker-Toren sogar Nils Petersen übertrumpft, und Ruslan Malinovskyi, "eine heftige Maschine" (Gosens). Kein Team ist in Italien auch nur annähernd so torgefährlich wie Bergamo, das alleine drei Gegnern in dieser Spielzeit sieben Treffer eingeschenkt und die Serie-A-Saison mit 98 Toren beendet hat - 17 mehr als jedes andere Team, 22 mehr als Meister Juventus.

Gala gegen Valencia

Gala gegen Valencia: Den Spaniern schenkte Atalanta im Achtelfinale acht Tore ein. imago images

Auch Rückstände, wie zum Beispiel beim 3:2-Sieg nach 0:2 gegen Lazio, sind kein Problem: "Das hat etwas mit der Mentalität zu tun", erläutert Gosens, "dass wir nie die Köpfe hängen lassen. Wir haben eine Truppe, die weiß, dass sie in jeder Minute in der Lage ist, ein Tor zu schießen. Deswegen ist ein Rückstand nie ein Problem, wir werden nicht panisch und lassen uns nicht von unserem System abbringen. Wir haben immer die Ruhe und das Vertrauen in unser eigenes Spiel."

Jetzt wartet in der Champions League der große Brocken mit Paris Saint-Germain. In der Liga hat Atalanta beim 2:2 gegen Juventus bewiesen, dass in der aktuellen Verfassung alles möglich ist. Nach einer desaströsen ersten Hälfte in der Gruppenphase hat auch Guardiola mit seinem Zahnarzt-Besuch beim Rückspiel (1:1) recht behalten. Nach null Punkten aus den ersten drei Spielen sind Gosens und Co. noch ins Achtelfinale eingezogen, haben dort Valencia zerlegt (4:1, 4:3) und gelten nun nicht umsonst als Geheimfavorit.

"In einem Spiel", sagt Gosens, "können wir definitiv jeden schlagen." Und im Halbfinale würde eben auch "nur" Atletico Madrid oder RB Leipzig warten und nicht Bayern oder ManCity.

Mario Krischel