Champions League

Die außergewöhnliche Geschichte des Robin Gosens - Champions League

Wie der "Bauer" zum Champions-League-Spieler wurde

Gosens' Geschichte: "Ich stehe vor deiner Haustür, wo bist du?"

Von Emmerich, über Almelo nach Bergamo: Die Geschichte von Robin Gosens.

Von Emmerich, über Almelo nach Bergamo: Die Geschichte von Robin Gosens. imago images

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 16. September 2019.

14 Uhr, 14.05 Uhr, 14.30 Uhr... "Und ich frag' ihn: 'Wo bist du denn?'"

Er meint den Mann mit dem Internet. Es sind Robin Gosens' erste Tage in Italien, "ich spreche die Sprache nicht und muss mir alles organisieren". Er braucht eine Wohnung und, ganz wichtig, Internet. "Ich war voll im Prüfungsstress!"

Ein Mitarbeiter von Atalanta Bergamo, Gosens' neuem Verein, hilft ihm bei der Organisation. "Der konnte aber kein Englisch, ich konnte kein Italienisch - und dann haben wir uns mit Google-Übersetzer verständigt. Ich sagte ihm: 'Ich brauche unbedingt Internet!' Er dann: 'Ja ja, ich besorge dir einen, der setzt dir das Internet da ein.'"

Gosens merkt früh, dass es schwierig werden könnte in Italien, oder zumindest anders. "Ich habe in Holland gespielt und gewohnt, das ist wie Deutschland." Dort wäre "jeder diszipliniert und immer pünktlich". In Bergamo nicht so ganz.

Am Tag darauf, es ist immer noch Gosens' erste Woche, kommt der Techniker "und meinte zu mir, ich bräuchte da so ein spezielles Teil, das er mir gerade nicht einbauen könne. 'Ja, okay', habe ich ihm gesagt, 'aber wann kommst du denn? Ich brauche dieses Internet!' Er sagte: 'Morgen, gleiche Zeit!'"

24 Stunden später ist Gosens vom Training zurück - und niemand da. "Ich weiß es noch wie heute: 14 Uhr, 14.05 Uhr, 14.30 Uhr - kein Mensch in Sicht, und ich hab' schon wieder die Krawatte des Grauens bekommen, rufe ihn an und frage: 'Wo bist du denn?' Es war eine Mischung aus Englisch und Italienisch; die drei Parolen, die ich zu diesem Zeitpunkt konnte. 'Wie, wo ich bin?', antwortet er." Gosens erzählt ihm vom vereinbarten Termin, doch "der Mann mit dem Internet" kann nicht. "'Ich komme morgen, gleiche Zeit', hat er mir dann versichert. Na klar..."

Du hast doch nicht mehr alle frisch, du willst nur dein eigenes Ding machen.

Gosens zu seinem ehemaligen Berater

Natürlich war am nächsten Tag wieder niemand da. "Eine Woche später bin ich beim Training, kurz vorher ruft der Typ mich an: 'Ich stehe vor deiner Haustür, wo bist du denn?'" Gosens hat überraschenderweise keine Zeit und erklärt, dass er erst in vier oder fünf Stunden wieder zuhause sein werde. "'Kein Problem', schrie er dann fröhlich. 'Ich warte hier und trinke einen Kaffee.'"

Um 18 Uhr kehrt Gosens zurück, und der Mann mit dem Internet wartet "tiefenentspannt" vor der Haustür. So wie in den Telefonaten zuvor spricht er in sein Zweithandy und lässt seine Sätze auf Englisch übersetzen. "'Hat doch früh geklappt', lachte er... Die Italiener ticken alle so!"

Gosens hat sich angepasst, "sonst hast du hier keine Chance". Seit zwei Jahren lebt und spielt er jetzt in Bergamo, hat mit Atalanta in dieser Zeit die Serie A auf den Kopf gestellt. Dem siebten Rang im ersten Jahr folgte in der vergangenen Saison die beste Platzierung der 112-jährigen Klubgeschichte, Atalanta wurde mit der besten Offensive der Liga Tabellendritter - vor Inter, vor Milan, vor der Roma. Gosens vergleicht es im kicker-Gespräch mit dem Wunder von Leicester City 2016. "Wir sind zwar nicht Meister geworden, aber auch der kleine Außenseiter gewesen, der sich gegen die Großmächte durchgesetzt hat."

Robin Gosens

Wenn alles nach Plan läuft: Robin Gosens. imago images

Atalanta macht es anders als die eigentliche Elite der Serie A. "Wir haben ja auch gar nicht das Budget der Römer oder Mailänder Vereine." Der kleine Klub aus der 120.000-Einwohner-Stadt im Norden Italiens profitiert von der herausragenden Jugendarbeit (Atalantas Jugendteams holten seit 1991 20 Meistertitel) und vom guten Scouting. "Unser Weg, unbekannte Spieler zu holen, den Marktwert zu steigern und sie teuer zu verkaufen, hat gefruchtet und wird auch weiterhin fruchten."

Gosens ist einer von den unbekannten Spielern, oder war es. Als 18-Jähriger hatte er noch in der Niederrhein-Liga gespielt, ein Probetraining bei Borussia Dortmund vermasselt und war bei einem Fünftligaspiel zufällig einem Scout von Vitesse Arnheim aufgefallen. Er wechselte in die U 19 des niederländischen Erstligisten, 40 Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt Emmerich. In Arnheim nahm Peter Bosz, damals Trainer der ersten Mannschaft, Gosens mit ins Wintertrainingslager nach Abu Dhabi und schulte ihn vom Mittelfeldspieler zum Linksverteidiger um. "Es war so etwas wie der Startschuss."

Der Durchbruch gelang ihm 2015 bei Heracles Almelo, anderthalb Jahre später erzählte sein Berater erstmals vom Atalanta-Interesse, bis zum Sommer blieb es jedoch ruhig. "Nach dem letzten Spiel der Eredivisie-Saison ist mein Berater nach Bergamo geflogen, um sich umzuhören, während ich mit meinen Jungs auf Mannschaftsfahrt nach Mallorca war." Da rief der Berater wieder an. "'Ich habe alles geklärt, die Ablösesumme wird bezahlt. Du kannst zu Atalanta wechseln.' Mir fiel fast das Telefon aus der Hand, er sollte ja eigentlich nur Informationen reinholen. 'Ich unterschreibe doch jetzt nicht in einem fremden Land bei einem Verein, von dem ich noch nicht ganz so viel gehört habe.' Er hatte sich wahrscheinlich selbst eine nette Prämie ausgehandelt, damit alles ganz schnell geht."

Gosens feierte erstmal weiter, bis spät am Nachmittag auch der Sportdirektor von Heracles zu ihm kam (er war mit auf Mannschaftsfahrt) und fragte, warum er noch zögere. Gosens blieb standhaft. "Sollte ich einfach meine Koffer packen und wechseln, ohne eine einzige Information zu haben? So läuft der Hase nicht, habe ich ihm gesagt."

Robin Gosens

Robin Gosens im Trikot von Heracles Almelo. imago images

Zu diesem Zeitpunkt war ein Wechsel eigentlich vom Tisch, Gosens trennte sich von seinem Berater ("Du hast doch nicht mehr alle frisch, du willst nur dein eigenes Ding machen") und erhielt kurz darauf Anrufe von einer unbekannten Nummer - es war der Sportdirektor von Atalanta. "Ich habe hundertmal 'ciao' verstanden, ansonsten aber nur Bahnhof." Die Frau des Sportdirektors sprang ein und übersetzte, lud Gosens für ein Wochenende nach Bergamo ein. "Es war komplett anders als das, was mir mein Berater erzählt hatte. Im Endeffekt war es die Serie A, also schon ein Traum, und Atalanta war in der Saison Vierter geworden. Also habe ich mich ins Flugzeug gesetzt, mit meinem Vater ein schönes Wochenende verbracht und alles geklärt."

In Italien steht Gosens, der ursprünglich mal eine Ausbildung als Polizist ins Visier genommen hatte, plötzlich Cristiano Ronaldo gegenüber, schmeißt ihn mit Atalanta auch noch hochkant aus der Coppa. "Das war ein herrliches Gefühl", lacht er, "die Kirsche auf der Torte."

Atalanta-Trainer Gian Piero Gasperini legt viel Wert auf das Ergebnis, aber viel mehr noch darauf, "richtig Fußball" zu spielen. "Das ist schon der krasse Gegensatz zum eingeschweißten Catenaccio", analysiert Gosens. "Für uns war es immer wichtig, attraktiven Fußball zu spielen." In Gasperinis 3-5-2-System übernimmt Gosens die Rolle des offensiven Linksverteidigers, Atalanta presst früh und riskiert viel. "Dann kannst du ordentlich was reißen. Der Trainer hat uns das die ganze Saison eingetrichtert: 'Jungs, wenn ihr das durchzieht, was ihr im Training abruft, brauchen wir uns vor überhaupt keinem zu verstecken.'"

Gian Piero Gasperini

Weil er schönen Fußball spielen lässt: Atalantas Anhäger feiern Trainer Gian Piero Gasperini. imago images

Am letzten Spieltag der Saison 2018/19 macht Atalanta das "Wunder" perfekt und qualifiziert sich zum ersten Mal überhaupt für die Champions League. Gosens, "ein ganz normaler Bauer", kann sich immer noch nicht vorstellen, am Mittwoch in Zagreb das erste Mal in der Königsklasse "hoffentlich" auf dem Platz zu stehen "und diese Hymne" zu hören. Der Weg von der Niederrhein-Liga in die Champions League "ist immer noch unwirklich". Aber "affengeil".

In der "machbaren" Gruppe C trifft Atalanta auf Dinamo Zagreb und Schachtar Donezk. Und Manchester City. "Da", schmunzelt Gosens, "werden wir die Pille wahrscheinlich nicht ganz so oft sehen, aber gegen die Jungs mal zu kicken... ein Träumchen." Auch Donezk sei "kein Fallobst", zumal es am letzten Spieltag Mitte Dezember in die Ukraine geht. "Bei minus 44 Grad mit 'ner Radler-Hose und Handschuhen. Da freu' ich mich am meisten drauf."

In Bergamo kann "leider" gar nicht gespielt werden. Atalanta baut gerade in mehreren Phasen das Stadion um, es wäre für die Champions League ohnehin zu klein gewesen. Das erste Heimspiel in der Serie A mussten Gosens & Co. vor 7000 Zuschauern in Parma austragen, "das ist für uns und die Fans nicht schön und ergibt für alle keinen Sinn". Demnächst kann zumindest in der Liga wieder "zuhause" gespielt werden, für die Königsklasse geht es ins 60 Kilometer entfernte Mailänder San Siro. Weil die Ultras von Inter und Milan dagegen protestiert hatten, werden die traditionelle Nord- und Südkurve unbesetzt sein - bleibt immer noch Platz für 60.000 Tifosi. "Alle Fans, die kommen können, werden auch kommen", sagt Gosens, "aber 60.000 sind zu viel. Das wird nicht möglich sein."

Schalke wäre sportlich und familiär sinnvoll gewesen. Ich hatte und habe immer den Wunsch, in der Bundesliga zu spielen.

Gosens über den geplatzten Wechsel zum FC Schalke.

Atalantas Fans nennen ihren Klub bescheiden "La Dea", die Göttin. Gosens weiß nicht, wie deutsche Fans ticken, aber in Bergamo nennt er sie "verrückt", also die positive Version. "Nach einem Sieg am Wochenende wirst du auf der Straße umarmt und auf den Schultern getragen; nach einer Niederlage getröstet und in den Arm genommen."

Vielleicht muss er sie in diesem Jahr vertrösten. Gosens glaubt nicht, "dass jemand wieder Platz 3 oder 4 von uns erwartet. Diese Saison wird sehr viel schwieriger, das wissen wir alle." Der Kader der Vorsaison ist komplett zusammengeblieben, wurde an ein, zwei Stellen sogar verstärkt. "Das kommt uns dieses Jahr zugute, wir sind eine eingespielte Truppe." Aber es ist eben auch eine neue Saison, "und jetzt geht's wieder von vorne los".

Für Gosens geht es auch um Eigenwerbung. Im Sommer hatte der FC Schalke Kontakt aufgenommen, Gosens wäre trotz der Champions-League-Qualifikation mit Atalanta gerne gewechselt, "weil es eine spezielle Situation war". Er gibt offen zu, Schalke-Fan zu sein. Der gern gesagte Witz, Spieler XY habe schon als Kind in der Bettwäsche von Verein XY geschlafen, trifft bei Gosens und S04 zu. "Es wäre sportlich und familiär sinnvoll gewesen. Ich hatte und habe immer noch den Wunsch, in der Bundesliga zu spielen." Letztendlich konnten sich Schalke und Atalanta auf keine Ablöse einigen, jetzt winkt Gosens in Bergamo ein neuer Vertrag. "Der Klub will mich für meine gute Saison belohnen."

Robin Gosens

Robin Gosens nach seinem Tor am 1. Spieltag in Ferrara. imago images

Gleich am ersten Spieltag der laufenden Saison hatte Gosens beim 3:2 in Ferrara den Anschlusstreffer erzielt, zu einer Einladung für die Nationalmannschaft reichte das noch nicht. "Ich würde mich freuen, wenn er", also Joachim Löw, "sich mal das eine oder andere Spiel von mir genehmigt." Bislang war das noch nicht der Fall.

Jetzt hat Gosens die Champions-League-Bühne, um sich für den Bundestrainer und andere zu empfehlen. "Hand aufs Herz", sagt er, "solche Spiele sind nicht nur eine geile Erfahrung, sondern auch die Möglichkeit, sich auf der Weltbühne zu präsentieren. Ein größeres Schaufenster bekommst du nicht."

Dafür aber eine größere Wohnung. "Ich bin happy", sagt Gosens über das Leben in Italien. Er spricht inzwischen fließend Italienisch, lebt mit seiner Freundin zusammen und sagt selbst, er sei jetzt genauso drauf wie der Mann mit dem Internet vor zwei Jahren. Das "war lange, lange ein Thema", die Prüfung damals hat er letzten Endes bestanden, "auch wenn ich ganz schön schwitzen musste". Nebenbei studiert Gosens Psychologie in Deutschland, irgendwann möchte er zurückkehren. Ob der Fußball damit zu tun hat, weiß er noch nicht. "Es kann immer schnell gehen."

Außer beim Mann mit dem Internet.

Mario Krischel