Champions League

Ronaldos Irrtum: Ist Rangnicks Mission schon gescheitert?

Manchester Uniteds Aus und die Folgen

Ronaldos Irrtum: Ist Rangnicks Mission schon gescheitert?

Champions-League-Saison vorbei, Zukunft offen: Ralf Rangnick und Cristiano Ronaldo.

Champions-League-Saison vorbei, Zukunft offen: Ralf Rangnick und Cristiano Ronaldo. imago images (2)

Einige Stunden vor dem Rückspiel gegen Atletico kursierte in England die Meldung, Manchester United erwäge in der drängenden Stadionfrage inzwischen sogar den Abriss des Old Trafford. Was herzlos und unerhört klingt, hatte irgendwie auch etwas Tröstliches für die Fans: die Botschaft, dass ihr Klub zu akzeptieren beginnt, dass er abgehängt wurde.

Nach dem Champions-League-Aus gegen Atletico Madrid steht fest, was eh jeder wusste: Im Mai wird Englands Rekordmeister zum fünften Mal hintereinander eine Saison ohne Titel beenden. Die Baustelle United ist so groß, dass es sich verbietet, ans Richtfest auch nur zu denken. Offen ist, was das für den Bauleiter bedeutet.

"In Rückstand mit Ronaldo als Mittelstürmer - das kann niemals funktionieren!"

Bei der 0:1-Niederlage am Dienstagabend jedenfalls wirkte Ralf Rangnick am Ende so hilflos wie seine Mannschaft. Während er den bald 34-jährigen Juan Mata brachte, "von dem man weitgehend angenommen hatte, er habe seine Karriere 2018 beendet" ("Guardian"), wagte er es nicht, Cristiano Ronaldo auszuwechseln, der erstmals seit 2011 in der Champions League ohne Torschuss blieb (Rechtsverteidiger Diogo Dalot hatte vier). "In Rückstand mit Ronaldo als Mittelstürmer", sagte "Prime Video"-Experte Matthias Sammer, "das kann niemals funktionieren!"

Aber was hätte Rangnick tun sollen? Ihm steht ein Kader zur Verfügung, der aussieht, als hätte zwischenzeitlich Felix Magath sein Unwesen getrieben oder Turki Al-Sheikh. Seit 2014 jonglierten die United-Bosse mit van Gaal (irgendwas mit Ballbesitz), Mourinho (irgendwas mit Kompaktheit), Solskjaer (irgendwas mit Kontern) - und jetzt soll dieses Team plötzlich Rangnicks Gegenpressing im Crashkurs lernen?

Dass niemand weiß, wer im Sommer neuer Trainer wird, Lieblinge wie Marcus Rashford ihre Zukunft überdenken und Ronaldo, Pogba & Co. in dieser unruhigen Gemengelage doch bitte die Motivation aufbringen mögen, irgendwie noch Vierter zu werden (was eine Siegesserie voraussetzt), macht Rangnicks Interimstrainermission bei United jetzt fast unmöglich. Sein großer Premier-League-Traum droht trist zu enden.

Manchester ist nicht Hoffenheim oder Leipzig 

"Das Allererste, was dieser Verein tun muss, um auch nur in die Nähe einer erneuten Meisterschaft zu kommen, ist, einen richtigen Trainer zu finden", ätzte Klubikone Paul Scholes am Dienstag bei "BT Sport". Schon am Mittwoch nahmen die Gerüchte um Thomas Tuchel neue Fahrt auf.

Zwar bräuchte United nichts dringender als das, wofür Rangnick jahrelang stand: eine fixe Fußball-Identität und die Geduld, sie dann auch radikal durchzuziehen. So hat es Liverpool mit Jürgen Klopp und Manchester City mit Pep Guardiola gemacht, und so scheint es Arsenal gerade mit Mikel Arteta zu machen. Allerdings dürfte Rangnick längst begriffen haben, dass das in Hoffenheim oder Leipzig halt doch leichter und schneller geht als in Manchester, wo es auch so was wie eine Opposition gibt.

Vielleicht wird United tatsächlich erst dann von ihm zu profitieren beginnen, wenn er im Sommer in eine Beraterrolle wechselt - wobei fraglich ist, wie viel er dann wirklich zu sagen haben wird. Eine gemeinsame Sprache aller Abteilungen wird jedenfalls nötig sein: Liverpool holte im Winter Luis Diaz, der in Klopps System gleich durchstartete, United im Sommer Jadon Sancho, der bis heute nicht genau zu wissen scheint, was auf dem Platz von ihm erwartet wird. 

Niemand ist so gut darin, Gegner planlos aussehen zu lassen, wie Atletico

Wie eine gewachsene, fest verankerte Identität aussieht und was es bewirkt, wenn jeder weiß, was er zu tun hat, und nichts lieber zu tun scheint als genau das, demonstrierte am Dienstag Atletico. Und wenn es bedeutete, mit den sich aufwärmenden Ersatzspielern einen gegnerischen Einwurf zu stören oder die Kapitänsbinde an den Torwart weiterzugeben, weil das eine Einwechslung um weitere 45 Sekunden in die Länge zieht.

"In der ersten Halbzeit denkt man, die sind vielleicht gar nicht im Spiel. Aber die sind genau da, wo sie hinwollen", sagte Mario Gomez bei "Prime Video". "Das ist schon sehr, sehr faszinierend."

Bevor sie munter-naive Salzburger auseinandernahmen, war Atletico den Bayern zugelost worden. Ob sie am Dienstagabend mitfühlend vor dem Fernseher saßen und ein Dankesschreiben an Michael Heselschwerdt aufsetzten, der die Auslosung so herrlich vermasselt hatte?

Für Rangnick und United war die Simeone-Bande jedenfalls genau der falsche Kontrahent: weil er erstens in seinem klaren Vorgehen gnadenlos offenlegte, was United seit Jahren fehlt, und weil zweitens niemand sonst in Europa so gut darin ist, den Gegner ideen- und planlos aussehen zu lassen und den Trainer gleich mit. Kurz gesagt: Atletico ist das, was man nicht braucht, wenn man mitten in einer sensiblen Phase steckt und gerade erst dabei ist zu erkennen, wo man eigentlich steht.

"Es gibt keine Grenzen für ManUnited!", hatte Ronaldo am Samstag bei Instagram geschrieben. Was für eine Fehleinschätzung.

Jörn Petersen