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Ausgefuchst: Das Phänomen Leicester City

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Ausgefuchst: Das Phänomen Leicester City

Vor der Saison Topfavorit auf den Abstieg, jetzt erstmals Meister: Leicester City.

Vor der Saison Topfavorit auf den Abstieg, jetzt erstmals Meister: Leicester City. imago

132 Jahre alt musste der Leicester City Football Club werden, jetzt ist er erstmals englischer Meister. Eine 300.000-Einwohner-Stadt weiß nicht, wie ihr geschieht. War ihr Klub nicht im April 2015 noch Letzter? Es ist ein Wunder, klar, aber nicht nur. Das zeigt sich, wenn man es in seine Einzelteile zerlegt.

Der Trainer

Der Typ ist gerade nach einem 0:1 gegen die Färöer als griechischer Nationaltrainer entlassen worden, kann noch nicht mal richtig Englisch und soll jetzt eine Mannschaft übernehmen, die gerade so den Klassenerhalt geschafft hat? Als Claudio Ranieri vor der Saison in Leicester den unstrittig streitbaren Nigel Pearson beerbte, war es nicht schwer, Vorbehalte zu haben. Die Buchmacher machten ihn zum Topfavoriten auf die erste Entlassung, die Quote auf den Meistertitel lag bei 5000:1. Ein paar Monate später war es ziemlich genau umgekehrt.

Ranieri, 64, früher unter anderem Trainer bei Chelsea, Atletico, Juventus, Inter oder der Roma, begann seine Amtszeit mit einem schlauen Einfall: Er schaute erst einmal nur zu. Seinem Team, das sich mit einer Serie von sieben Siegen aus den letzten neun Spielen am finalen Spieltag gerettet hatte, "habe ich gesagt, dass ich ihnen vertraue und nur sehr wenig über Taktik sprechen werde". So schaffte er es, den Lauf, das Selbstvertrauen in die neue Saison zu übertragen, es half dabei, einen Teamgeist zu entwickeln. "Menschlich ist Ranieri einwandfrei", sagt Linksverteidiger Christian Fuchs, "und er hat Humor." Das brachte Lockerheit in den letzten Wochen, in der Ranieri lächelte, keinerlei Druck aufbaute. Er moderierte den Höhenflug grandios.

Für seine Spieler ist es leicht, ihn zu lieben, zum Beispiel dürfen sie essen und trinken, was sie wollen, solange sie nur laufen, laufen, laufen. Zur Not, das ist Ranieris Ansatz, bändigt er sie auch mit seiner langen Leine. Grund dafür gab es nicht: Sie nutzten seine herzliche, manchmal knuffige Art nicht aus, sondern belohnten sie dankbar mit Siegen, Siegen, Siegen.

Die Mannschaft

Wild zusammengewürfelte Mannschaften sind keine Rarität in der Premier League, die richtige Balance kann man halt nicht einfach kaufen. Leicester hat die richtige Mischung gefunden: aus Spielern, die schon vor zwei Jahren mit aufgestiegen sind, und Spielern, die den Kader im Sommer auch menschlich sinnvoll ergänzten; aus gehypten und geheimen Helden. Vardy (22 Tore) und Mahrez (17 Tore/11 Assists), der kühle Torjäger und der flinke Techniker, ragen heraus aus einer Mannschaft, die ohne Huth und Morgan in der Innenverteidigung, ohne Drinkwater und Kanté im Mittelfeldzentrum keine wäre. Hungrig sind sie alle.

Ngolo Kanté, hier gegen ManCity-Star Sergio Aguero

Ein Traum für jeden Trainer: Ngolo Kanté (r.), hier gegen ManCity-Star Sergio Aguero. imago

Kanté ist der zweifellos Wichtigste dieser "unsung heroes": Der 1,69 Meter kleine und 25 Jahre junge Franzose, den Ranieri erst gar nicht wollte, kam im Sommer für acht Millionen Euro aus Caen, seitdem liest sich seine Bilanz wie ein maßloser Wunschzettel eines jeden Trainers: die ligaweit mit Abstand meisten abgefangenen Bälle, die meisten initiierten Angriffe, eine hohe Pass- und Zweikampfquote. Kurzum: ein brillanter Box-to-box-Spieler.

Getragen wird das stabile Gerüst von einer beeindruckenden Fitness: Abgesehen von Vardy, der nach dem Jahreswechsel nach einer kleinen Leisten-OP kurz fehlte, sind die Schlüsselspieler verletzungsfrei geblieben. Zufall? Training? Schwer zu sagen. Sicher ist: Dass FA Cup und Ligapokal früh erledigt und der Europacup von Anfang an kein Thema war, hielt frisch, auch mental.

Die Spielweise

Dass Leicester Meister wurde, macht auch sie zu einem großen Gewinner: die 4-4-2-Formation. Ranieri zeigt, dass sie kein Risiko sein muss, sondern vielmehr der Schlüssel auch gegen die Großen. Nur zwei der bisher neun Duelle mit den Titel-Konkurrenten ging verloren. Ausgefüllt wird das System mit viel Tempo, frühem Attackieren, überfallartigen Kontern - und, das beklagte zum Beispiel Jürgen Klopp regelmäßig , der bedingungslosen Jagd nach den zweiten Bällen. Ranieri lässt in fester Anordnung variabel agieren.

Claudio Ranieri? Really? What an uninspired choice.

Gary Lineker im Sommer 2015 nach Leicesters Trainerwechsel

Gleichzeitig hat er die Spielweise schrittweise weiterentwickelt. Deutlichster Ertrag: Die Defensive, anfangs so anfällig, dass Ranieri für das erste Zu-Null-Spiel Pizza für alle versprach, hatte sich bald so weit stabilisiert, dass Leicester sogar Vardys Sechs-Spiele-Durstrecke narbenfrei überstand. Das Besondere: Leicesters Innenverteidiger verteidigen ausschließlich und ausschließlich im Zentrum, Morgan und Huth köpfen die Flanken im Zweifelsfall lieber raus als sie vorher zu unterbinden. "Man wird sie nie dribbeln oder einen öffnenden Pass spielen sehen", sagt Mahrez. "Ihr Job ist das Verteidigen, das ist alles. Und das lieben sie." Hätte Ranieri die Pizza-Tradition aufrechterhalten - seine Mannschaft würde kaum noch als eine der dünnsten der Liga gelten.

Die Transferpolitik

Shinji Okazaki

Lange beobachtet: Auch Shinji Okazaki steht für Leicesters kluge Transferpolitik. imago

Inler, Benalouane, Dyer - längst nicht mit allen Sommerneuzugängen lag Leicester richtig. Trotzdem widerstand der Klub eines thailändischen Konsortiums dem Drang, nach dem Fast-Abstieg den Kader umfassend zu erneuern, um ihn für 2016/17 und die Abermillionen aus dem neuen TV-Vertrag fit zu machen. Der schon im Januar 2015 ausgeliehene Huth, die lange beobachteten Kanté und Okazaki sowie der ablösefreie Fuchs waren sinnvolle Ergänzungen, die sich dann als Offenbarung offenbarten. Leicesters Scouting wird inzwischen so sehr bewundert, dass Arsenal Mitarbeiter Ben Wrigglesworth bereits abwarb. Der Mann, der einst zufällig Mahrez in der zweiten französischen und Vardy in der fünften englischen Liga entdeckte und als wahrer Kopf hinter den ungewöhnlichen Leicester-Transfers gilt, ist aber Steve Walsh, Ranieris Assistent und Chefeinkäufer.

So füllte Leicester im Sommer eine ligauntypische Eigenschaft mit Leben: Geld sinnvoll auszugeben. Arm ist der Klub natürlich nicht; dass Leicester mit Gehaltskosten von rund 80 Millionen Euro gehobenes Bundesliga-Niveau hätte, ist richtig. Falsch wäre es aber, damit Leicesters Saison irgendetwas Sensationelles abzusprechen. Innerhalb der Premier League beschäftigen die Füchse immer noch den zweitgünstigsten Kader.

Die Konkurrenz

Der Trainer, die Mannschaft, die Taktik, die Transfers - Leicester machte in dieser Saison so vieles richtig. Dass es die Liga lange beherrschte und dann so souverän gewann, lag aber auch daran, dass andere Mannschaften in dieser Saison so viel falsch machten. Der Absturz des FC Chelsea, der unausgeglichene Kader von Manchester United, die Defensivprobleme und Verletzungsflut von Manchester City und die mangelnde Coolness des FC Arsenal halfen Leicester, Tottenhams Mehrfach-Belastung blieb letztlich auch nicht ohne Folgen. Zwischenzeitlich war Leicester der Spitzenreiter mit den wenigsten Punkten seit 2003.

Das Fazit

Leicesters Aufstieg an die Premier-League-Spitze bleibt ein Wunder, purer Zufall ist er sicher nicht. Auch wenn dezente Dopinggerüchte und ein anrüchiger Finanzdeal leichte Schatten werfen: Einen Großteil der Schrauben, die in dieser Saison perfekt ineinandergriffen, hat der Klub durch kluge Entscheidungen selbst gebaut und clever gewartet. Nun ist die ausgefuchste Maschinerie offiziell ausgezeichnet worden. Erwartet hatte das niemand, nicht Mahrez, "Englands Spieler des Jahres" , nicht Walsh, der Chefscout, nicht Srivaddhanaprabha, der Klubbesitzer. Und Ranieri schon gar nicht. Viermal war er schon Zweiter, jetzt ist er Meister, mit Leicester.

Jörn Petersen

Meister Leicester? Was im Sommer alles wahrscheinlicher war