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WM 2022: Zehn Gründe fürs deutsche Scheitern in Katar

Falsche Einschätzungen, keine Effizienz und zu wenig Qualität

Zehn Gründe fürs deutsche Scheitern in Katar

Binde, Musiala, Flick: Die Gründe für das Scheitern in Katar waren vielfältig.

Binde, Musiala, Flick: Die Gründe für das Scheitern in Katar waren vielfältig. imago images (3)

Aus Katar berichten Matthias Dersch, Oliver Hartmann und Karlheinz Wild

Die Gruppenphase der Weltmeisterschaft in Katar ist noch gar nicht beendet, da hat die deutsche Mannschaft das Gastgeberland bereits wieder verlassen. Nach dem letztlich bedeutungslosen 4:2-Sieg über Costa Rica am Donnerstagabend machte sich der DFB-Tross am Freitagmittag auf den Heimweg nach Frankfurt.

Präsident Bernd Neuendorf kündigte noch am Flughafen in Doha für die kommenden Tage eine umfassende Analyse des deutschen Scheiterns ins Katar an. Der kicker nennt die zehn wichtigsten Gründe für das trostlose Auftreten und enttäuschende Abschneiden der Mannschaft von Bundestrainer Hansi Flick.

1. Die Effizienz

Mehr als 60 Mal schoss das deutsche Team in den drei Gruppenspielen gegen Japan, Spanien und Costa Rica auf das gegnerische Tor. Bei keinem Team lag der "Expected Goal"-Wert in der Gruppenphase höher. Daraus entsprangen jedoch nur sechs Tore - und diese vergleichsweise niedrige Quote sorgte für handfeste Probleme: Anstatt gegen Japan frühzeitig die 1:0-Führung auszubauen oder gegen Costa Rica bereits in der ersten Hälfte Druck auf den Fernduellanten Spanien aufzubauen, ließ die DFB-Elf ihre Kontrahenten am Leben - und wurde dafür in beiden Spielen bestraft. Auch gegen Spanien ließ man in der Schlussphase die Chance zum Siegtreffer ungenutzt.

2. Die Anfälligkeit

Die fehlende Effizienz im Abschluss fiel in Katar umso stärker ins Gewicht, da sich die Defensive erneut als extrem anfällig erwies: Fünf Gegentore in drei Partien sind viel zu viel für ein Team, das sich als Ziel mindestens das Halbfinale gesetzt hatte. Die Außenbahnen erwiesen sich als anfällig - obwohl Flick alles versuchte und gegen Costa Rica erstmals in seiner Amtszeit Joshua Kimmich als Rechtsverteidiger aufbot.

Doch weder er noch die Innenverteidigung um Abwehrchef Antonio Rüdiger sorgten für die nötige Stabilität. Dass Manuel Neuer - üblicherweise ein starker Rückhalt - speziell beim zweiten Gegentor gegen Costa Rica nicht gut aussah, passte ins schwache Bild, das die DFB-Abwehr in diesem Turnier abgab. Neu hingegen war dieser Trend nicht: In den vergangenen elf Turnierspielen kassierte Deutschland immer mindestens ein Gegentor und geriet im Laufe der Partien immer in Rückstand. Ein Manko, das Flick nicht abstellen konnte.

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3. Die Treue

Mit dem FC Bayern gewann Flick in der Saison 2020/21 sechs Titel - und das Gerüst dieser absoluten Siegermannschaft bestand aus deutschen Nationalspielern. Dass der Bundestrainer Spielern wie Neuer, Kimmich, Leon Goretzka oder Thomas Müller blind vertraut, ist per sé nichts Schlechtes. Doch Flick handelte deutlich zu treu, als er auch im dritten Gruppenspiel den bis dahin in der Offensive blassen Müller als "falschen Neuner" nicht durch den nach seinem Ausgleich gegen Spanien beflügelten echten Mittelstürmer Niclas Füllkrug ersetzte. Denn der vor dem Turnier wochenlang verletzte Müller war diesmal nicht in der Lage, das Vertrauen adäquat zurückzugeben.

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4. Die Kompromisse

Auf dem Papier liest es sich gut, wenn für das zentrale Mittelfeld drei erwiesene Fachkräfte wie Kimmich, Goretzka und Ilkay Gündogan zur Verfügung stehen. In der Realität aber schuf diese Konstellation Probleme: Gegen Spanien hatte es Sinn gemacht, alle drei aufzustellen, um gegen die passsichere Ballbesitzmannschaft das Zentrum zu verdichten. Gegen Costa Rica aber scheute sich Flick vor der schwierigen Entscheidung, Goretzka oder Gündogan auf die Bank zu setzen. Stattdessen verschob er Kimmich auf die ungeliebte Außenbahn - und korrigierte sich zur Pause wieder. Da jedoch war es bereits zu spät.

5. Die Führung

Eine Mannschaft lebt von ihrer Achse - und eigentlich stand sie zumindest in der Hintermannschaft beim DFB-Team auch: Neuer im Tor, davor Rüdiger als Abwehrchef, Kimmich als Organisator davor. Durch die zahlreichen Personalwechsel - Kimmich von der Sechs nach rechts, Gündogan auf die Acht, Zehn und Sechs, Musiala auf den Flügel und dann ins Zentrum - jedoch konnte sich die Achse nicht etablieren.

Überhaupt ließ es die Mannschaft an innerer Führung vermissen. So gelang es weder Kimmich noch Goretzka noch Müller das Team auf dem Platz mitzureißen. Einzig Rüdiger lebte das Feuer vor - spielte jedoch selbst nicht fehlerfrei.

6. Die Qualität

Das dritte schwache Turnierabschneiden in Serie nach der WM 2018 und der EM 2021 spricht eine deutliche Sprache: Die Qualität im deutschen Kader ist nicht mehr so hoch, wie sie bei der WM 2014 noch war. Es fehlt seit Jahren vor allem an Außenverteidigern und Mittelstürmern von internationalem Format. Ein Manko, das nicht allzu schnell zu beheben ist. Bezeichnend ist zudem, dass Jamal Musiala - das unbestritten größte Talent im DFB-Team - in England ausgebildet wurde und nicht in Deutschland.

7. Die Vorbereitung

Es blieb kaum Zeit im Vorfeld dieser WM, die ausnahmsweise im europäischen Winter - und damit mitten in der Bundesliga-Saison anstand. Umso gravierender war die Fehleinschätzung, sich ein Akklimatisierungscamp im Oman leisten zu können. Anstatt die wenigen Tage bis zum Turnierstart für ein gezieltes Training der Schwachstellen zu nutzen, wurde die Zeit regelrecht vertrödelt. Inklusive des Testspiels gegen den gastgebenden Oman (1:0), das fatalerweise nicht als Generalprobe genutzt wurde, sondern zur Belastungssteuerung für Rekonvaleszenten und Profis mit Trainingsrückstand.

8. Das Quartier

Das Zulal Wellness Resort im Norden Katars war ganz nach dem Geschmack von Bierhoff und Flick: Fern ab vom Schuss konnte man in der Einsamkeit der katarischen Wüste unbehelligt logieren. Einzig die Familien waren als Gäste erwünscht - und kamen nach den ersten beiden Gruppenspielen jeweils für gleich zwei Nächte. Die Unterbringung weit weg von Doha, dem Epizentrum dieser Weltmeisterschaft, führte nicht nur zu logistischen Schwierigkeiten bei den Pressekonferenzen an den Tagen vor dem zweiten und dritten Gruppenspiel. Sie sorgte augenscheinlich auch dafür, dass innerhalb der abgeschirmten Gruppe nicht dieser WM-Spirit entstehen konnte, der sich auf dem Platz in einem entschlossenen Wir-Gefühl entlädt.

9. Die Binde

Im September hatte der DFB gemeinsam mit sieben anderen europäischen Verbänden bekanntgegeben, in Katar mit einer "One Love"-Kapitänsbinde aufzulaufen. Doch anstatt sich die Binde im Vorfeld genehmigen zu lassen, rannte man sehenden Auges in Katar in die Falle: Die FIFA setzte kurz vor dem ersten Spiel der Engländer ein Exempel und verbot die Binde.

Die Verbände gaben angesichts diffuser Drohungen klein bei. Es folgte ein Aufschrei der Entrüstung in der Heimat, der die unmittelbare sportliche Vorbereitung überlagerte - und auch teamintern zu Verstimmungen führte. Unterm Strich war der Umgang mit der Binde ein miserables Management und sorgte für Unruhe und Spannungen innerhalb der Mannschaft.

10. Die Entfremdung

Bei der WM 2014 war das DFB-Team noch von einer Welle der Begeisterung zum Titel getragen worden. Je weiter die deutsche Mannschaft kam, desto mehr Menschen strömten auf die Fanmeilen, die quer durch die Republik zum Public Viewing einluden. Die bunten Bilder der jubelnden Massen liefen wiederum auf den Fernsehern im Campo Bahia - und sorgten dafür, dass Mannschaft und Fans eine Einheit bildeten.

Und dieses Jahr? Die generelle Abneigung gegen das Austragungsland Katar, die FIFA und auch die von den deutschen Fans inzwischen weitgehend entfremdete Nationalmannschaft äußerte sich in niedrigen TV-Quoten. Fanfeste waren angesichts der Jahreszeit und des geringen Fan-Interesses erst gar nicht angesetzt worden. Innerhalb des DFB-Teams führte das zu dem latenten Gefühl, dass ein Scheitern in der Heimat fast schon erwünscht sei. Eine Jetzt-erst-recht-Haltung aber entsprang daraus nicht.