WM

Er hatte Geist in den Beinen

WM-Helden: Matthias Sindelar, Österreich

Er hatte Geist in den Beinen

Unbestritten genial - und doch ein Rätsel: Matthias Sindelar.

Unbestritten genial - und doch ein Rätsel: Matthias Sindelar. picture-alliance

So sehr man noch heute über seine Charakterzüge, seine politische Gesinnung und vor allem seinen frühen Tod streitet, so einig ist man sich über seine fußballerischen Qualitäten. Sindelar bewegte sich fast körperlos, vermied direkte Zweikämpfe. Ihm ging es nicht vorrangig ums Toreschießen, er wollte einfach spielen - und das konnte er. In einer Sportart, die zu seiner Zeit zu einem Massenphänomen wurde, betraten die Zuschauer nicht zuletzt wegen dem österreichischen Superstar ein Stadion. Er stand für das reine Spektakel.

Zumindest war das in seinen besten Jahren der Fall, in denen er sowohl Austria Wien als auch das österreichische Wunderteam zu europäischen Berühmtheiten machte. Doch bis es so weit kommen konnte, hatte Sindelar nicht wenige Hürden zu nehmen. 1903 in einem Dorf im heutigen Tschechien geboren, wuchs er in armen Verhältnissen im Wiener Arbeiterviertel Favoriten auf. Sein Vater fiel im Ersten Weltkrieg, in jungen Jahren schon musste Sindelar seine Familie als Schlosserlehrling unterstützen. Und auch der Weg als Fußballer begann steinig - was seinen Legendenstatus im Nachhinein nur festigte: Mit seiner schmächtigen, introvertierten Art fasste er nur schwer Fuß in den Favoritner Jugendteams - später huldigte man dem "Papierenen". Nach einer Schwimmbad-Verletzung rettete eine riskante Meniskusoperation 1923 seine Karriere - sein Kniestrumpf gehörte fortan zum Bild des österreichischen Helden.

WM-Held Matthias Sindelar

Bei Austria Wien avancierte Sindelar schnell auch ohne die großen Titel zum besten Mann, ehe er zahlreiche lukrative Angebote aus ganz Europa bekam; in der Nationalelf machte er früh 14 Länderspiele, ehe ihn Verbandskapitän Hugo Meisl ab 1928 ob seiner egoistischen und ballverliebten Spielweise nicht mehr nominieren wollte. Doch er blieb sich treu, in jeder Hinsicht. Er wechselte bis zu seinem Lebensende nicht mehr den Verein und änderte an seinem Auftreten auf dem Platz gar nichts - die Austria holte zweimal den Champions-League-Vorläufer Mitropapokal (1933, 1936), die Nationalmannschaft wurde zum Wunderteam, das zwischen 1931 und 1933 Europa eroberte. Und Sindelar, auf Druck der Öffentlichkeit 1931 ins Nationaltrikot zurückgekehrt, ihr genialer Kopf.

Die Krönung bleibt aus, die WM kommt zu spät

1934 stand die WM in Italien an, die Erwartungen in Österreich waren riesig. Und für die Mannschaft, die unter schweren Voraussetzungen anreiste und kaum noch an das Wunderteam erinnerte, nicht zu erfüllen. Zahlreiche Spieler der glorreichen Elf waren ins Ausland gewechselt und damit für die WM nicht verfügbar, dazu kamen Verletzungspech, Nachholspiele in Österreich, die während des Turniers ausgetragen werden sollten, und nicht zuletzt, dass einige der Helden der vergangenen Jahre ihren Zenit überschritten hatten. Kurzum: Die WM kam zu spät.

Spielplan

Fast hätte schon der Auftakt gegen Frankreich, bisher Fallobst für das Wunderteam, das Aus bedeutet. Erst in der Verlängerung setzte sich Österreich mühsam mit 3:2 durch, Sindelar staubte zum 1:0 ab und bereitete das 3:1 vor. Beim folgenden 2:1 gegen Ungarn ließ die ersatzgeschwächte Mannschaft ein letztes Mal ihr Können aufblitzen - ehe im Halbfinale gegen Mussolinis Italien Endstation war. Auch Sindelar konnte das nicht ändern. Er, der seine Gegenspieler gerne mit seinen blitzschnellen Dribblings, veranstaltet um ihrer selbst willen, verhöhnte, wurde unfreiwillig Teil eines der lächerlichsten Spiele der WM-Geschichte.

Vom Wunderteam zum Plunderteam

Ein Schiedsrichter (Ivan Eklind), der am Tag zuvor noch Ehrengast bei Mussolini war, das entscheidende 1:0, als zwei Italiener Österreichs Keeper Platzer samt Ball über die Linie stießen, anerkannte, später selbst einen weiten Steilpass wegköpfte und Italiens Monti ungestraft Sindelar krankenhausreif treten ließ, ebnete den Gastgebern den Weg zum Titel. Und beendete den Traum Österreichs. Das Spiel um Platz 3 verlor das Rumpfteam ohne Sindelar und Sturmpartner Schall mit 2:3 gegen Deutschland. Heute kann man sagen: Letztlich hatten die Österreicher vor allem dank Spielmacher Sindelar unter schwersten Bedingungen das wohl Bestmögliche herausgeholt. Akzeptieren wollte das in der Heimat aber niemand. Schnell machte die enttäuschte Presse aus dem Wunderteam das "Plunderteam".

Das legendäre Wunderteam

Das Wunderteam vor einem Länderspiel 1932 mit Sindelar (oben, 4.v.r.). picture-alliance

Einen letzten großen Auftritt verschaffte Nationalheld Sindelar, inzwischen auch in Werbungen und im Kino zu sehen, das Nazi-Regime am 3. April 1938. Im sogenannten "Anschlussspiel" - Österreich wurde als "Ostmark" ins Deutsche Reich gezwungen, die Nationalmannschaft aufgelöst - verschossen, so wird berichtet, Sindelar und Kollegen wohl auf Anordnung zahlreiche Großchancen, ehe unter anderem der inzwischen 35-Jährige ein unerwünschtes 2:0 herausschoss - ausgelassen gefeiert vor der Haupttribüne. Fast zehn Monate später, am 23. Januar 1939, ist Sindelar tot. Aufgefunden auf seinem Bett neben seiner bewusstlosen Freundin, die wenig später, ohne noch einmal aufzuwachen, ebenfalls verstarb. Ein Rätsel, das bis heute nicht gelöst ist. Unfall, Suizid, Mord - es bleibt Spekulation. Es besteht noch nicht einmal Einigkeit darüber, ob die angeblich im Krieg verlorengegangenen Ermittlungsakten tatsächlich verschwunden sind.

Wer war Matthias Sindelar? Ein Rebell, der sich mit den Nazis anlegte? Ein Mitläufer, der einem Juden sein Kaffeehaus im Zuge der "Arisierung" abkaufte? Die Antwort gibt der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar: "Er hatte Geist in den Beinen, es fiel ihnen im Laufen eine Menge Überraschendes, Plötzliches ein und Sindelars Schuss aufs Tor traf wie eine glänzende Pointe, von der aus der meisterliche Aufbau der Geschichte, deren Krönung sie bildete, erst recht zu verstehen und zu würdigen war."