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Die Absage der Copa Libertadores: Eine Schande

Kommentar von kicker-Redakteur Jörg Wolfrum

Die Absage der Copa Libertadores: Eine Schande

Auf dem Heimweg: Nach der Absage verlassen die Fans das Stadion.

Auf dem Heimweg: Nach der Absage verlassen die Fans das Stadion. Getty Images

Immerhin, Tote gab es nicht. Noch nicht, muss man leider einschränken. Denn das kann sich alles ändern, stündlich, rund um dieses Final-Rückspiel in der Copa Libertadores zwischen River Plate und Boca Juniors in Buenos Aires, dieser Hauptstadt des Welt-Fußballs, wie sie in Argentinien oft genug sagen und zu manchen Zeiten damit vielleicht auch Recht hatten. Heute ist dieses Buenos Aires nur noch die Hauptstadt eines gescheiterten Staates. Das ist mit dem Verschieben dieses vermeintlichen Superfinales auf Sonntag, 21 Uhr MEZ klargeworden.

Ein Staat kann Leib und Leben von Fußballspielern nicht mehr sichern - ein Staat, der in wenigen Tagen den G-20-Gipfel ausrichten wird, Staatspräsident Mauricio Macri, von 1995 bis 2007 Präsident von Boca Juniors, erwartet Bundeskanzlerin Angela Merkel und all die anderen Staatschefs.

Boca Juniors - Vereinsdaten
Boca Juniors

Gründungsdatum

03.04.1905

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River Plate - Vereinsdaten
River Plate

Gründungsdatum

25.01.1901

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Doch dieses Argentinien ist nicht in der Lage ein - zugegebenermaßen stimmungsvoll extrem aufgeheiztes - Fußballspiel auszutragen. Zumindest nicht planmäßig. Am Samstagnachmittag Ortszeit war der Mannschaftsbus des Gästeteams Boca Juniors bei der Ankunft vor dem Final-Stadion Monumental von River-Hooligans angegriffen worden. Beworfen mit Flaschen, Steinen und allem, was Schaden anrichten kann. Scheiben zerborsten, mindestens zwei Spieler mussten kurzzeitig im Krankenhaus behandelt werden, Mittelfeldspieler Pablo Perez wurde am Auge verletzt. Zahlreiche Profis hatten Atembeschwerden, eine Folge von in den Bus eingedrungenem Tränengas.

Nur zur Einordnung: Ähnliches hätte man auch rund um die Bombonera von Boca Juniors erwarten können, wenn River Plate zum alles entscheidenden Rückspiel dort hätte antreten müssen - und nicht, wie vor zwei Wochen, zum Hinspiel.

Welche Rolle spielte Infantino?

Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, war am Samstagnachmittag in Buenos Aires lang unklar, ob nicht doch gespielt wird. Als hätte es all die Ausschreitungen nicht gegeben, von denen der Angriff auf den Bus der Boca-Mannschaft ja nur ein Teil war. Zunächst hieß es, das Spiel begänne mit einer Stunde Verspätung, dann mit zwei, dann nochmal mit 20 Minuten. Die Präsidenten der beiden Klubs, River-Chef Rodolfo D'Onofrio und Boca-Boss Daniel Angelici, berieten gemeinsam mit dem Konföderations-Präsidenten Alejandro Dominguez des südamerikanischen Verbandes Conmebol. Später kam Fifa-Boss Gianni Infantino dazu.

Aussagen zufolge soll sich vor allem der Weltverbands-Präsident für eine Austragung des Spiels starkgemacht haben. Verletzte Spieler hin, traumatische Situation her. Der Grund, kolportiert zumindest: die Fernsehrechte. Wenn dem so wäre, würde dies ins Bild der offenbar jeglichen moralischen Halt verlorenen Fifa passen. River-Präsident D'Onofrio sagte nach der Verschiebung, es wäre Infantino gewesen, der für eine Um-jeden-Preis-Austragung am Samstag votiert habe. Aber moralische Standhaftigkeit ist bei der Fifa und ihrem Boss zuletzt ohnehin selten ausgemacht worden.

Tumultartige Zuständen nach Verlegung

Letztlich wurde das Spiel aber auf Sonntagnachmittag Ortszeit 17 Uhr (21 Uhr MEZ) verschoben. Mit der Folge, dass beim Verlassen des Stadions Kartenbesitzer von Hooligans attackiert wurden, um an die Tickets zu kommen, die auch an diesem Sonntag Gültigkeit haben werden. Ähnlich wie vor dem Spiel kam es in den Straßen rund um das Stadien dadurch erneut zu tumultartigen Zuständen. Rechtsfreier Raum Buenos Aires. 65000 River-Fans (Anhänger von Boca waren aus Sicherheitsgründen nicht zugelassen), mussten zusehen, wie sie River-Hooligans auf der Jagd nach Tickets entkamen - von den überforderten Sicherheitskräften war wenig Unterstützung zu erwarten.

Keiner kann für Leib und Leben garantieren

Lachhaft, wenn es nicht so traurig wäre, naiv und geradezu verantwortungslos: Staatspräsident Macri hatte noch vor drei Wochen und damit eine vor dem 2:2 im Hinspiel in der Bombonera gefaselt, man möge doch - ausnahmsweise - Gästefans in den Stadien zulassen bei beiden Spielen. Also River-Fans in der Bombonera und, heute, Boca-Fans im Monumental. Um der Welt zu zeigen, dass Argentinien in der Lage sei, ein Fußballspiel in normalem Rahmen auszutragen. Der Hintergrund: Seit fünf Jahren sind Fans des Gästeteams aus den Stadien ausgeschlossen. Aus Sicherheitsgründen. Keiner, auch nicht der Staat, kann für Leib und Leben garantieren im Fußball-Bürgerkriegsland Argentinien.

Den Vorschlag Macris hatten dann die beiden Präsidenten der Klubs, Rivers D'Onofrio und Bocas Angelici, abgelehnt, auch die Stadtregierung, wissend um der Gegebenheiten. Gesunder Menschenverstand ging vor vermeintlicher Tourismuswerbung, die vermutlich ins Desaster geführt hätte.

Sollte am Sonntag gespielt werden, wird es einen Sieger geben, einen Gewinner der Copa Libertadores. Boca oder River. Der Verlierer aber ist das Land Argentinien, seine Fußballfans, die normalen Bürger, denen rund um das Stadion die Vorgärten zu Klump getreten werden. Es ist eine Schande. Nun ist das Spiel zwar verschoben, gespielt aber wird dennoch. Dabei sollte man besser absagen. Den Titel 2018 nicht vergeben. Als Mahnmal. Für kollektives Versagen.

kicker-Redakteur Jörg Wolfrum

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