Int. Fußball

Jürgen Klopp 2.0 vernichtet die Abwehr vom FC Liverpool nach der 1:4-Niederlage bei Tottenham Hotspur mit einem Satz

Warum sogar Liverpools Trainer die Probleme nicht mehr leugnet

Klopp 2.0 vernichtet seine Abwehr mit einem Satz

Kann aktuelle Situation nicht fassen: Liverpools Trainer Jürgen Klopp.

Kann aktuelle Situation nicht fassen: Liverpools Trainer Jürgen Klopp. imago

"Ich möchte keine Schlagzeilen produzieren", sagte Jürgen Klopp, doch da war es schon zu spät. Der Satz, der ihm nach Liverpools 1:4-Desaster bei Tottenham Hotspur am Sonntagabend herausgerutscht war, hatte sich da längst in Smartphones, Laptops und Notizblöcken verewigt.

Er lautete, bezogen auf das fast lächerliche erste Gegentor: "Wäre ich in dieser Situation auf dem Platz gewesen, wäre Harry (Kane, d.Red.) nicht an den Ball gekommen - das Tor wäre mit mir auf dem Platz nicht gefallen." Quelle: Ein 50-Jähriger, der es als Spieler nie in eine erste Liga geschafft hatte.

Es war die verbale Vernichtung einer Defensive, vor die sich Klopp normalerweise selbst in den bittersten Stunden stellt; eine Art Kritik 2.0: diesmal nicht an die Journalisten gerichtet, die, so sieht er das, nicht verstehen wollen, wie Abwehrfehler zustande kommen, sondern direkt an seine Spieler, die, so sieht er das jetzt, nicht verstehen wollen, wie das eigentlich geht mit dem Fußball.

Zuschauer Maradona dachte wohl: Was, so einfach ist das heute noch?

Nach dem 0:5 bei Manchester City hatte sich Klopp noch hinter der frühen Roten Karte gegen Sadio Mané versteckt, doch in Wembley, vor der neuen Premier-League-Rekordkulisse von 80.827 Zuschauern, gab es keinen Unterschlupf: Liverpool zeigte in 90 Minuten schonungslos, dass die Abwehr gegen Gegner, die wissen, was zu tun ist, aufgeschmissen ist - individuell wie kollektiv. Was Diego Maradona, der frühere Zimmerkollege von Tottenham-Trainer Mauricio Pochettino, auf der Tribüne dachte, blieb offen. Es war wohl so was Melancholisches wie: Wusste ja gar nicht, dass es heutzutage noch so einfach ist mit dem Toreschießen.

Das 0:1 (4.): Kieran Trippier chippt den Ball Richtung Strafraum, doch nur Kane reagiert darauf und trifft; Joel Matip, vor allem aber Dejan Lovren blicken dem Ball wie einem Luftballon verträumt hinterher. Klopps Urteil: "Es ist unglaublich leicht, das zu verteidigen, den Raum zu schließen, wir müssen nur den Ball klären!"

Bei Lovrens zweitem Patzer beginnt der "Guardian" zu dichten

Das 0:2 (12.): Spurs-Keeper Hugo Lloris fängt einen Freistoß ab, wirft den Ball Richtung Mittellinie, und Lovren... ja - was? "Er fühlt, wie die Musik anschwillt, wie der Chor zu summen beginnt, und nur für einen winzigen, fatalen Moment, scheint er wirklich zu glauben, er könne fliegen", dichtete der "Guardian". Nun, jedenfalls läuft und springt Lovren dem Ball entgegen, erwischt ihn aber nicht. Kane hat Platz und bedient Torschütze Heung-Min Son. Klopps Urteil: "Wir müssen das, was wir offensiv machen, besser schützen! Gegenpressing war da unmöglich."

Das 1:3 (45.+3): Matip köpft eine harmlose Freistoßflanke unbedrängt an die Strafraumgrenze zu Dele Alli, der volley vollstreckt. Klopps Urteil: "Noch ein Geschenk. Wir haben den Ball, verlieren ihn und erlauben ihnen einen Freistoß. Der geht ins Nirgendwo, aber wir machen den Kopfball, und keiner ist da für den zweiten Ball."

Das 1:4 (56.): Torwart Simon Mignolet, der immer gut ist für Licht und Schatten, segelt an einer Freistoßhereingabe vorbei, Kane staubt ab. Klopps Urteil: Nicht vorhanden, die Torwartdiskussion sollen andere weiterführen.

Diesmal reihte sich Klopp ein in die Kritikerschar - und zwar weit vorne

Schluss nach 32 Minuten: Dejan Lovren (r.).

Schluss nach 32 Minuten: Dejan Lovren (r.). imago

Seit Wochen werden Klopp, ob von Fans, Medien oder Experten, die defensiven Defizite seiner Elf vorgehalten. Das Bemerkenswerte am Sonntag: Diesmal reihte er sich erstmals ein in die Schar der Kritiker und zwar weit vorne, er konnte es nicht länger leugnen. Seine Geduld war am Ende, und man konnte es ihm nicht verdenken. "Es ist ja nicht so, dass Tottenham genial spielen musste", schimpfte er.

In der 32. Minute wechselte er Lovren, der bei Sons Lattenknaller ein drittes Mal neben sich gestanden hatte (17.), aus. Auch so etwas sieht man bei Klopp selten. Wie er die unvermeidliche Maßnahme hinterher erklärte ("Ich will nicht einzelne Spieler beschuldigen, Dejan war nicht schlechter als die anderen") war zwar in seiner schützenden Art schon wieder typisch, doch dieses Mal war es die Geste, die zählt: Klopp, der in seiner Coaching Zone ein paar bittere Lacher ausgestoßen hatte, wollte sich das Fehlerfestival nicht länger widerstandslos ansehen.

"Wir sind Neunter mit der schlechtesten Statistik seit 1964. Ich kann es nicht fassen."

Jürgen Klopp

16 Gegentore, mehr als 14 Premier-League-Konkurrenten, hat der Ex-Rekordmeister nach neun Ligaspielen kassiert - so schlecht war er letztmals vor Klopp, also vor Klopps Geburt: vor 53 Jahren. "Zwölf Gegentore allein in drei Spielen (3:3 in Watford, 0:5 bei ManCity, 1:4 bei Tottenham d.Red.) - das ist irre!", entfuhr es Klopp, und auch die Statistik wollte er „nicht leugnen“, nicht diesmal. "Wir können nicht über die Top Four sprechen. Wir sind Neunter mit der schlechtesten Statistik seit 1964. Ich kann es nicht fassen."

Was also läuft schief bei dieser Mannschaft, für die Klopp nun seit über zwei Jahren verantwortlich ist? Immer noch macht sie konstant viele individuelle Fehler, immer noch wirkt das Abwehrzentrum zeitweise verloren, weil im defensiven Mittelfeld - gegen Tottenham Emre Can und Jordan Henderson - Tempo und Aggressivität fehlen. Immer noch scheinen einige nicht zu wissen, was Klopp in der Rückwärtsbewegung von ihnen will. Und immer mehr Gegner scheinen zu verstehen, wie man all das ausnutzt.

Klopp weiß schon länger um die Nöte, doch am Ende tat er nichts

Es ist eine Frage der Balance, vor allem aber eine der Klasse - und beides wirft kein gutes Licht auf den Trainer, der in England gleichzeitig Teammanager ist mit dem letzten Wort bei Transfers. Klopp weiß um die Nöte; warum sonst bemühte er sich im Frühling und Sommer so sehr um Southamptons Innenverteidiger Virgil van Dijk und Leipzigs Sechser Naby Keita. Dass es ein Spitzenklub wie Liverpool aber dann fertigbrachte, keine einzige Alternative zu verpflichten, bleibt ein Mysterium mit fatalen Folgen. Mit mir im Büro, denkt sich da wohl mancher Fan, wäre das nicht passiert.

Jörn Petersen