Europa League

Die Renaissance von David Moyes und West Ham United

Was macht Frankfurts Gegner so gut?

"Der 'Moyesiah' kann nichts falsch machen": Die Renaissance von Moyes und West Ham United

David Moyes (li.) gewohnt nüchtern, seinen Spielern ist das Lachen aber seit Monaten nicht mehr vergangen.

David Moyes (li.) gewohnt nüchtern, seinen Spielern ist das Lachen aber seit Monaten nicht mehr vergangen. imago images

Manche Dinge sind beim zweiten Mal einfach besser. Das wusste schon der große Frank Sinatra - und David Moyes weiß es auch. Während es beim amerikanischen Sänger im Song "Second Time Around" noch eine Liebschaft war, die im zweiten Anlauf doch geschmeidiger lief, ist es für den nüchternen Schotten der Fußball. Der Fußball bei West Ham United, genauer gesagt. Dort, wo Moyes in seiner zweiten Amtszeit gerade eine Renaissance erlebt.

Um diese besondere Entwicklung zu verstehen, ist ein Blick in die Vergangenheit nötig. 2017 kreuzten sich erstmals die Wege von Moyes und West Ham. Auf der einen Seite ein Mann, der sich seit seiner enttäuschenden Zeit als Trainer von Manchester United nie wirklich vom immensen Imageschaden zu erholen und sportlich nicht wieder auf die Beine zu finden schien. Auf der anderen Seite ein Londoner Traditionsklub mit überhöhten Europapokal-Ansprüchen, der seit Jahren versuchte, aus dem Schatten der anderen Stadt-Vereine wie Chelsea, Arsenal oder Tottenham zu treten. Die nüchterne Realität sah jedoch allzu oft anders aus.

Der Schotte rettet - und darf nicht bleiben

Auch am 7. November 2017. An dem Tag, als Moyes mit einem Vertrag für die restliche Saison vorgestellt wurde, standen die Irons auf einem direkten Abstiegsplatz - weit weg von den hochgesteckten Zielen. Der damals 54-Jährige stabilisierte die Ost-Londoner, setzte auf einfachen, Abstiegskampf-adäquaten Fußball und sicherte am Ende der Saison den Klassenerhalt. Umso überraschender: Die Vereinsführung bot dem früheren erfolgreichen Everton-Trainer keinen neuen Vertrag an.

Europa-League-Halbfinale: West Ham gegen Eintracht Frankfurt

Denn: West Ham war wie so oft in der Vergangenheit auf das neue, glänzende, aufregendere Spielzeug fokussiert. Der frühere ManCity-Trainer Manuel Pellegrini wurde angeheuert und direkt mit einem Transferbudget von satten 150 Millionen Euro ausgestattet. Endlich sollte der Ausbildungsverein, seit 2016 im London Stadium ansässig, in die Top 6 brechen. Der immer wiederkehrende Spagat zwischen zu hoher Erwartung und bitterer Wirklichkeit wurde jedoch erneut zu groß. Die Mission scheiterte. Im Dezember 2019 fanden sich die Hammers auf Platz 17 wieder. Pellegrini wurde entlassen.

Moyes und West Ham: Die nächste Zweckehe?

Wer sollte es also richten? Die Entscheidung fiel - auch aufgrund mangelnder Möglichkeiten - auf Moyes, diesmal mit einem 18-monatigen Arbeitspapier ausgestattet. Eine Entscheidung, die vor allem auf Fanseiten heftig kritisiert wurde. In Zeiten von Gegenpressing, Schienenspielern und abkippender Sechs schien Moyes mit seinem minimalistischen Ansatz mittlerweile wie ein Relikt früherer Tage - was auch die ersten Ergebnisse scheinbar untermauerten.

Quasi über Nacht wurden die Karten aber neu gemischt. Mit dem Beginn der Corona-Pandemie im März 2020 stand der Fußball vor völlig neuen Herausforderungen. Inmitten von Re-Starts, dicht aneinander getakteten Nachholspielen und zahlreichen Spielerausfällen bot der Moyes'sche Fußball auf einmal neue Facetten. Auf einen Schlag war die risikoarme und damit kraftsparende Ideologie des nüchternen Schotten kein altmodisches Rudiment mehr. Es war ein Modell der Gegenwart.

Nach dem Re-Start in der Premier League zeigten sich die Hammers vor leeren Zuschauerrängen selbstbewusster, konsequent wurden überlebenswichtige Punkte gesammelt und die Klasse gehalten.

Es ist das, was ich tue. Ich gewinne.

David Moyes

"Es ist das, was ich tue. Ich gewinne", hatte Moyes noch bei seinem zweiten Amtsantritt gesagt - und realisierte sein Versprechen ab dem Sommer 2020. Der frühere Innenverteidiger mistete den aufgeblähten Kader, bestückt mit inkonstanten Wunschsspielern früherer Trainer, aus und setzte unter anderem auf zwei Spieler, sinnbildlich für Moyes-Fußball: Tomas Soucek und Vladimir Coufal. Beide kamen als recht unbekannte Spieler von Slavia Prag - und beide standen für stille Disziplin, Fleiß und simplen Fußball.

Die Geburt des "Moyesiah"

Vladimir Coufal (li.) und Tomas Soucek.

Vladimir Coufal (li.) und Tomas Soucek. imago images/Shutterstock

Mit einem 5-4-1-System brachte Moyes Ordnung in die vormalig teils chaotische Hammers-Defensive. Coufal beackerte die rechte defensive Außenbahn, Soucek bildete mit dem vielversprechenden Declan Rice die körperbetonte Mittelfeldzentrale. Durch unspektakulären Konterfußball und vor allem durch Standardtore schlichen sich die effizienten Ost-Londoner in der Saison 2020/21 in die obere Tabellenhälfte. Gegen die großen sechs Mannschaften der Liga war meist nichts zu holen, gegen Teams aus der unteren Tabellenregion gab sich die Moyes-Truppe dafür keine Blöße.

Das Ergebnis am Ende der Saison: Vereinsrekorde bei den Punkten (65) und gewonnenen Spielen (19) in der Liga und Platz sechs. Die ironische Geschichte war geschrieben: Ausgerechnet Moyes, der simple und als gescheitert abgeschriebene Trainer, führte das oft so überheblich wirkende West Ham, das jahrelang erfolglos auf große Namen und Image gesetzt hatte, in den Europapokal - und vor die Stadtrivalen Tottenham und Arsenal. Der Verein belohnte ihn mit einem neuen Dreijahresvertrag. Und auch der Dank der Fans ließ nicht lange auf sich warten: Der "Moyesiah" war geboren.

"Ich hatte schon sehr viel schlimmere Spitznamen", grinste der in Anlehnung an "Messiah", der englischen Übersetzung von Messias, getaufte Coach. "Also nehme ich diesen gerne an." Das Blatt hatte sich gewendet. Der oft verspottete Moyes hatte die Fans im Rücken - und wollte mehr.

"Ich glaube, ich habe immer noch was zu beweisen", meinte der inzwischen 58-Jährige gegenüber ESPN im April 2021 - und machte in der Saison 2021/22 damit weiter. Die früher so verunsichert wirkenden Hammers spielten auf einmal selbstbewusst auf. Das Kellerteam war plötzlich eine gefürchtete Spitzenmannschaft, der verstoßene Moyes gehörte wieder zu den Top-Trainer der Liga. Das häufig realitätsfremde West Ham hatte endlich eine Identität. Sogar das London Stadium, mit dem Fans und Spieler nach dem Umzug 2016 so gefremdelt hatten, wurde plötzlich zur Festung.

West Ham in Zahlen

Die Irons setzen weiter auf eine verhaltene Spielweise gegen den Ball. Sie sind aktuell das einzige Team in der oberen Tabellenhälfte der Liga, das im Schnitt weniger als 50 Prozent Ballbesitz pro Partie hat (48). Wenn die Kugel dann aber mal erobert wurde, geht es blitzschnell: Kein Team der Premier League erzielte mehr Kontertore als West Ham (sechs). Einzig die Übermächte Liverpool und Manchester City können außerdem die 13 Standardtore der Moyes-Mannschaft in dieser Saison überbieten.

Steht bei zahlreichen Top-Klubs auf dem Zettel: Declan Rice.

Steht bei zahlreichen Top-Klubs auf dem Zettel: Declan Rice. imago images/News Images

Für Gefahr sorgt dabei unter anderem der 1,92 Meter große Soucek. Der Tscheche bildet im 4-2-3-1 erneut die Schaltzentrale mit Rice. Ebenjener führt die Mannschaft oftmals als Kapitän auf den Platz. In der Liga fing kein Spieler mehr Bälle ab als der 23-jährige englische Nationalspieler. Gleichzeitig hat Rice schon 210 Pässe ins letzte Drittel gespielt - drittbester Wert in Englands höchster Spielklasse. Selbst Roy Keane meinte, Rice sei "viel weiter als ich in diesem Alter". Nicht weiter verwunderlich, dass Manchester United und Chelsea den Mittelfeldspieler, der auf der Sechs oder als Box-to-Box-Spieler glänzt, umgarnen. Mehrere Angebote zur Vertragsverlängerung schlug Rice bereits aus.

In der Offensive sorgen neben den technisch versierten Pablo Fornals, Said Benrahma und Manuel Lanzini der bullige Stürmer Michail Antonio für Gefahr - und vor allem Jarrod Bowen. Der fleißige und schnelle 25-Jährige, im Januar 2020 für gut 20 Millionen Euro vom Zweitligisten Hull verpflichtet, kommt in der aktuellen Premier-League-Saison bereits auf 19 Scorerpunkte und gilt als Kandidat für die englische Nationalmannschaft.

Der "Moyesiah" kann nichts falsch machen.

Joe Cole

"Alles was man braucht, um ein Gewinnerteam zu sein, hat David Moyes implementiert", erklärte der frühere Hammer Joe Cole bei "BT Sport". "Der 'Moyesiah' kann nichts falsch machen." Im April diesen Jahres findet sich dieses "Gewinnerteam" erneut im Rennen um die Top 6 wieder - vor allem aber im Halbfinale der Europa League, dem ersten im Europapokal seit 46 Jahren.

Mit Bodenständigkeit und Selbstbewusstsein zum Titel?

Auf dem Weg dorthin schalteten der Europapokalsieger der Pokalsieger 1965 unter anderem den FC Sevilla und Olympique Lyon aus. Ein "monumentaler" Meilenstein sei der Einzug ins Halbfinale für Hammers, meinte dazu Moyes, dessen einziger Titel als Trainer der Gewinn des Community Shield 2013 mit ManUnited ist. Und zeigte sich nach dem Halbfinaleinzug trotzdem gewohnt bodenständig und nüchtern: "Wir bekommen den Pokal heute nicht, deswegen kann ich hier jetzt nicht herumspringen und feiern."

In der Runde der letzten Vier in der Europa League wartet nun Eintracht Frankfurt. "Wir sind nicht der Favorit", lautet Moyes' Devise. "Aber ich will, dass die Spieler es glauben."

Das Selbstvertrauen eines lange verspotteten Trainers, dem es nach zahlreichen Karriereknicks eigentlich schon hätte abhandengekommen sein müssen - es spiegelt sich bereits seit Monaten auch in den Auftritten seiner Mannschaft wider. Und es zeigt: Manche Dinge sind beim zweiten Mal einfach besser.

Leonard Friedl

Wer wie oft im Halbfinale stand: Die Europa-League-Bilanz der Bundesliga im Vergleich